Wie wirken sich die Anschläge auf die Innen- und Sicherheitspolitik Frankreichs aus?
Claire Demesmay: Seit den Attentaten herrscht parteiübergreifend das Gefühl, dass sich das Land im Krieg befindet. Viele Kommentatoren vergleichen die Lage mit dem Algerienkrieg in den frühen 60er Jahren, als die Franzosen Anschläge erlebten und De Gaulle den Notstand ausrief. Ein anderer häufiger Vergleich gilt der Anschlagsserie der algerischen Terrorgruppe GIA, die 1995 Opfer in der Pariser Bevölkerung fand. Dementsprechend liegt der Fokus der Politik auf einer Erhöhung der Sicherheitsvorkehrungen, die auch eine Einschränkung gewisser Freiheiten bedeutet. Der Notstand, den Präsident François Hollande für zwölf Tage verhängte und per Gesetz auf drei Monate verlängern möchte, ermöglicht zum Beispiel Durchsuchungsaktionen rund um die Uhr, Hausarrest für Verdächtige oder die Schließung bestimmter Moscheen, die als Gefahr für die innere Sicherheit gesehen werden. Zensur wäre theoretisch möglich, wurde aber bis jetzt ausgeschlossen.
Im Gegensatz zur Reaktion auf die Anschläge von Januar zeigen sich erste Risse in der erklärten „nationalen Einheit“. Im konservativen Lager kritisiert man Hollandes Umgang mit Terrorismus als zu „lasch“ und fordert sehr viel härtere Maßnahmen. So verlangt Nicolas Sarkozy den Hausarrest für die 11 000 Menschen, die den französischen Behörden aufgrund von Radikalisierung bekannt sind. Zu diesem klaren Rechtsruck trägt der Erfolg des rechtsradikalen Front National bei, der seit Jahrzehnten Angst vor dem Islam schürt. Schon vor den Anschlägen wurde prognostiziert, dass FN-Parteichefin Marine Le Pen die Regionalwahlen am 6. und 13. Dezember gewinnen wird – an dieser Prognose ändert der Terror nichts, im Gegenteil. Die meisten Parteien haben den Wahlkampf zwar momentan ausgesetzt, doch angesichts der guten Aussichten des FN sind auch Politiker anderer Parteien versucht, die aktuelle Situation zu ihren Gunsten zu instrumentalisieren. Sollten sich Politiker bezüglich Sicherheitspolitik und Polemik weiter überbieten, würde dies dem bereits schwierigen gesellschaftlichen Zusammenleben schaden. Terroristen hätten ihre Wette zum Teil gewonnen, denn sie setzen auf die Polarisierung und Spaltung westlicher Gesellschaften.
Welche Auswirkungen haben die Attentate auf die europäische Flüchtlingspolitik?
Henning Riecke: Unter den Kritikern der deutschen Flüchtlingspolitik machen jetzt einige die Pariser Terroranschläge zu einem Teil ihrer Argumentation, und behaupten, man hole sich mit den Flüchtlingen eben auch Dschihadisten in unsere Gesellschaft – das ist aber manipulativ und gefährlich. Auch wenn entsprechende Befürchtungen nicht einfach abgetan werden können: Die meisten Menschen fliehen vor Gewalt, Zerstörung, Unterdrückung oder kompletter wirtschaftlicher Aussichtslosigkeit. Auch sind Flüchtlinge, die in Europa unfreundlich und respektlos aufgenommen werden, eher für die Werbung europäischer Salafisten und anderer Extremisten empfänglich. Das ist ein Argument für einen geregelten und respektvollen Umgang mit den Flüchtlingen. Gleichzeitig muss der Verfassungsschutz mehr gegen diese Rekrutierung unternehmen.
Sarah Hartmann: Ich stimme Henning Riecke zu und würde auch dringend davor warnen, diese Themen zu vermischen, wie es jetzt schon vielfach in populistischer Weise geschieht. Darüber hinaus ist es absurd, dass Terroristen den beschwerlichen und gefährlichen Weg über das Mittelmeer oder die Balkanroute auf sich nehmen müssten, um nach Europa zu gelangen. Schon bei früheren Anschlägen in Europa hat sich gezeigt, dass die Täter häufig europäische Staatsbürger und hier aufgewachsen sind. Wir dürfen uns auf keinen Fall auf die Logik der Attentäter einlassen, die genau auf eine Spaltung zwischen „den Muslimen“ einerseits und „dem Westen“ andererseits abzielt.
Gereon Schuch: Ja, es besteht die Gefahr, dass Populisten in der öffentlichen Diskussion die Ursachenanalyse der Pariser Anschläge mit der Flüchtlingskrise bewusst vermischen. Das sind aber zwei verschiedene Dinge. Ein großer Teil der gegenwärtig nach Europa kommenden Flüchtlinge sind Muslime, doch diese haben mit den islamistischen Terroristen nichts zu tun, in vielen Fällen sind sie ja gerade vor diesen geflohen. Die populistische Forderung von Grenzsicherungen und Aufnahmebeschränkungen als Reaktion auf die Pariser Anschläge suggeriert, internationaler Terrorismus lasse sich durch Grenzkontrollen und ein strengeres Asylrecht bekämpfen. Das ist gefährlich, da es dem Ziel der Terroristen in die Hände spielt, Angst in die Gesellschaft zu treiben.
Wie werden die Attentate von Paris in Ländern des Nahen Ostens wahrgenommen?
Sarah Hartmann: Die Länder des Nahen und Mittleren Ostens haben schon seit vielen Jahren mit dem Problem des Terrorismus zu kämpfen. Die Menschen dort kennen die alltägliche Angst vor Anschlägen nur zu gut, die für uns Europäer lange Zeit eher abstrakt und relativ weit entfernt war. Allein in der letzten Woche gab es unter anderem den Anschlag mit über 40 Toten in Beirut sowie zwei Attacken mit mindestens 26 Toten in Bagdad.
Die Nachricht von den Anschlägen in Paris wurde natürlich auch in den Ländern der MENA-Region mit großer Bestürzung und Trauer aufgenommen. In vielen Solidaritäts- und Trauerbekundungen wird aber explizit an die Toten aller Anschläge der vergangenen Tage und Wochen erinnert – also an die in Paris ebenso wie die in Beirut, Syrien, Irak, Palästina, Ägypten oder Jemen, verbunden mit der Frage, warum die vielen unschuldigen Opfer in diesen Ländern nicht eine ähnliche weltweite Reaktion auslösen. Dabei schwingt also oft die Kritik mit, die Toten würden im Westen mit zweierlei Maß gemessen.
Die Regierungen der MENA-Staaten wie auch viele islamische Gelehrte in aller Welt haben die Attentate von Paris scharf verurteilt. Dabei sehen sich der ägyptische Präsident Abdelfattah Al-Sisi und andere bestärkt in ihren Warnungen vor dem islamistischen Terrorismus und ihren Bemühungen, ihn zu bekämpfen und fordern dabei ein stärkeres Engagement des Westens und ein koordiniertes internationales Vorgehen. Europas Regierungen stehen nun also wieder einmal vor der schwierigen Frage, wie weit sie in der Kooperation mit Machthabern gehen wollen, die sie einerseits wegen ihrer Menschenrechtsverletzungen und ihres autoritären Herrschaftsstils kritisieren, auf die man aber andererseits im Kampf gegen den IS auch angewiesen ist.
Wie wirken sich die Anschläge auf die Anti-IS-Koalition aus – wird es in Syrien nun zu einer Kooperation mit Russland kommen?
Stefan Meister: Neben dem wachsenden Flüchtlingsproblem machen die Anschläge von Paris eine Lösung im Syrienkrieg noch dringlicher. Die internationalen Gespräche in Wien sind der erste ernsthafte Versuch, in Verhandlungen regionaler und internationaler Akteure und Staaten sowie durch die Diskussion einer Road-Map einen Übergang in Syrien zu schaffen und damit den Krieg zu beenden. Die russische Führung hat es geschafft, durch ihr militärisches Eingreifen aufseiten des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad zu einem Akteur in diesem Konflikt zu werden, der am Friedensprozess beteiligt werden muss. Sie hat mit ihren Bomben in Syrien die USA dazu gezwungen, mit ihr zu reden. Gleichzeitig ist das Hauptziel Moskaus nicht der IS, sondern die syrische Opposition und die Rettung Assads. Darin unterscheidet sich die russische Führung wenig von der Türkei oder den USA, keiner kämpft bisher ernsthaft genug gegen den IS, sondern verfolgt Partikularinteressen beziehungsweise möchte vor allem die eigenen Verluste so niedrig wie möglich halten. Moskau unterstützt Assad offen und versucht die Rolle Irans in den Verhandlungen zu stärken.
Die Anschläge von Paris relativieren das schlechte Verhältnis zwischen Russland und dem Westen im Kontext des Ukrainekonflikts und werden dazu führen, dass Brüssel und Washington auf Moskau zugehen werden und ein wachsendes Interesse an Kooperation haben. Dabei sollten jedoch keine Scheinlösungen gefunden werden – Assad ist Teil des Problems und nicht der Lösung, er hat mit seinen Bomben einen großen Teil der syrischen Opfer auf dem Gewissen; das Eingreifen Russlands in den Krieg hat zu mehr Opfern geführt und die Flüchtlingswelle nochmal ansteigen lassen. Trotzdem gibt es gemeinsame Interessen mit Moskau in Kampf gegen den Terrorismus, es sollte das Gespräch gesucht werden, wenn möglich auch kooperiert werden, nur nicht auf Kosten anderer Konflikte, insbesondere mit Blick auf die Ukraine.
Henning Riecke: Frankreich sieht sich jetzt im Krieg mit dem sogenannten Islamischen Staat. Das ist nachvollziehbar, auch das direkte Vorgehen in Syrien. Schließlich will der französische Präsident Handlungsfähigkeit beweisen. Mit Luftschlägen allein wird man den IS in Syrien als Bürgerkriegspartei schwächen – das ist schon mal gut. Will man aber die kämpfende Truppe selbst ausschalten, Territorium sichern, anderen Kräften im Bürgerkrieg die Gelegenheit geben, politische Ordnung wiederherzustellen, wird man vermutlich über den Einsatz von Bodentruppen nicht herumkommen. Vermutlich werden die USA und auch Frankreich versuchen, das zunächst mit einem relativ geringen Profil durch Spezialkräfte zu bewältigen. Präsident Hollande will die Mitgliedstaaten der Europäischen Union um militärischen Beistand ersuchen, und es gibt auch in den Verträgen der EU einen Beistandsartikel. Zu welchen Einsatzprofilen die EU bereit ist, und welche Unionsstaaten tatsächlich mitmachen, ist aber völlig offen.
Aber allein das ist meines Erachtens nicht genug, um den Kampf gegen den IS zu gewinnen. So ist die Terrorgruppe auch in anderen Konfliktgebieten aktiv und kann den Terror auch nach Europa tragen. Das wichtigste ist deshalb, dass man die Auseinandersetzung in ein größeres Paket von Maßnahmen einbettet. Es ist eben wichtig, einen politischen Prozess in Gang zu setzen, der für eine Neuordnung in Syrien sorgt. Dazu wird auch gehören, dass man diesen Prozess militärisch absichert. Ich rechne damit, dass in diesem Fall auch Anforderungen auf europäische Sicherheitsorganisationen zukommen.
Was hat es mit dem Argument auf sich, die Attentate seien die Folge westlicher militärischer Interventionen in Irak und Afghanistan?
Henning Riecke: Ich glaube, man verstellt den Blick auf die Wirklichkeit, wenn man auf dieses einfache Erklärungsmuster setzt. Extremismus kommt aus gewalthaltigen Gesellschaften, in denen Korruption, Ausbeutung, Unterdrückung, eine hoffnungslose Jugend und ethnische Konflikte für Gewaltpotenzial sorgen, vielleicht auch befördert durch Schwierigkeiten beim Umgang mit Globalisierung und Moderne. Ein solch komplexes Gemisch findet sich an vielen Stellen in der arabischen Welt – das dürfen auch gerade diese Staaten im Nahen und Mittleren Osten nicht vergessen, die scheinbar stabil sind, aber selbst noch mit diesen Problemen zu kämpfen haben. Aber es gibt eben Perspektivlosigkeit und Orientierungsverlust auch in den europäischen Gesellschaften. Die Interventionen in Afghanistan, Irak und Libyen haben auch für diese Bewegungen Bezugspunkte geschaffen und in den Kriegsgebieten den Extremismus wie beim IS zugelassen. Dafür sind aber eher die Fehler und falschen Kompromisse verantwortlich, die bei der politischen Stabilisierung der Konfliktgebiete gemacht worden sind, und nicht per se die Intervention.
Dr. Claire Demesmay ist Leiterin des Programms Frankreich/Deutsch-französische Beziehungen der DGAP.
Sarah Hartmann ist kommissarische Leiterin des Programms Naher Osten und Nordafrika der DGAP.
Dr. Stefan Meister ist Leiter des Programms Osteuropa, Russland und Zentralasien des Robert Bosch-Zentrum für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien der DGAP.
Dr. Henning Riecke ist Leiter des Programms USA/Transatlantische Beziehungen der DGAP.
Dr. Gereon Schuch ist Stellvertretender Direktor des Forschungsinstituts und Leiter des Robert Bosch-Zentrums für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien der DGAP.