Kollektive Identität und gesellschaftlicher Zusammenhalt als Top-Themen der Politik: In Frankreich haben die Anschläge auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ und einen jüdischen Supermarkt im Januar 2015 die Diskussion über diese Fragen neu entfacht. Zehn Jahre nach den gewalttätigen Unruhen in den Banlieues1 blickt die Öffentlichkeit wieder auf die französische Integrationspolitik, die Belastbarkeit des vielbeschworenen „republikanischen Modells“ und den Platz des Islam in Frankreich. Dabei greifen viele Politiker und Intellektuelle auf alte Konzepte aus dem republikanischen Baukasten zurück, wie beispielsweise die Laizität, d. h. die Trennung zwischen staatlichen und religiösen Angelegenheiten. Doch auch wenn viele der Antworten nicht neu sind, haben mit den Anschlägen ein kollektives Bewusstwerden und ein tiefgreifendes Nachdenken eingesetzt.
Seit dem „Marsch gegen den Terror“, an dem nach den Anschlägen Millionen von Bürgern teilnahmen, beteiligen sich Experten, Politiker und Vertreter der Zivilgesellschaft an einer ebenso lebendigen wie kontroversen Debatte. Dabei geht es unter anderem um die Gefahr der Radikalisierung junger Musliminnen und Muslime, um den Kampf gegen Diskriminierungen aller Art und um neue Formen gesellschaftlicher Partizipation. Der Ausgang dieser Debatte ist offen. Sie kann zu verstärkten Ablehnungsreaktionen führen, bietet aber auch die Chance einer ehrlicheren und zeitgemäßeren Definition des Zusammenlebens in Frankreich, indem sie „Unausgesprochenes freisetzt“.2 Diese Analyse untersucht die drei Grundsatzfragen, an welchen sich die Diskussion seit den Anschlägen orientiert: Was macht Frankreich aus und hat die Identität des Landes eine Zukunft? Welche Rolle kann und soll Religion in der französischen Gesellschaft spielen? Und braucht das Land neue Regeln für ein friedliches Zusammenleben?
Was macht Frankreich aus und hat die Identität des Landes eine Zukunft?
Die heftigen Diskussionen über das Zusammenleben seit den Terroranschlägen in Paris dürfen nicht vergessen lassen, dass sich die französische Gesellschaft schon seit Jahren mit der Frage nach ihrer nationalen Identität beschäftigt. Dass Frankreich in einer Identitätskrise steckt, ist nicht neu. Spätestens als Mitte der 1980er-Jahre die ersten Abgeordneten des rechtsradikalen Front National (FN) ins Parlament einzogen, wurde deutlich, dass sich weite Teile der Gesellschaft durch das Thema Zuwanderung bedroht fühlten: Nach dem Anwerbestopp der 1970er-Jahre hatte der anschließende Familiennachzug Verunsicherung ausgelöst; diese Ängste aus der Bevölkerung konnte der FN für sich nutzen. Als Reaktion darauf sahen sich auch die Volksparteien gezwungen, Fragen der kollektiven Identität zu thematisieren, wobei der Fokus in den ersten Jahren auf der Reform des Bürgerrechtsgesetzes (code de la nationalité) lag. Seitdem gründet der Front National seinen Erfolg auf die französische Identitätskrise.
Zwanzig Jahre später spielten Identitätsfragen nach wie vor eine zentrale Rolle in der französischen Politik, wie der Wahlkampf für die Präsidentschaftswahl 2007 zeigte. Damals fand eine heftige Diskussion über den Islam und Halal-Fleisch in Schulkantinen statt, und das Wahlversprechen des konservativen Kandidaten Nicolas Sarkozy, ein Ministerium für nationale Identität zu gründen, erregte die Geister – ein Versprechen, das nach seiner Wahl in Form eines Ministeriums für Zuwanderung, Integration und nationale Identität umgesetzt wurde. Die oft krampfhafte Suche nach den Besonderheiten Frankreichs spiegelt ein Gefühl der Orientierungslosigkeit von Menschen wider, die im Laufe der europäischen Integration ihre traditionellen Anhaltspunkte (nationale Grenzen und Währung, die Rolle des Zentralstaates, die Bedeutung der Sprache) verloren haben. Über den europäischen Rahmen hinaus ist diese Suche Ausdruck von Verunsicherungen, die mit der Globalisierung und der Angst vor einer homogenen Welt, in der Frankreich keine besondere Stellung mehr hat, verbunden sind.
Eine Publikation des FN-nahen Schriftstellers Renaud Camus3 brachte im Jahr 2013 diese Ängste in zugespitzter Weise auf den Punkt und prägt seitdem den Diskurs über nationale Identität. Hinter dem Begriff des „grand remplacement“ (dt. das große Auswechseln) steht die Behauptung, dass die französische Bevölkerung mehr und mehr durch Maghrebiner und Afrikaner ersetzt würde und dass dieser Prozess letztendlich zum Aussterben ihrer europäischen Komponente führen würde. Für Camus ist dieses organisierte „Auswechseln“ nur möglich, weil die Globalisierung alle nationalen, kulturellen und ethnischen Merkmale auslöscht und somit die Menschen austauschbar macht. Diese These ist höchst umstritten. Sie wird auch nicht von allen Politikern des Front National geteilt: So hat die Parteivorsitzende Marine Le Pen sich davon distanziert, indem sie den organisierten Charakter des beschriebenen Prozesses leugnet. Nichtsdestotrotz erfährt Camus’ Kernthese des „Auswechselns“ große Zustimmung in Teilen der Gesellschaft und der Politik, auch über den rechtsradikalen Kreis hinaus, etwa innerhalb der konservativen Partei. Bei diesem Bedrohungsgefühl wird gern übersehen, dass es nie eine feste Identität Frankreichs gegeben hat, sondern dass sie sich im Laufe der Zeit und unter anderem durch unterschiedliche Zuwanderungsphasen immer wieder verändert hat.
In dieser Form bleibt Camus’ Argumentation stark minderheitlich, doch bildet sie zugleich die sichtbare Spitze des Eisberges. In der öffentlichen Diskussion lässt sich eine Reihe von diffusen Ängsten beobachten, die tief in der Gesellschaft verankert sind und die der Front National seit Jahren systematisch und erfolgreich aufgreift. Bis jetzt sind die anderen Parteien in der Behandlung dieser Themen zurückhaltend geblieben. Außerdem haben sie den zum Tabu gewordenen Begriff der „Nation“ dem FN überlassen und ihn durch den der „Republik“ ersetzt. Über das Wort der „République“ herrscht zwar Konsens, was Nicolas Sarkozy im Frühjahr 2015 dazu brachte, die alte UMP-Partei in „Les Républicains“ (dt. Die Republikaner) umzubenennen; doch gleichzeitig steht der Begriff inzwischen für alles und nichts.4
Laurent Bouvet erklärt den Erfolg des FN dadurch, dass er die einzige Partei sei, die sich traue, überhaupt Fragen der nationalen Identität zu thematisieren.5 Für den Politikwissenschaftler tragen neben sozialen und wirtschaftlichen Probleme auch und vor allem Verunsicherungen identitärer Natur zur Malaise der französischen Gesellschaft bei. Unter der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys gab es zwar einige Versuche der Aufarbeitung in diese Richtung, zum Beispiel, als der Minister für Zuwanderung, Integration und nationale Identität ein „grand débat“ (dt. eine große öffentliche Debatte) über die nationale Identität initiierte. Aber der populistische Ansatz, der auch darauf abzielte, Wähler des FN für das konservative Lager zurückzugewinnen, war so offensichtlich, dass er nicht als Beitrag zu einer sachlichen Diskussion dienen konnte, sondern vielmehr für weitere Spannungen sorgte.
Die Anschläge vom Januar 2015 haben zu einem neuen Bewusstsein geführt: Seitdem verlangen Akteure der Zivilgesellschaft und Intellektuelle nach mehr Ehrlichkeit in der Diskussion über das Zusammenleben. Auch die Demonstrationen vom 10. und 11. Januar 2015, an welchen geschätzte vier Millionen Menschen in ganz Frankreich teilnahmen, sind Zeichen eines kollektiven Bedürfnisses nach Zusammenschluss. Ebenso zentral ist das Bedürfnis danach, den Stolz, der französischen Nation anzugehören, mit anderen Mitbürgern zu teilen. Insofern ist der „republikanische Marsch“ ein Symbol für ein neues Bewusstsein der nationalen Zugehörigkeit geworden – ein Bewusstsein, das übrigens nicht alle teilen, wie die Anti-Charlie-Bewegung („Je ne suis pas Charlie“)6 gezeigt hat.
Was zu nationaler Identität gehört, ist nicht immer klar definiert. In einer Umfrage aus dem Jahr 2009 nannten die meisten Befragten die französische Sprache, die Republik und die Trikolore als sehr wichtige Elemente der nationalen Identität Frankreichs (jeweils 80, 64 und 63 Prozent der Befragten).7 Religion wurde in der Studie nicht erwähnt.
Welche Rolle kann und soll Religion in der französischen Gesellschaft spielen?
Generell spielt Religion als Identifikationspunkt in der Debatte keine übergeordnete Rolle. Zwar bezog sich beispielsweise ein Teil der Demonstranten gegen die gleichgeschlechtliche Ehe im Jahr 2013 auf christliche Werte, um sich dem Gesetzesentwurf zu widersetzen; dennoch waren aufseiten dieser „Manif pour tous“8 auch und sogar überwiegend Argumente nicht-religiöser Natur vertreten. Anders als in manchen europäischen Ländern versteht sich Frankreich nicht als christliches Land und führt auch keine Debatte über seine „christlichen Wurzeln“.
In öffentlichen Schulen ist Religion kein Fach, im Gegensatz zu Philosophie, die in allen Gymnasien als Pflichtfach unterrichtet wird. Religionswissenschaftliches wird nur – und dies erst seit 2005 – im Rahmen von Geschichts-, Literatur- und Kunstkursen am Rande erwähnt. Übrigens könnte sich diese Situation ändern: Auch wenn die grüne Senatorin Esther Benbassa und ihr konservativer Kollege Jean-René Lecerf großen Widerstand erfuhren, als sie 2014 die Einführung der Religionslehre in den Lehrplan empfahlen, haben seit den Anschlägen Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik diese Forderung wieder für sich entdeckt.
Jahrzehntelang war man davon ausgegangen, Religion hätte in der französischen Gesellschaft keine Zukunft. Insofern haben viele die wachsende Präsenz des Islam in der Öffentlichkeit in den letzten zwanzig Jahren als „brutale Herausforderung und destabilisierenden Schock“9 erlebt. Und dies umso mehr, als nie thematisiert wurde, dass Frankreich von christlichen Werten geprägt ist. Durch die Anschläge ist Religion überhaupt sichtbarer geworden. Der Trubel um das jüngste Buch von Emmanuel Todd, der die Franzosen mahnt, „Religion ernst zu nehmen“,10 zeigt, wie viel Unausgesprochenes die traditionelle Selbstwahrnehmung der französischen Gesellschaft verbirgt.
Doch bislang wird in der öffentlichen Diskussion über Identität und Zusammenleben vielmehr auf das laizistische Prinzip hingewiesen – in der erwähnten Umfrage steht es mit 61 Prozent an vierter Stelle der genannten Elemente.11 In einer Befragung, die im Januar 2015 kurz nach den Anschlägen durchgeführt wurde, wurde die Laizität als das wichtigste aller republikanischen Prinzipien eingestuft – noch vor dem allgemeinen Wahlrecht und weit vor dem Vereinsrecht.12 So ist es kein Zufall, dass eine der ersten Maßnahmen des Bildungsministeriums nach den Anschlägen darin bestand, Lehrerinnen und Lehrer in Bezug auf Fragen der Laizität und der politischen Bildung auszubilden, damit sie diese Werte in den Schulklassen weitervermitteln können.
Hinter diesem scheinbaren Konsens verstehen verschiedene Gruppen Laizität stark unterschiedlich, wie diese jüngste Befragung ebenfalls zeigt.
- Eine erste liberale Interpretation, die noch mehrheitlich, aber mit fallender Tendenz und eher im linken Lager zu finden ist, verweist auf die Freiheit aller Bürger, ihre Religion auszuüben (51 Prozent) – oder eben keiner Religion anzugehören. Sie steht in engem Zusammenhang mit der Forderung nach Toleranz und Redefreiheit, die auch ermöglicht, in der Öffentlichkeit Religion kritisieren zu dürfen; die atheistische Redaktion von „Charlie Hebdo“ besteht typischerweise aus Vertretern dieser Tradition.
- Eine restriktivere Interpretation hingegen, die bei konservativen und stärker noch bei rechtsradikalen Wählern mehr Zustimmung findet, versteht dieses Prinzip als Verbot, in der Öffentlichkeit die eigene religiöse Zugehörigkeit zum Ausdruck zu bringen (25 Prozent). Dieser Einstellung zufolge sollten alle Religionszeichen in der öffentlichen Sphäre verboten werden, wie es im Falle des Kopftuchs für Lehrerinnen und Schülerinnen bereits der Fall ist. In dieser Gruppe kann das Plädoyer für die Laizität auch Ausdruck von Islamophobie sein.
- Eine dritte Position, die seit den Anschlägen mehr Zuspruch erhält und parteiübergreifend vertreten ist, ist die Ablehnung jeder Form von Kommunitarismus, also einer Bildung separierter Gemeinschaften nach bestimmten, insbesondere kulturellen Kriterien (14 Prozent). Sie spiegelt die Angst vor einer Zersplitterung der Gesellschaft und vor einer Gefährdung der nationalen Einheit wider. In Frankreich, das sich gern als „unteilbare Republik“ präsentiert, werden identitäre Fragen wie Religionszugehörigkeit, Herkunft oder sexuelle Orientierung über das Dasein als Staatsbürger hinaus als Privatangelegenheiten angesehen. Weil sie mutmaßlich zur Bildung separierter Gemeinschaften führen, werden kulturelle und religiöse Unterschiede oft als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt betrachtet. Diese Bedenken werden im öffentlichen Diskurs immer präsenter.
In diesem Kontext ist der Platz des Islam in der Republik ein viel diskutiertes Thema – und dies nicht erst seit den Anschlägen. In einer 2013 durchgeführten Umfrage gaben 63 Prozent der Befragten an, die Werte des Islams seien unvereinbar mit denen der französischen Gesellschaft.13 Diese Meinung war überrepräsentiert unter Anhängern des FN (91 Prozent) und der konservativen UMP (84 Prozent), aber auch nicht wenige Sozialisten (49 Prozent) und Grüne (39 Prozent) zeigten sich islamkritisch. Interessanterweise haben die Attentate vom Januar diese Einstellung nicht verstärkt, im Gegenteil: Ende Januar waren „nur noch“ 51 Prozent der Befragten dieser Meinung. Ein Grund könnte die klare Verurteilung der Gewalttaten durch prominente Islamvertreter sein. Sollte allerdings diese prinzipielle Bewertung des Islam weiterhin bestehen, birgt sie die Gefahr einer pauschalen Stigmatisierung aller Muslime und könnte zu einer gewissen Abschottung von bisher integrierten muslimischen Bürgern führen.
Über die Frage der Werte und ihrer Vereinbarkeit mit dem „republikanischen Modell“ hinaus diskutiert man in Frankreich auch die Gefahr der Radikalisierung junger Muslime intensiv – nicht nur in Reaktion auf die Anschläge, sondern etwa auch auf den Syrien-Konflikt. Um Radikalisierung vorzubeugen, sollen die Bedingungen für einen „islam de France“ (dt. einen französischen Islam) geschaffen werden – darüber herrscht Konsens. Eine Dialoginstanz zwischen dem Staat und Vertretern des Islam in Frankreich wurde bereits 2003 gegründet.14 Bei der Forderung nach einem französischen Islam geht es vielmehr um Maßnahmen wie die Ausbildung von Imamen wie auch die von Mullahs für die Gefängnis- und Militärseelsorge, die dem Wunsch der Regierung nach in Frankreich stattfinden und Module zu Laizität und französischem Recht beinhalten soll, sowie um die Finanzierung der Moscheen.
Des Weiteren hat sich ein Untersuchungsausschuss der Assemblée nationale mit dem dschihadistischen Terrorismus befasst. Im Bericht, der Anfang Juni vorgestellt wurde, monieren die Abgeordneten bedeutende Mängel im Kampf gegen die terroristische Bedrohung und formulieren zehn Empfehlungen an die Regierung: Sie plädieren dafür, Verwaltungs- und Justizstrukturen dringend zu verstärken, um beispielsweise die Radikalisierung in Gefängnissen besser zu bekämpfen. Angesichts des Gefühls der Dringlichkeit, das diesbezüglich in der politischen Klasse herrscht, wurden diese Empfehlungen parteiübergreifend befürwortet. Ende Juni wurde ein Gesetz verabschiedet, das den Geheimdiensten den Zugang zu Kommunikationsdaten deutlich erleichtert.
Braucht Frankreich neue Regeln für ein friedliches Zusammenleben?
Frankreich blickt auf eine lange Zuwanderungsgeschichte zurück, die bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anfing. Dass es ein Einwanderungsland ist, stand insofern nie zur Debatte – im Gegensatz zu Deutschland –, lediglich die Frage nach der Gestaltung der Zuwanderungs- und vor allem der Integrationspolitik. Von Frankreichs 65 Millionen Einwohnern sind 3,9 Millionen Ausländer, vor allem aus Afrika und anderen EU-Ländern (jeweils ca. 40 Prozent), und 2,3 Millionen Franzosen, die eingebürgert oder im Ausland geboren wurden.15 Zudem ist religiöse Vielfalt in Frankreich besonders ausgeprägt: In keinem anderen Land Europas leben so viele Bürger muslimischer (6 Millionen, wovon ein Drittel religiös ist), aber auch jüdischer Konfession (600 000).
Aktuell bringt dies gewisse Spannungen mit sich: Laut einem Bericht des Menschenrechtskommissars des Europarates hat sich die Anzahl antisemitischer Delikte in Frankreich im ersten Halbjahr 2014 beinahe verdoppelt. In der gleichen Zeit haben antimuslimische Vergehen, von denen sich 80 Prozent gegen Frauen richteten, sowie homophobe Taten zugenommen. Nicht nur der Menschenrechtskommissar zeigt sich besorgt über den starken Zuwachs „antisemitischer, antimuslimischer und homophober Taten“ in den letzten Jahren.16 Auch die französische Exekutive ist sich des Problems bewusst. So hat Präsident François Hollande Anfang 2015 die Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus zum „großen nationalen Anliegen“ erklärt. In der Folge kündigte Premierminister Manuel Valls Mitte April 40 Maßnahmen an, unter anderem eine Kommunikationskampagne, die Schaffung eines Stabes der Kriminalpolizei, der Hassparolen im Internet verfolgen soll, sowie schnellere und strengere Sanktionen bei rassistischen und antisemitischen Delikten.
In den letzten zehn Jahren ist Antisemitismus in Frankreich präsenter geworden. Die Zahl der französischen Juden, die nach Israel auswandern, weil sie sich in Frankreich unsicher fühlen, hat stark zugenommen: Im Jahr 2014 waren es 7 000 Bürger, fast dreimal so viele wie im Jahr 2004. Die Presse berichtet inzwischen von Jugendlichen aus bürgerlichen Milieus in französischen Großstädten, die aus Angst, von ihren Schulkameraden ausgeschlossen oder sogar angegriffen zu werden, ihre jüdische Identität verbergen.17 Die französische Bevölkerung scheint zwar nicht antisemitischer eingestellt zu sein als in den vorigen Jahren, im Gegenteil; doch gibt es in der Gesellschaft „antisemitische Nester“, wie es der Politikwissenschaftler Dominique Reynié beschreibt.18 Parteipolitisch findet man sie in erster Linie unter den Wählern des Front National, die in diesem Punkt durch einen viel radikaleren Diskurs als ihre Vorsitzende Le Pen auffallen. Aber auch Anhänger und Wähler des linksradikalen Front de Gauche sind deutlich offener für solche Parolen als die Mehrheit der französischen Bevölkerung.19
Außerdem hat sich der Antisemitismus in manchen Vierteln, insbesondere in Banlieues, in denen überdurchschnittlich viele Muslime leben, stark entwickelt.20 Laut Reyniés Studie sind die Vorurteile gegenüber Juden unter den befragten Muslimen zwei- bis dreimal mehr vertreten als im landesweiten Durchschnitt; je religiöser sie sind, desto ausgeprägter sind diese Vorurteile.21 Seit der Zweiten Intifada trägt der Nahostkonflikt zu dieser Entwicklung bei: Er findet in Frankreich eine Projektionsfläche, auf welcher der Streit weitergeführt wird. Im Sommer 2014 fanden im Zuge der Militäraktion Israels im Gazastreifen mehr als 400 pro-palästinensische Demonstrationen statt; antijüdische Sprüche waren zu hören und Gewalttaten mit antisemitischem Hintergrund wurden verübt.
Nicht nur Antisemitismus, auch Diskriminierungen gefährden das Zusammenleben. Ein großer Teil der Ausländer und der Bürger mit Migrationshintergrund beklagt sich über Diskriminierung im Alltag, sei es auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche oder im Umgang mit Polizei- und Justizbehörden. Studien, die das „Testing-Verfahren“ anwenden, bestätigen dies: Sie verweisen regelmäßig auf eine verdeckte Benachteiligung von Bewerberinnen und Bewerbern, die einen ausländisch klingenden Namen tragen oder aus einem sozial schwachen Viertel stammen.22 Diskriminierungen erschweren unter anderem die wirtschaftliche Integration von Einwohnern der sozial schwachen Vororte. Im Jahr 2012 erreichte die Arbeitslosenquote von Jugendlichen unter 25 Jahren, die aus afrikanischen Familien (auch aus dem Maghreb) stammen, 42 Prozent – 20 Prozentpunkte mehr als für Jugendliche aus französischen und anderen europäischen Familien. Dementsprechend lebten 2011 44 Prozent der Einwanderer aus Afrika unter der Armutsgrenze (gegenüber 24,8 Prozent der Einwanderer aus Europa).23
Diskriminierungen und Islamophobie führen auch zu Selbstausgrenzung und dem Rückzug in traditionelle Identitätskreise, die eine Ghettoisierung fördern. So erklärt der Islamwissenschaftler Gilles Kepel die Entstehung der „kulturellen Re-Islamisierung“ der Banlieues, die sich seit etwa zwei Jahrzehnten beobachten lässt.24 Anhand von Gesprächen mit Zuwandererfamilien in Clichy-sous-Bois und Montfermeil stellt er fest, dass es islamischen Missionierungsbewegungen in einem Umfeld voll von Frustration und Resignation möglich gewesen ist, an Einfluss zu gewinnen und Anwohnern ohne Ansatzpunkte eine kollektive Ersatzidentität zu bieten: Neue Akteure und Werte haben Schritt für Schritt das Vakuum gefüllt, das die schwindenden Staats- und Arbeitsstrukturen in den Pariser Randbezirken hinterlassen haben.
Diese Situation hat im zivilgesellschaftlichen Engagement innerhalb von Vereinen und Verbänden sowie im wissenschaftlichen Bereich eine Diskussion über Empowerment in Gang gesetzt. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass eine „von oben“ geführte Stadtpolitik, wie sie der Zentralstaat in Frankreich traditionell betreibt, desintegrativ wirkt. Damit die Einwohner der Banlieues sich aktiver an ihrer eigenen Zukunft beteiligen können, also Verantwortung für sich als Einzelpersonen wie auch als Kollektiv übernehmen, werden Formen der Mitbestimmung gefordert. Der Verein „Alliance citoyenne“ in Grenoble hat sich zum Beispiel zum Ziel gesetzt, Bürger, kulturelle Organisationen, Gewerkschaften und andere zivilgesellschaftliche Akteure der Stadt zusammenzubringen, um öffentliche Entscheidungen vor Ort zu beeinflussen.25 „Stimmlose Bürger sollen eine Stimme und Macht“ zurückbekommen lautet das Motto der Befürworter dieses Empowerment, die darin einen wichtigen Schritt für mehr Demokratie, Bürgerengagement und schließlich für das Entkommen aus der Ghettoisierung sehen.26 Bis jetzt hat die Politik auf solche Initiativen interessiert reagiert, ist in der Umsetzung aber zurückhaltend geblieben.
Allerdings hat sich diese Debatte über Bürgerbeteiligung und demokratische Repräsentation auch außerhalb der Banlieues entwickelt. Frankreich erlebt eine Vertrauenskrise im repräsentativen System: Vertreter der politischen Elite, öffentliche Institutionen und etablierte Medien verlieren immer stärker an Legitimationskraft. Viele Bürger haben das Gefühl, nicht mehr gehört zu werden. Der Mangel an Alternativen in der Wirtschafts- und Fiskalpolitik, insbesondere in Bezug auf Haushaltssanierung, verstärkt dieses Gefühl. So ist es kein Zufall, dass es im „Frankreich der Peripherie“ besonders ausgeprägt ist – wie der Geograf Christophe Guilly die Gebiete des Landes nennt, die sich abseits der wirtschaftlichen Dynamiken befinden, sei es in Vororten am Stadtrand, in kleinen und mittelgroßen Städte oder in ländlichen Regionen.27 Unter diesen Verlierern der Globalisierung befinden sich nicht wenige Wähler des Front National, die auf dem politischen Markt kein passendes Angebot finden und sich von den etablierten Parteien abwenden.
Die Debatte geht weiter
In naher Zukunft werden kollektive Identität und gesellschaftlicher Zusammenhalt weiterhin kontrovers diskutiert werden. Dass sie Kernthemen der Kampagne zur Präsidentschaftswahl 2017 sein werden, ist höchst wahrscheinlich. Doch aufgrund der Dominanz des FN in diesen Fragen wird es für die moderaten Parteien schwierig, die richtige Positionierung zu finden. Viel zu oft prägen Tabus die Diskussion.
Die Regierung von Manuel Valls setzt in erster Linie auf Chancengleichheit im Bildungssystem. So führte die Bildungsministerin im Frühjahr 2015 eine Reform des collège (dt. Mittelschule) ein, die sogenannte elitäre Bildungselemente wie zweisprachige Klassen (z.B. Französisch-Deutsch) oder Latein und Altgriechisch gefährdet. Dabei wird außer Acht gelassen, dass das Leistungsprinzip im öffentlichen Schulsystem eine traditionelle Grundsäule der Republik ist, die begabten Schüler aus sozialschwachen Milieus erlaubt, sich hochzuarbeiten. Trotz zahlreicher Kritik, dass auf diese Weise eine Nivellierung nach unten vorangetrieben würde, unterstützt die Sozialistische Partei die Reform massiv. Es ist noch unklar, wie sich die neugegründete Partei „Les Républicains“ in diesen Fragen positionieren wird: Ihr Vorsitzenden Nicolas Sarkozy hat sich in letzter Zeit für einen „Law and order“-Ansatz entschieden. So stellte er vor Kurzem das ius soli (den Erwerb der französischen Staatsangehörigkeit durch Geburt) in Frage, obwohl er dies als Präsident und Innenminister immer abgelehnt hatte. Die Partei könnte versucht sein, Themen der Nation und der Religion zu besetzen. Dass der Islam Thema der ersten Klausurtagung der neuen Partei im Juni 2015 war, lässt es vermuten, auch wenn die Initiative selbst in den eigenen Reihen stark kritisiert wurde. Von der Entwicklung dieser Debatte hängt vieles ab, auch für die europäischen Partner. Denn nur ein Frankreich, das nicht mehr vorwiegend mit sich selbst beschäftigt ist, kann sich auch für die europäische Integration engagieren.
- 11 Auslöser war der Tod zweier junger Männer in einem Transformatorenhäuschen im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois. Dorthin waren sie vor der Polizei geflüchtet. Drei Wochen lang gab es daraufhin landesweit Straßenschlachten in den Banlieues zwischen Jugendlichen und der Polizei. Hunderte öffentlicher Gebäude wurden dabei zerstört. Die Regierung erklärte den Ausnahmezustand.
- 2Pierre Nora, Retour sur un événement monstre, in: Le Débat, Mai-August 2015, S. 4-10, hier S. 10.
- 3Vgl. Renaud Camus, Le grand remplacement, Paris 2011.
- 4Vgl. Shmuel Trigano, La démission de la République: Juifs et Musulmans en France, Paris 2003.
- 5Vgl. Laurent Bouvet, L’insécurité culturelle, Paris 2015.
- 6In vielen Schulen, überwiegend in sozialschwachen Banlieues, weigerten sich Kinder und Jugendliche, an einer Schweigeminute teilzunehmen. Aber nicht nur in den Banlieues, auch in katholischen Kreisen konnten sich viele Bürger mit den Karikaturen von Charlie Hebdo nicht identifizieren.
- 7Vgl. Umfrage von CSA für die Zeitungen Le Parisien/Aujourd’hui en France, Les Français et l’identité nationale, Oktober 2009, S. 6, www.csa.eu/multimedia/data/sondages/data2009/opi20091029-les-francais-e….
- 8An den Massendemonstrationen nahmen unterschiedliche Interessengruppen teil. Der Name „Manif pour tous“ (dt. Demo für alle) ist eine Anspielung auf die „Mariage pour tous“ (dt. Ehe für alle).
- 9Pierre Nora, Retour sur un événement monstre, a.a.O. (Anm. 2), hier S. 6.
- 10Vgl. Emmanuel Todd, Qui est Charlie? Sociologie d’une crise religieuse, Paris 2015. In Todds Augen sind die Demonstranten vom Januar Vertreter eines gebildeteten, katholisch geprägten Milieus, die ihre Privilegien und Macht verteidigen möchten. Die religiöse Leere, die aus der Krise des Katholizismus entstanden ist, führe in der herrschenden Klasse zu Verkrampfungen und insbesondere einer Islam-Obsession. Premier Valls reagierte darauf harsch und prangerte den „Betrug“ des Buches an (Le Monde, 7.5.2015).
- 11Vgl. Umfrage von CSA für die Zeitungen Le Parisien/Aujourd’hui en France, a.a.O. (Anm. 7).
- 12Vgl. Umfrage von Ifop für die Zeitung Sud Ouest Dimanche, Les Français et la laicité, Februar 2015, www.ifop.com/media/poll/2929-1-study_file.pdf.
- 13Vgl. Umfrage von Harris Interactive für das Institut Montaigne, Le regard des Français sur la religion musulmane, April 2013, http://personal.crocodoc.com/3gdhnQs.
- 14Der Conseil français du culte musulman (CFCM) wurde unter der Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy gegründet und gilt als Ansprechpartner der Regierung für konkrete Fragen der muslimischen Religion. Oft wird kritisiert, der Dachverband sei nicht repräsentativ für die Muslime in Frankreich.
- 15Volkszählung 2011, www.insee.fr/fr/themes/tableau.asp?reg_id=0&ref_id=etrangersnat.
- 16Vgl. Europarat, Report by Nils Muižnieks, Council of Europe Commissioner for Human Rights, Following his Visit to France, from 22 to 26 September 2014, CommDH(2015)1, 17.2.2015, http://bit.ly/1FmkGZ9.
- 17 Vgl. Marion Van Renterghem, Juif, d’Auschwitz à „Charlie“, in: Le Monde, 16.2.2015.
- 18Vgl. Dominique Reynié, L’antisémitisme dans l’opinion publique française: nouveaux éclairages, November 2014, www.fondapol.org/wp-content/uploads/2014/11/CONF2press-Antisemitisme-DO….
- 19Ebd.
- 20Vgl. Dominique Schnapper, Pourquoi cette haine?, in: Commentaire, 38/149, Frühjahr 2015.
- 21Vgl. D. Reynié, L’antisémitisme dans l’opinion publique française, a.a.O. (Anm. 18).
- 22Vgl. Mehdi Thomas Allal, Les discriminations, Paris 2015.
- 23Vgl. Pierre-Yves Cusset et al., Jeunes issus de l’immigration: quels obstacles à leur insertion économique?, France Stratégie, März 2015, http://www.strategie.gouv.fr/publications/jeunes-issus-de-limmigration-….
- 24Vgl. Gilles Kepel, Banlieue de la République, Paris 2011.
- 25Vgl. L’Alliance Citoyenne Grenobloise, http://www.alliancecitoyenne-38.fr/1898-2.
- 26Vgl. Marie-Hélène Bacqué, Carole Biewener, L’Empowerment, une pratique émancipatrice, Paris 2013.
- 27Vgl. Christophe Guilluy, La France périphérique, Paris 2014.