US-Perspektive: Politische Auswirkungen und strategische Neuausrichtungen
Die US-Außenpolitik dient häufig als Indikator für globale Trends. Dominik Tolksdorf meint: „Der Angriff auf Israel zwingt die Biden-Administration, ihren Blick verstärkt auf den Nahen Osten und insbesondere Iran zu richten. Dies steht zwar im Einklang mit dem allgemeinen Engagement für Verbündete und Partner, doch die komplexe Verflechtung von US-Innenpolitik und globalen Dynamiken erfordert von der Regierung einen neuen Fokus, der sich auch auf die Ukraine-Politik auswirken könnte.“ Dies betont den Spagat, den die USA möglicherweise vollziehen müssen, um ihre strategischen Prioritäten neu auszurichten.
Zum Neustart der liberalen Ordnung benötigen Demokratien eine Strategie
Benjamin Tallis argumentiert, dass die aktuelle liberale Weltordnung darin gescheitert sei, die Welt für Demokratien sicher zu machen. Er betont: „Zu lange haben sich liberale Demokratien auf Institutionen und Regeln verlassen, die nicht mehr zeitgemäß sind. Wir haben es bisher versäumt, die liberale Ordnung zu erneuern, weil wir den Glauben an unser Modell verloren und liberale Werte vernachlässigt haben, während wir falschen Vorstellungen von unseren eigenen Interessen nachgingen.“ Die multiplen Krisen unserer Zeit machten seiner Meinung nach die Dringlichkeit deutlich: „Autoritäre Staaten haben eine Strategie. Wir nicht. Das muss sich ändern – und liberale Werte müssen dabei im Mittelpunkt stehen.“
Die Antwort der NATO: Einheit trotz unterschiedlicher Meinungen
Aylin Matlé stellt heraus: „Die Haltung der NATO gegenüber den Aggressoren in dem aktuellen Konflikt zeigte sich, als die Alliierten den Angriff der Hamas auf Israel verurteilten. Eine Meinung, die von Generalsekretär Jens Stoltenberg in deutlichen Worten geteilt wurde.“ Obwohl einzelne Mitgliedstaaten wie Deutschland und die USA schnell ihre Unterstützung für Israel in Form von Militärausrüstung angeboten haben, hat das Bündnis als Ganzes nicht durch materielle Hilfe auf den erneuten Gewaltausbruch reagiert. Verschiedene Ansichten über die Gewährung von Militärhilfe und unterschiedliche Meinungen über die „Verhältnismäßigkeit“ der israelischen Vergeltungsmaßnahmen machten die Diskussion noch komplexer als sie es ohnehin sei.
Aufstieg der Mittelmächte: Das neue geopolitische Paradigma
Mit globalen Großmächten wie den USA und China, die oft in ihre umfangreichen Verpflichtungen verstrickt seien, gewännen regionale Mächte oder „Mittelmächte“ an Bedeutung, meint András Rácz. Er erörtert diese Entwicklung und betont: „Die Großmächte finden sich oft in einer reaktiven Position wieder, während regionale Akteure die Initiative ergreifen. Die Hauptakteure reagieren lediglich auf regionale Entwicklungen, was besonders sichtbar in Fällen wie der Ukraine, Bergkarabach und nun Israel ist.“
Die sich verändernden geopolitischen Rollen von Russland und Iran
Russland und Iran, traditionell einflussreiche Akteure in ihren jeweiligen Regionen, haben transformative geopolitische Strategien zur Schau gestellt. Stefan Meister beleuchtet Russlands Entwicklung und betont: „Russlands globaler Einfluss wandelt sich. Auch wenn seine hegemonialen Tage in der postsowjetischen Region vielleicht vergangen sind, ist seine Rolle als geopolitischer Normsetter unbestreitbar.“ Er meint: „Russland ist geschwächt, aber nicht schwach. Es ist sowohl eine disruptive Macht als auch ein autoritärer Normgeber.“
Europäische Union: eine Krise von Werten und Handlungsfähigkeit
Die EU strauchelt sowohl in puncto Handlungsfähigkeit als auch hinsichtlich der Wahrung und Durchsetzung ihrer Werte. Jacob Ross kommentiert kritisch die jüngsten Reaktionen der EU auf die Krisen in Afghanistan, Niger und Israel und stellt fest: „Angesichts wiederkehrender geopolitischer Herausforderungen erscheinen die Reaktionen der EU oft unzureichend und werfen Zweifel an ihren geopolitischen Bestrebungen auf.“ Florence Schimmel beklagt den offensichtlichen Mangel an Fortschritten im Krisenmanagementansatz der EU und meint: „Die EU zeigt keine Lernkurve, wie man die Mitgliedstaaten hinter ein kohärentes Handeln und eine gemeinsame Kommunikation über die Grundlagen versammeln kann, geschweige denn innovatives Denken hinsichtlich der jeweiligen spezifischen Situation.“ Anstatt Maßnahmen auf die Besonderheiten jeder Situation zuzuschneiden, scheine die Union sich in ihrer ersten Reaktion mit Dingen auseinanderzusetzen, die eigentlich Standardverfahren sein sollten. Darunter Geldern für humanitäre Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und andere Projekte wie Stabilisierungsbemühungen oder Migrationsfragen.
Jüngste Entscheidungen der Mitgliedstaaten verdeutlichten weiter existierende Dissonanzen. Während Dänemark kürzlich seine Entwicklungshilfe für Niger wieder aufgenommen hat, um das, was als „kollektive Bestrafung“ der Menschen in Niger bezeichnet wurde und was im Gegensatz zu den Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten stand, zurückzunehmen, hinterfragt Irland nun die rechtliche Grundlage für die Entscheidung von Olivér Várhelyi, EU-Kommissar für Nachbarschaftspolitik und Erweiterung, die Entwicklungshilfe für die Palästinenser auszusetzen.
Der Energieexperte Loyle Campbell erläutert weiter die Auswirkungen auf die regionalen Energieflüsse. Israel ist ein bedeutender Gasproduzent. 2022 produzierte Israel 21,9 Milliarden Kubikmeter (bcm) Gas - 10,2 davon wurden von der Tamar-Plattform produziert. Diese Plattform liegt nordwestlich des Gazastreifens und wurde aufgrund ihrer Nähe von der israelischen Regierung zur Schließung angeordnet. Dies könnte Israel mit Gasengpässen konfrontieren, die sich bei fehlenden Exporten ausweiten könnten. 2022 exportierte Israel 9,2 bcm Gas nach Ägypten und Jordanien. Mit dem Stillstand von Tamar werden die Exporte gestört sein, da Israel den heimischen Bedarf priorisiert. Dies wird Ägypten Schwierigkeiten bereiten, seiner wachsenden Nachfrage gerecht zu werden und gleichzeitig Flüssiggasexporte nach Europa aufrechtzuerhalten. Die Angebotslücke hat bereits zu steigenden Gaspreisen in Europa geführt.
Ein komplexes geopolitisches Mosaik
Der Angriff der Hamas auf Israel ist ein brutaler Akt ungerechtfertigter Gewalt mit schwerwiegenden Folgen für die Region. Gleichzeitig muss er vor dem Hintergrund komplexer geopolitischer Entwicklungen betrachtet werden. Während Staaten und Bündnisse sich mit diesen Entwicklungen auseinandersetzen müssen, will die DGAP mit interdisziplinären Analysen und verschiedenen Perspektiven mögliche politische Antworten erörtern. Denn in diesen turbulenten Zeiten sind kohärente, werteorientierte Strategien, die auf einem unerschütterlichen Bekenntnis zu Demokratie und internationaler Rechtsstaatlichkeit beruhen, das Gebot der Stunde.