Memo

28. Okt. 2021

Gewaltorientierter Extremismus

Deutschland braucht eine nachhaltige Präventionspolitik
Artikelbild: Anti-Terror-Betonpoller vor Striezelmarkt in Dresden
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Prävention von gewaltorientiertem Extremismus darf nicht nur nach terroristisch motivierten Anschlägen und entsprechenden Schlagzeilen politische Aufmerksamkeit bekommen, sondern sollte als langfristige Herausforderung begriffen werden. Um auf islamistische Bewegungen im In- und Ausland sowie den zunehmend transnational agierenden Rechtsextremismus zu reagieren, muss die nächste Bundesregierung in eine nachhaltigere Präventionspolitik investieren. Dazu gehört die kontinuierliche und anhaltende Förderung von vorausschauenden, phänomenbereichs- und ressortübergreifenden Maßnahmen und deren unabhängige und formative Evaluation.

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Rahmenbedingungen

Extremismusprävention als zentraler Auftrag für deutsche Innen- und Außenpolitik

Gewaltorientierter Extremismus ist eine der größten Gefahren für die innere Sicherheit Deutschlands und den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Land. Die Bedrohung durch islamistischen Extremismus bleibt in ­Deutschland auf einem hohen Niveau, wie der Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz von 2016 oder zuletzt der Messerangriff auf ein homosexuelles Paar in Dresden im Oktober 2020 zeigten. Gleichzeitig sind rechtsextremistische Straf- und Gewalttaten im Jahr 2020 um rund 5 Prozent gestiegen. Effektive Extremismusprävention ist ebenso für deutsche Außenpolitik relevant. Die zehn dschihadistischen Anschläge in der EU im letzten Jahr wurden außerhalb Deutschlands unter anderem in Österreich, Frankreich und Belgien ausgeführt - unseren direkten Nachbarländern.

Auch außerhalb der EU ist gewalt­orientierter Extremismus eine Her­aus­­­forderung für die deutsche Au­­­­ßen­politik. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des sogenannten ­Islamischen Staates (IS). Nach dessen territorialer Zerschlagung in ­Syrien und im Irak breiten sich der IS sowie Untergruppen von ihm derzeit vor allem in der Sahelzone weiter aus. Auch die Entwicklung in Afghanistan nach dem Abzug westlicher Truppen sollten beobachtet werden. Noch ist unklar, inwiefern die Machtübernahme der Taliban islamistisch-dschihadistische Narrative in Deutschland und Europa beeinflussen und ob es zu Aus- oder Weiterreisen Deutscher nach ­Afghanistan kommen wird. Dass seit 2012 etwa 1070 Personen aus ­Deutschland ausgereist sind, um sich dem IS und anderen ­dschihadistischen Organisationen anzuschließen, ist dennoch ein Zeugnis der innenpolitischen Bedeutung von zunächst als außenpolitisch relevant gedachten dschihadistischen Konfliktbühnen. Diese Gruppen, darunter vor allem der IS, hatten wiederum eine Vielzahl terroristischer ­Anschläge in mehreren europäischen Städten verübt und weitere geplant.

Herausforderungen

Die Komplexität der Gefahr

In der EU wurden alle dschihadistischen Anschläge in 2020 durch sogenannte „Einzeltäter“ verübt, die in den meisten Fällen rudimentäre Methoden beziehungsweise Tatwaffen wie Messer und Kraftfahrzeuge verwendeten. Die Sicherheitsbedrohung wird demnach komplexer, da diese Art von terroristischen ­Anschlägen ­weniger Organisation erfordert und im Vorfeld schwerer ermittelt und verhindert werden kann. Die Idee des ­„Einzel­täters“ als eigen­ständiges ­Phänomen ist ­jedoch umstritten: Auch wenn „Einzeltäter“ per definitionem Anschläge allein durchführen, fühlen sie sich meist einer Ideologie oder Gruppe zugehörig, die durch extremistische Milieus online sowie offline genährt wird. In vielen Fällen haben sie logistische, moralische, finanzielle oder operative Unterstützung erhalten. Zudem sind es nicht mehr hauptsächlich (junge) Männer, die sich radikalisieren – über 13 Prozent der deutschen IS-Anhängerschaft ist weiblich. Weiterhin konstatiert der ­Terrorismus- und Situations­bericht der Europäischen Union, dass Verdächtige, die für rechtsextremistische oder -terror­istische Anschläge verhaftet werden, zunehmend jünger und teilweise sogar minderjährig sind sowie größtenteils Verbindungen zu ­„transnationalen gewaltbereiten Online-­Communities“ haben.

 

 

 

Das Ende der Ausreden

Vier Jahre nach dem militärischen Sieg über den IS befinden sich von den 1.070 ausgereisten Personen noch immer über 70 Erwachsene und ­etwa 150 Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit oder Deutschlandbezug in den Lagern der kurdischen Selbstverwaltung in ­Nordsyrien. Dabei muss Deutschland einerseits die Forderungen von internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen nach der Rückführung von ausländischen Kämpfern und ihren Angehörigen und andererseits das Sicherheitsrisiko durch radikalisierte Rückkehrerinnen und Rückkehrer für die deutsche Bevölkerung abwägen. Bisher entscheidet sich Deutschland dabei für kurzfristige Lösungen: Rückführungen gestalten sich schwierig und die Politik will nicht dafür verantwortlich sein, dass Zurückgekehrte hierzulande einen Anschlag verüben. Langfristig bleiben Deutsche folglich ohne formelle Anklage und rechtlichen Beistand in Lagern und Gefängnissen. Deutschland nimmt dadurch Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht und internationales Menschenrecht in Kauf. Zudem können auf diese Weise immer wieder Personen aus den Lagern entkommen und möglicherweise unerkannt nach Europa zurückkehren oder sich vor Ort erneut dschihadistischen Gruppen anschließen und damit zum Wiedererstarken terroristischer Organisationen beitragen.

 

 

Der Preis der Nachhaltigkeit

Deutschland steht vor der Herausforderung, Extremismusprävention nachhaltig zu gestalten. Das gilt sowohl für den Umgang mit ­Rückkehrenden aus ­Syrien und dem Irak als auch mit ehemaligen Straftäterinnen und Straftätern. Der Zugang zu sich radikalisierenden oder bereits radikalisierten Personen, die Zusammenarbeit mit Bewährungshilfe oder Jugendamt, Risiko­einschätzung oder Berücksichtigung von psychischer Gesundheit sind Themen, bei denen viele unterschiedliche staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure zusammenarbeiten müssen. Kurze Projektlaufzeiten von einem oder zwei Jahren stehen dabei dem Aufbau einer vertrauensvollen Zusammenarbeit im Weg sowie im Gegensatz zu Deradikalisierungs- und Distanzierungsprozessen, die Monate oder Jahre dauern können. Gleichzeitig ist noch wenig über die Wirkung diese Arbeit bekannt, da nur ein Bruchteil der bisherigen Maßnahmen evaluiert wurden.

 

 

 

Um diesen Herausforderungen angemessen zu begegnen, sollte sich die neue Bundesregierung in der nächsten Legislaturperiode auf folgende Aspekte konzentrieren:

Empfehlungen

Prävention durch Foresight umsetzen

Ende 2021 läuft das Nationale Präventionsprogramm gegen islamistischen Extremismus (NPP) aus, mit dem das Bundesinnenministerium (BMI) seit 2017 maßgeblich den Aufbau einer vielfältigen Präventionslandschaft gefördert hatte. Wie es 2022 weitergeht, ist bislang unklar. Diese finanzielle und zeitliche Unsicherheit ist sowohl für die Projekt- als auch die Präventionsarbeit hochproblematisch. Statt kurzfristig bestimmte Phänomenbereiche zu priorisieren und andere zu vernachlässigen, muss strategischer geplant werden. Neben der schnellstmöglichen Weiterführung des NPP sollte die neue Bundesregierung in mehr vorausschauende, regierungsunabhängige Forschung investieren: Am Anfang muss eine praxisorientierte Bestandsaufnahme der Übertragbarkeit von Erfahrungen und bewährten Praktiken zwischen den Phänomenbereichen stehen, beispielsweise im Auftrag des BMI oder des Bundestags. Gleichzeitig sollte die Bundesregierung eine Foresight-Fachkommission mit Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft und Praxis einsetzen, die nationale und internationale Trends innerhalb der einzelnen Bereiche, jedoch auch phänomenbereichübergreifend frühzeitig erkennt und analysiert. Diese sollte zudem Empfehlungen für relevante Maßnahmen auf Bundes- und Landesebene sowie für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Ressorts geben.

Deutsche Staatsangehörige aus Syrien zurückholen

Auch wenn politisch unpopulär, ist die Rückführung deutscher Staatsangehöriger aus Nordsyrien langfristig die beste aller schlechten Lösungen: Noch im Jahr 2021 sollte die neue Bundesregierung deshalb eine Strategie zur strukturieren Rückführung aller verbleibenden deutschen Männer, Frauen und Kinder aus den kurdischen Lagern und Gefängnissen beschließen und idealerweise mit anderen europäischen Partnern umsetzen. Ziel sollte dabei gegebenenfalls deren Strafverfolgung, Rehabilitierung, Distanzierung und Reintegration in die Gesellschaft sein. Diese Entscheidung sollte außerdem durch eine sensible Öffentlichkeitsarbeit beziehungsweise Kommunikationskampagne begleitet werden. Teil der Strategie sollte auch die Unterstützung und der Ausbau repressiver und präventiver Maßnahmen sein. Das Modellprojekt „Rückkehr-Koordination“ sollte bis mindestens 2025 finanziert, gendersensible Ausstiegsarbeit und Risikoeinschätzung beziehungsweise -management gefördert sowie verstärkt Fortbildungen im Justizvollzug, Jugend- und Sozialamt sowie Gesundheitsbereich (vor allem im Umgang mit radikalisierten Frauen) angeboten werden.

Monitoring und Evaluation mitdenken

Schließlich geht mit dem weiterhin hohen Bedarf an Mitteln für Programme und Projekte zur Prävention von Extremismus auch ein Bedarf nach Monitoring und Evaluation der Maßnahmen einher. Zwar gibt es erste Evaluationsberichte von einzelnen Projekten, aber bei einem Großteil der Maßnahmen ist noch wenig über deren tatsächliche Wirkung bekannt. Deshalb sollte die neue Bundesregierung über die Förderprogramme dafür sorgen, dass bereits bestehende Maßnahmen im Bereich der Extremismusprävention evaluiert und bereits bei der Konzeption neuer Maßnahmen Monitoring und Evaluation integriert werden. Basierend auf bisherigen Erfahrungen empfehlen sich beispielsweise partizipative und formative Evaluierungskonzepte, bei denen multiple Perspektiven berücksichtigt werden und durch deren Ergebnisse der Projektfokus gegebenenfalls angepasst werden kann. Gleichzeitig sollten Plattformen geschaffen beziehungsweise weitergeführt ­werden, die sowohl einen nationalen als auch internationalen Wissensaustausch zu den Erkenntnissen zwischen Praxis, Wissenschaft und Politik ermöglichen. Neben einer effektiveren und nachhaltigeren Konzeption von neuen Maßnahmen der Extremismusbekämpfung wird so auch ein effizienterer Einsatz von (finanziellen) Mitteln erreicht.

Bibliografische Angaben

Koller, Sofia, Miriam Katharina Heß, and Alexander Ritzmann. “Gewaltorientierter Extremismus.” DGAP Memo 18 (2021). German Council on Foreign Relations. October 2021. https://doi.org/10.60823/DGAP-21-36012-de.

DGAPMemo Nr. 18, 28. Oktober 2021, 4 S.
 

In dieser Memo-Reihe bietet die DGAP fundierte Analysen zu Bereichen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, die die nächste Legislaturperiode prägen werden.

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