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Zusammenfassung
In der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus werden Personen, die sich aus extremistischen Milieus und Ideologien lösen wollen, durch zivilgesellschaftliche oder staatliche Ausstiegsprogramme unterstützt. Zugleich zielt die Arbeit der Sicherheitsbehörden darauf, mögliche Sicherheitsrisiken zu erkennen und zu verhindern. Die erfolgreiche Reintegration einer Person in die Gesellschaft hängt auch von praktischen Elementen wie der Suche nach einer Unterkunft und einem Arbeitsplatz sowie dem Zugang zum Gesundheitssystem ab. Von entscheidender Bedeutung ist, dass zivilgesellschaftliche und staatlichen Akteure einschließlich der Regelstrukturen, die diese Leistungen erbringen, hier effektiv zusammenarbeiten. Allerdings bringt diese Zusammenarbeit einige Herausforderungen mit sich.
Vor diesem Hintergrund veranstaltete die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Kooperation mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Herbst 2020 einen internationalen virtuellen Workshop zur Rolle der Regelstrukturen und der behördenübergreifenden Zusammenarbeit in der Tertiärprävention von (gewaltbereitem) islamistischem Extremismus. Dieser Workshop fand im Rahmen des International Forum for Expert Exchange on Countering Islamist Extremism (InFoEx) statt, um staatlichen und zivilgesellschaftlichen Netzwerkpartnern des BAMF die Gelegenheit zu geben, mit externen Experten über Herausforderungen und bewährte Praktiken zu diskutieren. Zu den Themen gehörten die verschiedenen Dimensionen der Multi-Stakeholder-Kooperation (wie zum Beispiel Aufgabenteilung, Informationsaustausch und Vertrauensbildung), die Übertragbarkeit von bewährten Praktiken sowie einige konkrete Beispiele von Multi-Agency-Strukturen in Belgien, Deutschland und den Niederlanden.
Auf der Grundlage der Diskussionen während des Workshops wurden die folgenden Empfehlungen für Praktiker, staatliche Akteure im Multi-Stakeholder-Umfeld und politische Entscheidungsträger formuliert:
Empfehlungen |
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1. Bringen Sie Akteure, die gemeinsam an Fällen arbeiten, regelmäßig zu einem Austausch über ihre Bedürfnisse und Erwartungen zusammen, um die Ad-hoc-Zusammenarbeit zu verbessern, neue Multi-Agency-Strukturen zu etablieren und existierende zu stärken. |
2. Entwickeln Sie gemeinsame Handreichungen für Arbeitsdefinitionen, Ziele und Verantwortlichkeiten, um die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch (einschließlich der Datenschutzaspekte) zwischen Institutionen zu regeln. |
3. Fördern Sie existierende und gut funktionierende Ansätze, die Akteuren beim Aufbau neuer Kooperationsstrukturen als Vorbilder dienen können. |
4. Bauen Sie Vertrauen auf und fördern Sie den Austausch von bewährten Praktiken, indem Sie den (inter-)nationalen Wissensaustausch zwischen vergleichbaren Akteuren stärken und berufsgruppenübergreifende lokale Netzwerke und Hospitationsangebote aufbauen. |
5. Stärken Sie das Fachwissen und die Fähigkeiten von Mitarbeitenden, die in Strukturen im Bereich der Jugendhilfe oder des Gesundheitswesens arbeiten, durch bedarfsgerechte und zielgerichtete Schulungen, zum Beispiel zu (De-)Radikalisierungsprozessen. Stellen Sie zusätzliche Ressourcen bereit, um die Arbeitsbelastung dieser Mitarbeiter zu verringern. |
6. Fördern Sie eine Kultur des Lernens aus Fehlern, zum Beispiel, indem Sie sich aktiv für interne und externes Monitoring und Evaluierung einsetzen. Wichtig ist auch, dass Sie das Verständnis von Multi-Agency-Zusammenarbeit als einem kontinuierlichen Prozess fördern. |
Einleitung
In der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus werden Personen (und ihre Familien), die sich von gewaltbereiten extremistischen Gruppen lösen und von extremistischen Ideologien distanzieren wollen, durch zivilgesellschaftliche und staatliche Ausstiegsprogramme unterstützt. Wichtig ist in einigen Fällen, dass die Sicherheitsbehörden einbezogen werden, um Risiken zu verhindern, beispielsweise dass diese Menschen sich selbst und andere verletzen. Zur Ausstiegsarbeit und der erfolgreichen Reintegration in die Gesellschaft gehören aber auch ganz praktische Elemente, die von kommunalen Akteuren, öffentlichen Dienstleistern und zivilgesellschaftlichen Organisationen bereitgestellt werden: Hilfe bei der Arbeitssuche, vor allem nach der Entlassung aus dem Gefängnis, Zugang zu Gesundheitsleistungen und Unterstützung für die Kinder durch die Jugendhilfe. Unbedingt erforderlich ist, dass die zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteure, einschließlich der Regelstrukturen, effektiv zusammenarbeiten. Allerdings bringt diese Zusammenarbeit einige Herausforderungen mit sich.
Die europäischen Staaten haben unterschiedliche Ansätze für die Zusammenarbeit in der Tertiärprävention etabliert, wobei es hilfreich ist, zwischen drei Hauptansätzen zu unterscheiden: Einige Länder haben landesweite ‚Multi-Agency-Kooperationen‘ oder ‚Multi-Agency-Workings‘ eingerichtet, bei denen dauerhafte Strukturen geschaffen wurden, die es den meist staatlichen Akteuren ermöglichen, in allen Gemeinden oder Regionen bei individuellen Fällen zusammenzuarbeiten. Beispiele hierfür sind die Safety Houses in den Niederlanden (S.16) oder die so genannten LIVC-R-Einheiten in Belgien (S.15). In einer solchen Konstruktion ist die Tertiärprävention nicht ganz so sehr von zivilgesellschaftlichen Einrichtungen abhängig. Einen anderen Ansatz stellen Einzelprojekte dar, die es nur in einer oder mehreren Städten gibt, die aber ebenfalls auf einer Multi-Agency-Kooperation beruhen. Beispiele hierfür sind das Aarhus-Modell in Dänemark (das sich auf die Polizei und kommunale Akteure stützt) oder PAIRS in Frankreich (das von der Regierung finanziert wird, aber bei dem eine zivilgesellschaftliche Organisation die Leistungen erbringt). (Koller 2019, S.5) Schließlich gibt es in einigen Ländern Ausstiegsprogramme, die von zivilgesellschaftlichen oder staatlichen Akteuren geleitet werden, die fallweise mit anderen relevanten Akteuren zusammenarbeiten. In Deutschland arbeiten zivilgesellschaftliche und staatliche Akteure im Rahmen von Fallkonferenzen gemeinsam an individuellen Fällen, bleiben aber organisatorisch getrennt. Ein weiteres Beispiel aus Deutschland ist das Modellprojekt „Rückkehrerkoordination“, das auf ressortübergreifender Zusammenarbeit basiert und für ausländische Kämpfer und ihre Familien zuständig ist, die aus Syrien und dem Irak zurückgekehrt sind (S.10). Unabhängig von der spezifischen Herangehensweise sind häufig auch Regelstrukturen wie Jugend- und Kinderämter, Strafvollzug und Bewährungshilfe oder Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens, die der Allgemeinheit dienen, an der Arbeit an den Fällen beteiligt.
Die verschiedenen Kooperationsmodelle zwischen unterschiedlichen Akteuren und Institutionen haben zwar ihre spezifischen Vor- und Nachteile; doch sind allen auch gewisse Herausforderungen gemein. Es braucht zum Beispiel Zeit, um sich auf ein gemeinsames Ziel zu einigen und Vertrauen in die Beziehung aufzubauen, und beides ist jedoch für eine effektive Zusammenarbeit unerlässlich. Außerdem erschweren ethische und datenschutzrechtliche Fragen den beteiligten Akteuren oft den Informationsaustausch über relevante Fälle. Darüber hinaus kann es vorkommen, dass ein Vertreter des öffentlichen Gesundheitswesens nicht über das relevante Wissen über (De-)Radikalisierungsprozesse verfügt, oder dass ein Ausstiegsberater nicht in der Lage ist, ein psychisches Problem zu diagnostizieren. Insgesamt jedoch lässt der wachsende Erfahrungsschatz aus der gemeinsamen Arbeit an Fällen vermuten, dass der berufsgruppenübergreifende Ansatz dazu beitragen kann, die Tertiärprävention effektiver zu gestalten. Einige Forscher weisen auch auf die Vorteile der Multi-Agency-Arbeit hin, denn „wenn es diesen Akteuren gelingt, in vertrauensbasierten Netzwerken zusammenzukommen, sind sie in der Lage, eine Reihe nützlicher Fähigkeiten und Ressourcen zu mobilisieren, die von der Vermittlung eines Arbeitsplatzes bis zum Angebot religiöser Beratung reichen“ (Dalgaard-Nielsen 2016). Die zuständigen staatlichen Behörden und Einrichtungen können somit helfen, langfristige Bedürfnisse der Klienten zu erfüllen.
Dieses Themenpapier fasst die Ergebnisse eines InFoEx-Workshops aus dem Herbst 2020 zusammen. Praktikerinnen und Praktiker, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Behördenvertreter aus Belgien, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und Norwegen diskutierten gemeinsam über ihre Erfahrungen mit der Zusammenarbeit in der Tertiärprävention. Das erste Kapitel gibt Einblicke in die unterschiedlichen Dimensionen dieser Zusammenarbeit, einschließlich der Herausforderungen und bewährten Praktiken. Das zweite Kapitel befasst sich mit den Bedingungen für eine erfolgreiche Übertragung bewährter Praktiken auf andere Länder und Kontexte. Im letzten Kapitel werden drei Beispiele für konkrete Kooperationsmodelle in Belgien, den Niederlanden und Deutschland vorgestellt.
Dimensionen der Zusammenarbeit in der Tertiärprävention
Die Zusammenarbeit in der Tertiärprävention kann von anlassbezogenen Diskussionen zu einzelnen Fälle wie bei Fallkonferenzen in Deutschland bis hin zu vollwertigen Multi-Agency-Workings reichen, wie sie in fast allen Gemeinden in Belgien, den Safety Houses in den Niederlanden und im Infohouse im dänischen Aarhus üblich sind. Dieses Kapitel gibt Einblicke in die verschiedenen Dimensionen der Zusammenarbeit in der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus. Jedes der folgenden Unterkapitel enthält eine kurze Beschreibung der wichtigsten Herausforderungen, mit denen sich die Teilnehmenden konfrontiert sehen, und listet dann bewährte Praktiken auf, die sie in ihrer täglichen Arbeit identifiziert haben, um diesen Herausforderungen und Bedürfnissen gerecht zu werden.
Klarheit über Ziele und Rollen
Eine der wichtigsten Herausforderungen besteht nach Einschätzung der Teilnehmenden darin, ein gemeinsames Verständnis der Probleme zu schaffen und sich darauf zu einigen, welches Problem überhaupt gelöst werden soll. Mehrere Teilnehmende wiesen darauf hin, dass sich die Perspektive der involvierten Akteure (beispielsweise von Zivilgesellschaft und Sicherheitsbehörden) unterscheidet und dies die Zusammenarbeit erschweren kann. Trotz möglicherweise unterschiedlicher Aufträge muss also ein gemeinsames Interesse gefunden werden. Die Teilnehmenden berichteten auch, dass sich die Evaluierung von Präventionsarbeit in einem Multi-Agency-Kontext als schwierig erweisen könne, wenn keine klare Zielsetzung vereinbart worden sei. Zudem sei es notwendig, ein ähnliches Verständnis des jeweiligen Falles – beispielsweise zwischen Bewährungshelfern und Beratungsstellen – zu entwickeln, um die Arbeit in der Tertiärprävention nachhaltiger zu gestalten.
Als schwierig könne es sich auch erweisen, ein gemeinsames Verständnis davon zu entwickeln, was Kooperation und Partnerschaft bedeuten. Ein Teilnehmer sagte, zwar könnten sich alle mit der Grundidee von Partnerschaften leicht anfreunden, die Umsetzung einer solchen Partnerschaft in die Praxis bleibe aber schwierig. Wichtig sei aber die Frage, ob und wie (neben dem anlassbezogenen Austausch) langfristige Multi-Agency-Partnerschaften aufgebaut werden können. Ein bei einer zivilgesellschaftlichen Organisation tätiger (deutscher) Wissenschaftler ergänzte, es sei eine Herausforderung, eine bestehende gute Zusammenarbeit in verlässliche und verbindliche Strukturen zu überführen. Eine andere deutsche Wissenschaftlerin einer zivilgesellschaftlichen Organisation fragte, inwieweit Kooperationsmodelle den Klienten „Kontrollerfahrungen“ ermöglichten, also zum Beispiel Erfahrungen von Zugehörigkeit und Sinn. Ihrer Einschätzung zufolge sind einige staatliche Akteure außerstande, Hilfe zu leisten, da Klienten ein hohes Maß an Fremdbestimmtheit erleben können, wenn Auflagen und Entscheidungen ohne die Indexperson beschlossen bzw. getroffen wurden.
Auch organisatorische Veränderungen in staatlichen Einrichtungen können zu Problemen führen. Teilnehmer berichteten von einem Amt, das entschieden hatte, gewisse Informationen nicht mehr weiterzugeben und bestimmte Mitarbeitende nicht mehr zu den Fallgesprächen zu schicken. Außerdem führte beispielsweise die hohe Arbeitsbelastung in der Kinder- und Jugendhilfe dazu, dass sich die Fallakten häuften und das Personal nicht genügend Zeit für Fortbildungen habe. Schließlich sagte eine deutsche Ministerialbeamtin, die Kommunikation über die Finanzierung zwischen der lokalen und der Bundesebene stelle weiterhin eine Herausforderung dar, da bisher kein Format für die Zusammenarbeit von Kommunen mit dem Bund existiere.
Workshop-Teilnehmer berichteten von den folgenden bewährten Praktiken, um diesen Herausforderungen zu begegnen:
- Sprechen Sie beim Aufbau einer neuen Multi-Agentur-Struktur oder -Kooperation mit allen Beteiligten über ihre Bedürfnisse und Erwartungen, damit diese in Strukturen und Regeln berücksichtigt werden können.
- Ermutigen Sie alle Akteure, auf eine klare Definition und Akzeptanz der verschiedenen Rollen hinzuarbeiten: Die Akteure müssen sich der unterschiedlichen Sichtweisen von Radikalisierung und den Zielen einer Intervention bewusst sein. Sie sollten herausfinden, „wer welches Verständnis von der Zielsetzung hat, und wer was von wem erwartet“, wie eine deutsche wissenschaftliche Mitarbeiterin von einer zivilgesellschaftlichen Organisation betonte. Transparenz in Bezug auf Ziele und Verantwortlichkeiten helfe auch, Vertrauen zwischen Akteuren aus verschiedenen Institutionen aufzubauen, weil auf diese Weise zum Beispiel klar werde, dass einer der anwesenden Behördenvertreter nicht die gesamte Regierung vertrete, sondern nur bestimmte Präventionsaufgaben.
- Entwickeln Sie gemeinsame Arbeitsdefinitionen, auch für den weit gefassten Begriff „Zusammenarbeit“. Manche verstehen darunter, einfach mit anderen Akteuren zu reden, während andere Zusammenarbeit als eine Beziehung verstehen, die zum Beispiel auch finanzielle Erwartungen beinhalten kann.
- Verfolgen Sie einen bedarfsorientierten Ansatz: Eine deutsche Ministeriumsvertreterin berichtete, dass sie in ihrem Team bestimmte Fragen stelle, um die Ziele ihrer Arbeit festzulegen: „Was sind die Bedürfnisse auf lokaler Ebene? Was funktioniert gut und was nicht? Wie können wir als staatlicher Akteur helfen?“
- Stellen Sie zusätzliche Ressourcen zur Verfügung: Mehrere Teilnehmenden werteten personelle Diskontinuität als besondere Schwierigkeit. Zivilgesellschaftliche Organisationen seien meist von projektbezogener Finanzierung abhängig, was zu einer recht hohen Fluktuation führte. Um Reibungsverluste zu vermeiden, sollten Projekte der Tertiärprävention eine längerfristige Perspektive erhalten.
Zusammenarbeit und Informationsaustausch
Der Austausch und der Umgang mit Informationen stellen eine besonders wichtige Herausforderung dar. Verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Zielen müssen Wege finden, um Vertrauen aufzubauen und es für alle attraktiv zu machen, Informationen zu teilen. Als Beispiel wurde genannt, dass Sicherheitsbehörden ein professionelles Interesse daran haben, Einzelfälle geheim zu halten, während Jugendämter gesetzlich verpflichtet sind, die Vertraulichkeit zu wahren, aber auch mögliche Sicherheitsrisiken zu melden. Für beide Akteure sei es somit schwierig, Informationen voneinander zu erhalten. Diese Probleme wurden als besonders akut angesehen, wenn ein Netzwerk neu gegründet wurde, denn das persönliche Vertrauen, das nötig ist, um offen miteinander zu sprechen, stelle sich erst mit der Zeit ein.
Auch können unterschiedliche Ebenen der Zusammenarbeit unterschiedliche Ebenen der Kommunikation erfordern. Es wurde zum Beispiel erwähnt, dass die niederländischen Safety Houses (siehe S.16) eine klar definierte Verantwortung für den internen Umfang mit Informationen hätten, die beteiligten Gemeinden jedoch Schwierigkeiten hätten zu entscheiden, welche Informationen sie bei externen Akteuren anfragen sollten. In diesem Zusammenhang sagte ein staatlicher Ausstiegsberater, nach seiner Einschätzung stelle die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Ebenen (lokal, kommunal, föderal und Zivilgesellschaft) die größte Herausforderung dar.
Ein anderer deutscher Teilnehmer sagte, die Vorgaben für den Informationsaustausch zwischen Regierungsstellen seien nicht klar genug. In diesem Zusammenhang wurde auch die Frage von Sicherheitsüberprüfungen diskutiert: Staatliche Akteure bestanden darauf, dass eine Sicherheitsüberprüfung lediglich ein administrativer Prozess sei, um den Zugang zu Verschlusssachen zu ermöglichen. Es geht nicht darum, den Charakter einer Person zu beurteilen. Allerdings erhalte nach Ansicht eines anderen Teilnehmenden nur die Person eine Sicherheitsfreigabe, die sich glaubwürdig für die demokratische Grundordnung Deutschlands einsetzt. Staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure waren sich einig, dass eine Sicherheitsüberprüfung zwar die formale Voraussetzung für den Austausch von Informationen sei, aber nicht automatisch auch persönliches Vertrauen herstelle.
Schließlich ist es nicht immer hilfreich, über so viele Informationen wie möglich zu verfügen. Ein zivilgesellschaftlicher Akteur sagte, er finde es schwierig, ohne ein vorgefasstes Bild auf einen Klienten zuzugehen, wenn er bereits bestimmte Dinge über ihn wisse. Ein anderer Teilnehmer stellte fest, jeder Beratende müsse für sich entscheiden, ob er oder sie die von der Polizei zur Verfügung gestellten Akten einsehen wolle. Eine weitere Schwierigkeit liege in der Erfassung und Verwaltung von (persönlichen) Daten und Informationen. Es wurde erwähnt, dass zum Beispiel der Gesundheitsbereich nicht ausreichend digitalisiert sei.
Workshop-Teilnehmende berichteten von den folgenden bewährten Praktiken, um diesen Herausforderungen zu begegnen:
- Entwickeln Sie gemeinsame Vorgaben für die Zusammenarbeit zwischen Institutionen: In Hessen zum Beispiel erlaubt die Gesetzgebung zum Datenschutz und zum Strafvollzug den Austausch von Daten. Dennoch, so eine Teilnehmerin, holten die Beratenden oft die Zustimmung ihrer Klienten zur Weitergabe von Informationen ein, da dies als wichtig für die Vertrauensbildung angesehen wird. Seit 2015 gibt es gemeinsame Richtlinien des Innenministeriums, des Justizministeriums und des Sozialministeriums, die detailliert beschreiben, welche Informationen wie ausgetauscht werden können und welche Rechte und Pflichten die beteiligten Akteure haben. Nach Einschätzung einer Teilnehmerin hat sich die Zusammenarbeit seit Einführung dieser Richtlinien kontinuierlich verbessert. Zwischen den Akteuren gebe es nun ein hohes Maß an Informationsfluss und Vertrauen ebenso wie ein größeres Verständnis für die unterschiedlichen Perspektiven. Ein weiteres Beispiel schilderte ein deutscher Praktiker, der bei einer zivilgesellschaftlichen Beratungsstelle tätig ist und mit Personen arbeitet, die als „Gefährder“ eingestuft werden. Nach seiner Einschätzung ermöglicht es das klare Bewusstsein der unterschiedlichen Rollen, verschiedene Perspektiven zu berücksichtigen und Synergieeffekte zu schaffen. Für ihn sei es wichtig zu verstehen, dass Vertreter der Sicherheitsdienste „objektive Fakten“ benötigten, die überprüfbar und vor Gericht verwertbar seien. Im Gespräch mit einem Klienten gebe es dagegen nur „subjektive Fakten“. Deshalb sei in der Datenschutzvereinbarung der Beratungsstelle geregelt, dass außer im Fall einer akuten Bedrohung keinerlei Informationen aus dem Beratungsprozess weitergegeben werden dürften. Zudem habe er Fallkonferenzen als nützlich empfunden, an denen entweder der Klient selbst teilnahm oder die nach einem Gespräch mit dem Klienten stattfanden. Unter solchen Rahmenbedingungen habe man mit der Zeit Vertrauen gefasst.
- Vereinbaren Sie klare Regeln für das Datenmanagement, den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit mit Dritten und halten Sie sie schriftlich fest: Auch wenn schriftliche Regeln womöglich kreative Lösungen behindern, kann das Fehlen von Regeln zu problematischen halblegalen Situationen führen, insbesondere beim Datenaustausch.
- Erwägen Sie den Aufbau von Strukturen zur Erleichterung des Informationsaustausches: Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter berichtete, dass die Beratungsstelle, wo er arbeite, sich das Büro mit einer Regierungsbehörde teile. Dadurch werde der Informationsaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden und der Beratungsstelle erleichtert. Beide Seiten hielten monatliche Treffen ab, um über konkrete Fälle sowie die allgemeine Situation zu sprechen.
- Anonymisieren Sie Informationen über konkrete Fälle: Um zu vermeiden, dass sensible persönliche Daten weitergegeben werden, können die Beteiligten beschließen, Fälle in anonymisierter Form zu besprechen. Dies kann sich jedoch als unmöglich erweisen, wenn der Fall bereits öffentlich bekannt ist und in den Medien thematisiert wurde.
- Erklären Sie dem Klienten, warum es wichtig ist, Informationen weiterzugeben: Ein deutscher wissenschaftlicher Mitarbeiter einer zivilgesellschaftlichen Beratungsstelle sagte, er empfinde es als hilfreich, dem Klienten klar zu vermitteln, was das Ziel von Datenschutz sei und warum es dennoch wichtig sein könne, Informationen an andere weiterzugeben.
- Gehen Sie offen mit den Spannungen zwischen polizeilichen und nicht-polizeilichen Partnern um und entschärfen Sie sie durch klare Vereinbarungen: Ein Teilnehmer sagte, es sei wichtig, einen Ort zur Verfügung zu stellen, an dem Treffen ohne Beteiligung von Sicherheitsakteuren stattfinden können. Diese sollten aber kein negatives Image erhalten, damit man sie bei Bedarf zu einem späteren Zeitpunkt in die Diskussion einbeziehen könne.
Individuelle oder strukturelle Zusammenarbeit
Die Workshop-Teilnehmenden diskutierten auch die Vor- und Nachteile von struktureller Multi-Agency-Kooperation im Vergleich zu Ad-hoc-Kooperationen im Einzelfall. Strukturelle Kooperation eigne sich, um jeden Tag unterschiedliche Perspektive zusammenzuführen. Ad-Hoc-Treffen könnten aber für die Arbeit auf Einzelfallbasis ausreichend sein.
- Gestalten Sie die Zusammenarbeit nach Bedürfnissen: Ein Teilnehmer berichtete, er habe es als nützlich empfunden, manche Fälle mit Psychologen oder Angestellten eines Jugendamtes zu besprechen. Ein anderer Teilnehmer sagte, er habe gute Erfahrungen mit einem „System der Ebenen“ gemacht, was bedeute, dass die Sicherheitsbehörden erst auf der letzten Ebene und nur im Falle von Sicherheitsproblemen einbezogen würden.
- Fördern Sie gute Beispiele und den Peer-to-Peer-Austausch: Ein Vertreter der deutschen Gesundheitsbehörden sprach sich dafür aus, Aspekte der Tertiärprävention auch zwischen Gesundheitsämtern und Jugendämtern zu besprechen. Es würden mehr Beispiele bewährter Praktiken gebraucht, um zu zeigen, wie die Zusammenarbeit aussehen könne. So fördere das BAMF eine Clearingstelle, die lokale Beratungsstellen und Jugendämter zum Austausch von Fachwissen und Informationen ermutigen solle. Auch Strukturen wie InFoEx wurden als gute Praktik genannt, da sie es ermöglichen, verschiedene Akteure zusammenzubringen und ihre Neugierde auf eine engere Zusammenarbeit zu wecken.
- Erwägen Sie die Trennung von strategischen und operativen Aufgaben: In etablierten Multi-Agency-Strukturen hat es sich als hilfreich erwiesen, wenn manche Akteure auf strategische Aspekte eingehen, um zum Beispiel einen Überblick über lokale Trends zu erhalten, während andere Akteure operative Aufgaben wahrnehmen. In Belgien zum Beispiel werden die meisten Multi-Agency-Workings von Bürgermeistern geleitet. In der Praxis ist er oder sie nicht an der Diskussion der Fälle auf operativer, sondern nur auf strategischer Ebene beteiligt (siehe S.15).
- Fördern Sie die Bildung von Netzwerken und das Peer-to-Peer-Lernen: Mehrere Teilnehmer wiesen auf die Notwendigkeit hin, Möglichkeiten zur Vernetzung und zum Peer-to-Peer-Lernen auf lokaler und kommunaler Ebene zu schaffen, beispielsweise indem Jugendämter vernetzt werden, um sich über bewährte Praktiken auszutauschen. Die Teilnehmenden sagten, dass generell mehr lokale Netzwerke benötigt würden, um geeignete Partner in staatlichen Strukturen zu identifizieren und Kooperationen zu begründen, zum Beispiel in Bezug auf Rückkehrer.
Vertrauen schaffen
Als weitere Herausforderung wurde fehlendes Vertrauen zwischen verschiedenen Akteuren sowie unterschiedliche Institutionskulturen genannt. Ein Teilnehmer argumentierte, Vertrauen hänge von kulturellen Merkmalen ab, zum Beispiel davon, wie man die Polizei und andere staatliche Vertreter wahrnehme. Eine Vertreterin eines deutschen Landesjustizministeriums ergänzte, dass auch die Zusammenarbeit mit Beamten des Strafvollzugs besondere Herausforderungen aufwerfen könne. Zivilgesellschaftliche Akteure hätten möglicherweise Schwierigkeiten, Zugang zu diesem geschlossenen System zu erhalten. Ein deutscher wissenschaftlicher Mitarbeiter einer zivilgesellschaftlichen Beratungsstelle sagte, starre Hierarchien und organisatorische Identitäten könnten die Zusammenarbeit generell behindern. In Bezug auf Deutschland wurde auch auf die institutionellen Herausforderungen in der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern verwiesen. Teilnehmende berichteten über die folgenden bewährten Praktiken, um diese Herausforderungen zu bewältigen:
- Unterstützen Sie Maßnahmen zur Vertrauensbildung: Vertrauen lässt sich am besten in der Zusammenarbeit herstellen. Zum Beispiel arbeiten die Mitarbeitenden der niederländischen „Safety Houses“ seit etwa 2013 zusammen. Der Prozess der Vertrauensbildung kann jedoch auch durch andere Mittel unterstützt werden. Wie ein Teilnehmer erklärte, verlangt beispielsweise eine deutsche Multi-Agentur-Struktur von allen externen Mitarbeitenden eine Sicherheitsüberprüfung. Es wurden auch detaillierte Vereinbarungen erstellt, die Details über die Bedürfnisse jedes Akteurs enthalten.
- Entscheiden Sie sich für einen neutralen Akteur oder Vermittler: Einer Beobachtung zufolge wurde der VVSG in Belgien, der als Dachorganisation für die zivile Verwaltung und die Polizei dient, als vertrauenswürdiger Akteur wahrgenommen. In Deutschland sei die BAMF-Beratungsstelle in der Lage, zwischen Zivilgesellschaft und Sicherheitsakteuren zu vermitteln. Generell könnten staatliche Akteure außerhalb der Sicherheitsbehörden ein gutes Standing als Vermittler haben. Auch die „Safety Houses“ in den Niederlanden wurden als neutrale Räume angesehen.
- Sorgen Sie für Kontinuität: In Frankreich arbeiteten einige Akteure in einer Gemeinde bereits mehr als zehn Jahre lang im Bereich der Kriminalitätsprävention zusammen, bevor sie sich mit Problemen der Radikalisierung befassten. Sie besaßen daher schon eine klare Struktur und ein Regelwerk, was zu einer guten Partnerschaft führte. Als weitere bewährte Praktik wurde die Benennung von Stellvertretern genannt, so dass der Kontakt zu einer Institution auch dann aufrechterhalten und die Kontinuität gesichert werden kann, wenn die verantwortliche Person krank ist oder die Stelle verlässt.
- Stärken Sie den Sinn für Verantwortung: Ein deutscher Behördenvertreter sagte, seine Erfahrung zeige, dass bei Akteuren, die sich verantwortlich fühlten und auch so handelten, mit der Zeit das Vertrauen wachse und sich die Zusammenarbeit auf lokaler und subnationaler Ebene verbessere.
- Sorgen Sie dafür, dass auch zwischen mehreren Akteuren Vertrauen hergestellt wird: Mehrere Teilnehmende waren sich einig, was die zentrale Bedeutung von Vertrauen betrifft. Sie alle sagten aber auch, dass dessen Aufbau eine Zusammenarbeit über einen längeren Zeitraum erfordert. Eine vertrauensbildende Übung oder ein Training mit mehreren Akteuren könne das Verständnis für die Bedürfnisse und Schwierigkeiten der anderen verbessern, Interesse wecken und helfen, Erwartungen zu steuern. Praktiker aus verschiedenen Institutionen, die unter normalen Umständen nur während einer akuten Krise miteinander sprechen, würden von einem sicheren Raum profitieren, in dem sie sich ohne Zeitdruck kennenlernen können.
- Bieten Sie Job-Hopping und Work-Shadowing an: Eine Behördenvertreterin wies darauf hin, dass viele staatliche Bedienstete ihre Arbeit schon sehr lange tun. Es wäre von Vorteil, Mitarbeitenden aus anderen Sektoren zu gewinnen, die neue Perspektiven einbringen und die Zusammenarbeit zwischen Regierungsbehörden und der Zivilgesellschaft verbessern können. Ein Vorschlag war, Job-Hopping-Formate zu etablieren: Regierungsmitarbeitende würden einen Monat lang bei einer NGO arbeiten, während Mitarbeitende der Zivilgesellschaft (mit Sicherheitsfreigabe) für eine begrenzte Zeit in die Arbeit öffentlicher Dienststellen hineinschnuppern würden. Natürlich eignet sich nicht jede Institution für ein solches Format.
Zusammenarbeit mit religiösen Einrichtungen
Teilnehmende aus mehreren Ländern berichteten von Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit religiösen Einrichtungen. Staatliche oder nichtstaatliche Institutionen müssten entscheiden, wie sie eine solche Zusammenarbeit organisieren wollten und welche Rolle ihnen in der Tertiärprävention zukommen solle. In einem deutschen Bundesland wurde die Zusammenarbeit mit religiösen Organisationen als eines der kritischsten Themen für staatliche Akteure in der Arbeit der Tertiärprävention genannt. Ein niederländischer Behördenvertreter sagte, in seinem Land sei noch keine wirkliche Zusammenarbeit zustande gekommen. Einer der Gründe sei die Auseinandersetzung um die Finanzierung von Moscheen durch ausländische, undemokratische Länder. In Frankreich hätten die Moscheevereine nach Angaben eines Behördenvertreters Angst, für die Radikalisierung von Extremisten verantwortlich gemacht zu werden. Von den Workshop-Teilnehmenden wurde es als wichtig erachtet, dass Imame sowohl einen Hintergrund in islamischer Theologie als auch in Sozialarbeit haben, um für den Umgang mit Radikalisierung kompetent zu sein – dieses Profil sei aber schwer zu finden. Ein Sozialarbeiter betonte gleichzeitig, es gehe bei den Schwierigkeiten nicht um Religion.
- Organisieren Sie gemeinsame Schulungen für die Akteure: Das „Hybrid Training with Religious Community Leaders“ (FHAR) an der Universität von Straßburg in Frankreich wurde als gute Praktik erwähnt (Europäische Kommission 2021b). Seit etwa 2015 bringt FHAR Sozialarbeiter und religiöse Akteure zusammen, um gemeinsam neue Formen von Trainings zu entwickeln. Dahinter stehen zwei Überlegungen: Beobachtungen zeigen, dass sowohl soziale als auch religiöse Akteure auf tieferer Ebene mit Klienten arbeiten wollen. Außerdem baut FHAR auf der Arbeitshypothese auf, dass es für Präventionsbemühungen hilfreich sein kann, sozialpädagogische Praktiken zu kombinieren.
- Konzentrieren Sie sich auf die lokale Ebene: Da sich Radikalisierung vor Ort vollziehe, so ein Teilnehmer, müsse Präventionsarbeit die lokale Zivilgesellschaft einbeziehen und Verbindungen zu regionalen Strukturen schaffen.
Herausfordernde Zielgruppen
Schließlich berichteten die Teilnehmenden, dass es zu zusätzlichen Schwierigkeiten kommen kann, weil Menschen Angst vor der Zielgruppe haben oder sie nicht verstehen. Nach Angaben eines deutschen Behördenvertreters haben beispielsweise manche Mitarbeiter im Gesundheitssektor Angst vor Rückkehrenden aus dem sogenannten Islamischen Staat in Syrien und Irak (IS). Da solche Ängste daraus resultieren können, dass es den Mitarbeitenden an Wissen über die Arbeit mit dieser Zielgruppe mangelt, könnte sich eine engere Verbindung zwischen Beratenden und den Beschäftigten im Gesundheitswesen als hilfreich erweisen. Hinzu kommt, dass der Umgang mit extremistischen Straftätern ein sehr sensibler Bereich sei; behördliche und zivilgesellschaftliche Akteure bräuchten einen effektiven Informationsaustausch, um rechtzeitig auf beobachtete Veränderungen reagieren zu können. Wenn relevante Informationen nicht geteilt würden – was oft am Fehlen einer Rechtsgrundlage für den Informationsaustausch liege – könnten Extremisten die Akteure gegeneinander ausspielen. Auch könnten unvollständige Informationen zu einer falschen Einschätzung des Radikalisierungsgrades und des potenziellen Sicherheitsrisikos führen. Bei Personen mit multiplen Problemen sei außerdem das Etikett „radikalisiert“ nicht zielführend, da es andere Probleme überdecken und eine angemessene Behandlung verhindern könnte.
- Richten Sie berufsgruppenübergreifende Arbeitsgruppen ein: Ein Teilnehmer sagte, es gebe erste Bemühungen, berufsgruppenübergreifende Arbeitsgruppen für den Umgang mit IS-Rückkehrenden in Deutschland einzurichten. Es sei noch zu früh, um dies als gute Praxis zu empfehlen, aber es sei klar, dass diese Art der Zusammenarbeit sowohl auf struktureller als auch auf inhaltlicher Ebene gestärkt werden sollte, einschließlich beispielsweise des Gesundheitssektors, da sie großes Potenzial habe.
- Unterstützen Sie den Aufbau neuer Kompetenzen: Mitarbeitende von Regelstrukturen wie pädagogischen Institutionen, Jugend- und Sozialämtern und Kinderschutzdiensten haben generell einen großen Bedarf, mehr über Radikalisierung und den Umgang mit gefährdeten Jugendlichen im Kontext von islamistischem und anderem Extremismus zu lernen. Für den Gesundheitsbereich beispielsweise sei der Umgang mit Radikalisierung grundsätzlich „Neuland“. Weitere wichtige Themen seien die Stärkung der interkulturellen Kompetenz und die Auseinandersetzung mit Islamophobie und Rassismus.
- Sprechen Sie Ihre Zielgruppen an: Die Teilnehmenden betonten die Notwendigkeit, potenzielle Klienten auf die Angebote der Tertiärprävention aufmerksam zu machen. Gleichzeitig wurde erwähnt, dass die Arbeitsbelastung von Beschäftigten in der Sozialarbeit, in der Schule und im Gesundheitswesen bereits sehr hoch ist. Es bedürfe zusätzlicher Anreize, um sie zu ermutigen, auf die Zielgruppen zuzugehen und sich in der Prävention engagieren zu wollen.
Forschung und Evaluierung
Die Teilnehmenden waren sich einig, dass es der Tertiärprävention nutzt, wenn Akteure unterschiedliche Perspektiven einbringen. Deren Bedürfnisse müssten jedoch genau analysiert werden, um effektive Formate entwickeln zu können. Dazu gab es die folgenden Empfehlungen:
- Verbessern Sie die Wissensgrundlage: Eine Teilnehmerin sagte, es würden mehr Daten zu Fragen der psychischen Gesundheit benötigt, zum Beispiel in Bezug auf relevante Krankheitsbilder. Es sei wünschenswert, dass Akteure der (forensischen) Psychiatrie eine bessere Datengrundlage schafften. Weiterer Forschungsbedarf bestehe in Bezug auf die Entwicklung von Kindern in salafistischen Familienstrukturen.
- Sorgen Sie für gutes Datenmanagement: Die Teilnehmenden sprachen über die Notwendigkeit, die Dokumentation von Fällen und den Austausch von Informationen besser zu organisieren, nicht nur, um die Zusammenarbeit effektiver zu gestalten, sondern auch zu Evaluationszwecken. Multi-Agency-Kooperationen sollten evaluiert werden, um Strukturen weiterzuentwickeln.
- Etablieren Sie eine „Fehlerkultur“: Eine Teilnehmerin aus einer zivilgesellschaftlichen Einrichtung betonte die Notwendigkeit, offen über Fehler zu sprechen. In Berichten werde oft zu viel über Erfolge geschrieben, um die weitere Finanzierung zu sichern. Eine Kultur, die dazu ermutige, mit Fehlern umzugehen und aus ihnen zu lernen – zum Beispiel, was zu tun ist, wenn etwas schiefläuft – führe zu viel besseren Ergebnissen.
- Reflektieren Sie Ihre Erfahrungen: Eine Teilnehmerin berichtete, sie habe sich während der Sitzungen keine Notizen gemacht, weil der Stress zu groß gewesen sei. Erst später sei ihr klar geworden, dass Notizen ihr geholfen hätten, ihre Erfahrungen zu reflektieren und ihre eigenen Erwartungen zu überprüfen.
Bewährte Praktiken übertragen
Teilnehmende verschiedener Nationalitäten und institutioneller Hintergründe betonen, wie wertvoll der Blick auf andere Länder ist, um von deren Erfahrungen in der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Institutionen, insbesondere mit Regelstrukturen zu lernen. Die Übertragung von bewährten Praktiken in einen anderen Kontext kann jedoch schwierig sein, insbesondere bei Unterschieden im institutionellen Aufbau oder der Gesetzgebung. Ein behördlicher Teilnehmer betonte, es sei wichtig, mehrere Einrichtungen zu besuchen und ihre Ansätze zu vergleichen, bevor man eine bewährte Praktik mit aller Sorgfalt an einen anderen lokalen Kontext anpasse. Jüngste Untersuchungen in den nordischen Ländern lassen ebenfalls vermuten, dass es viele Gemeinsamkeiten geben muss, damit ein Transfer von bewährten Praktiken gelingen kann.
“Copy and Paste” von bewährten Praktiken? Voraussetzungen für eine erfolgreiche Multi-Agency-Zusammenarbeit gegen gewaltbereitem Extremismus
von Tore Bjørgo, Direktor des Center for Research on Extremism (C-REX), Professor an der Universität Oslo und der norwegischen Polizeihochschule, Leiter des HEX-NA-Projekts.
Multi-Agency-Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Prävention von gewalttätigem Extremismus umfasst mindestens zwei Dimensionen: 1) die Koordination zwischen den Akteuren bzw. Behörden bei Aktionsplänen und Interventionen auf nationaler und lokaler Ebene sowie auf strategischer und operativer Ebene und 2) den Informationsaustausch zwischen Behörden und Praktikern über problematische Themen und Herausforderungen sowie über gefährdete Personen.
Inwieweit kann eine erfolgreiche Praktik der Multi-Agency-Zusammenarbeit kopiert und in einem anderen Umfeld eingesetzt werden? Oder, anders gefragt, welche Bedingungen müssen vergleichbar sein, damit der Transfer einer guten Praktik erfolgreich ist? Dies sind einige der Fragen, die wir in einem laufenden Forschungsprojekt mit dem Titel „Nordic Multi-Agency Approaches to Handling Extremism: Policies, Perceptions and Practices (HEX-NA)“ gestellt haben. Das Projekt hat das übergeordnete Ziel, die Unterschiede zwischen den Institutionen der nordischen Länder und ihren Ansätzen zur Bekämpfung von gewaltbereitem Extremismus zu vergleichen und die Voraussetzungen für erfolgreiche Multi-Agency-Zusammenarbeit zu erforschen, und zwar mit Hilfe von drei Teilprojekten: Politiken bzw. Policies (ein länderübergreifender Vergleich der rechtlichen Rahmenbedingungen und institutionellen Strukturen); Wahrnehmungen (ein länder- und berufsgruppenübergreifender Vergleich der Wahrnehmungen von Stakeholdern und der Öffentlichkeit, bei dem es um Vertrauensbildung und die Bereitschaft zur Weitergabe sensibler Informationen geht) sowie Praktiken (länder- und städteübergreifender Vergleich der Praktiken und der Umsetzung). Bislang wurde nur das Teilprojekt Politiken abgeschlossen und der entsprechende Bericht veröffentlicht (Sivenbring & Malmros 2019). Einige wesentliche Ergebnisse sind:
- Die Politiken in den nordischen Ländern unterscheiden sich stärker voneinander als erwartet.
- Die behördenübergreifende Zusammenarbeit ist in Dänemark und Norwegen weitaus stärker entwickelt, umfangreicher und stärker institutionalisiert als in Finnland. In Schweden ist sie es am wenigsten.
- Die Polizei ist in Schweden weniger in die behördenübergreifende Zusammenarbeit eingebunden als in den anderen nordischen Ländern.
Wie lassen sich diese Unterschiede erklären? Die nordischen Länder haben sehr unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen für behördenübergreifende Zusammenarbeit und Informationsaustausch. In Dänemark erlaubt (und regelt) die Gesetzgebung den Austausch sensibler personenbezogener Daten zur Kriminalprävention zwischen den Behörden. In den übrigen nordischen Ländern sind die Bestimmungen zum Umgang mit vertraulichen Daten restriktiver. Die Polizeigesetze in Dänemark und Norwegen sind stärker auf Prävention und die Zusammenarbeit mit anderen Behörden ausgerichtet. Daher wird die Polizei dort eher proaktiv und vorbeugend tätig als in Schweden und Finnland, wo der Stil der Polizeiarbeit eher reaktiv ist.
Es gibt auch Unterschiede in den Organisationsmodellen für die behördenübergreifende Zusammenarbeit. Das SSP-Modell für die Zusammenarbeit zwischen Schule, Sozialdienst und Polizei, das ursprünglich Mitte der 1970er Jahre in Dänemark entwickelt wurde, ist in den nordischen Ländern auf recht unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Maße umgesetzt worden. Dänemark hat das SSP-Modell in allen Gemeinden implementiert, und es bildet auch den Kern des sogenannten Infohouse-Modells, das später für den Umgang mit gewalttätigem Extremismus eingeführt wurde. Norwegens Variante des Modells (SLT) wurde in etwa der Hälfte der Kommunen umgesetzt. Finnland hat kürzlich ein ähnliches Modell eingeführt (Anker). Die Polizei ist in Dänemark federführend bei der behördenübergreifenden Zusammenarbeit und spielt auch in Norwegen und Finnland eine wichtige Rolle. In Schweden wird die Polizei dagegen nicht so eng in die Zusammenarbeit eingebunden, da angenommen wird, dass es das Vertrauen in Lehrer und Sozialarbeiter untergräbt, wenn sie Informationen mit der Polizei teilen oder mit der Polizei zusammenarbeiten. Folglich ist der SSP-Ansatz in Schweden am wenigsten entwickelt. Unterschiedliche Berufskulturen sind ebenfalls von Bedeutung.
Bewährte Praktiken der behördenübergreifenden Zusammenarbeit erfordern einige Grundvoraussetzungen:
- Eine Gesetzgebung, die Partnerschaft und Informationsaustausch erleichtert
- Ein hohes Maß an Vertrauen der Bevölkerung und relevanter Minderheiten in die öffentlichen Institutionen
- Ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Praktikern in den relevanten Behörden
Auf der Basis dieser Erkenntnisse sowie ähnlicher Erfahrungen, über die andere Teilnehmer berichteten, wurde über die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Transfer von bewährten Praktiken diskutiert. Es ging um die Frage, ob vergleichbare Bedingungen oder „Matching“-Kriterien festgestellt werden müssen. Einige Teilnehmenden meinten, es könne hilfreich sein, in Betracht zu ziehen, welche Länder und Bereiche tatsächlich vergleichbare Bedingungen aufweisen.
Multi-Agency-Zusammenarbeit in der Praxis
Wenn es gelingt, diese Herausforderungen zu bewältigen und einige der bewährten Praktiken im jeweiligen lokalen Kontext umzusetzen, kann das zu einer besseren Zusammenarbeit mit den Regelstrukturen beitragen und eine effektivere und nachhaltigere Arbeit im Bereich der Tertiärprävention ermöglichen. Die folgenden drei Beispiele zeigen, wie die Zusammenarbeit mit verschiedenen staatlichen Strukturen in der Praxis umgesetzt werden kann.
VVSG: ein vertrauensstiftender Dachverband in Belgien
Das EU-geförderte Projekt EMMA dient der Entwicklung gemeinsamer Standards für Multi-Agency-Workings in Deutschland, den Niederlanden und Belgien und dem Aufbau nationaler Peer-to-Peer-Netzwerke. In Belgien wird es von der VVSG geleitet, einer Dachorganisation, die auch die Polizei umfasst (in Belgien bekleidet der Bürgermeister stets auch das Amt des örtlichen Polizeichefs) und als Brücke und Vermittler zwischen politischen, polizeilichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren fungiert. Da die lokalen Behörden in allen Regionen und Gemeinden in Belgien seit 2018 durch ein Bundesgesetz dazu verpflichtet sind, Multi-Agency-Workings zu etablieren, gibt es auf lokaler Ebene zentrale Koordinationseinheiten für die (Tertiär-)Prävention von Extremismus (die sogenannten LIVC-R-Einheiten). Diese Einheiten befassen sich mit Präventionsfällen im Frühstadium, d.h. die Polizei wird nur dann einbezogen, wenn es sich um potenziell gewaltbereite Extremisten handelt. Das Projekt beinhaltet eine von der Universität Genf durchgeführte Prozessevaluation mit dem Ziel, ein Selbstevaluierungsinstrument zu entwickeln, das eine Selbstlerndimension beinhaltet und sich an unterschiedliche Praktiken anpassen kann.
Nach Einschätzung eines Teilnehmers zeigt die belgische Erfahrung, dass Multi-Agency-Workings ein robustes Mandat brauchen, um effektiv zu arbeiten. Sie sollten in den Mittelpunkt der Präventionsarbeit gestellt werden und eine klare rechtliche Grundlage für ihre Rolle und Ziele haben. In Belgien waren beispielsweise die Aktionspläne der einzelnen Städte öffentlich zugänglich. Ein weiterer Vorteil des belgischen Systems sei, dass die Multi-Agentur-Workings kommunale Einheiten sind, die gesetzlich geregelt und somit nachhaltig sind. Dennoch blieben einige Herausforderungen bestehen: Die Rolle des Koordinators sei nicht klar definiert und beinhalte zu viele Verantwortlichkeiten.
NeDiS: ein Netzwerk für den Strafvollzug in Deutschland
Die Verwaltungseinheit NeDiS (Netzwerk zur Deradikalisierung im Strafvollzug) wurde 2016 gegründet und wird vom Hessischen Ministerium der Justiz geleitet. Sie ist bisher die einzige vergleichbare Einheit in Deutschland (DPT o.J.). Das NeDiS-Konzept umfasst vier Säulen: Identifizierung, Prävention, Deradikalisierung und Koordination. Dabei werden verschiedene Kompetenzen gebündelt, u.a. Islamwissenschaft, Psychologie, Recht und Verwaltung. Ziel ist es, extremistische Anwerbeversuche in den hessischen Justizvollzugsanstalten zu verhindern und Ausstieg und Deradikalisierung zu unterstützen. Dazu gehören Hilfe bei der Aufnahme oder Fortsetzung einer Ausbildung, Schuldner- oder Drogenberatung sowie die Vermittlung von demokratischen Werten und Medienkompetenz. Die eigentliche Ausstiegsarbeit übernimmt die zivilgesellschaftliche Organisation Violence Prevention Network (VPN), da sie für den Umgang mit Radikalisierung besser geeignet ist und ihre Mitarbeitenden leichter das Vertrauen der Klienten zu gewinnen können als Beschäftigte der Justizvollzugsanstalten. VPN arbeitet eng mit den Sicherheitsbehörden zusammen und hat Zugang zum Hessischen Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus, das im Hessischen Innenministerium angesiedelt ist. Die Mitarbeitende von VPN haben einen Arbeitsvertrag, der datenschutzrechtliche Bestimmungen enthält und eine Überprüfung der Mitarbeitenden auf Zuverlässigkeit und Sicherheit vorsieht, was eine Vertrauensbasis herstellt. VPN und die Sicherheitsbehörden tauschen sich in Berichten und Fallkonferenzen über den Verlauf der Fälle aus. Über Klienten, die nach ihrer Entlassung voraussichtlich überwacht werden müssen, wird regelmäßig gesprochen. Dazu gehört ein Treffen, das drei Monate vor der Entlassung angesetzt wird.
Das Safety House: ein ganzheitlicher Ansatz in den Niederlanden
Im Rahmen eines ganzheitlichen Multi-Agency-Ansatzes zur Extremismusprävention in den Niederlanden wurden die so genannten „Safety Houses“ als neutrale Orte konzipiert, die in verschiedenen Gemeinden angesiedelt sind und von der niederländischen Regierung finanziert werden. Wenn ein Fall von möglicher Radikalisierung bei der Gemeinde oder der Polizei gemeldet wird und sich die Bedenken als berechtigt erweisen, wird der Fall an das örtliche Safety House weitergeleitet. Je nach Fall und erforderlicher Expertise wird entschieden, wer herangezogen wird. Lehrer, Bewährungshelfer oder Polizeibeamte, psychiatrisches Personal oder Jugendarbeiter arbeiten dann gemeinsam an dem Fall und entwickeln einen Plan, wie der betroffenen Person geholfen werden kann. Die Interventionen können Unterstützung bei der finanziellen Situation, der Familiensituation, der psychischen Gesundheit oder der Ideologie beinhalten. Das Safety House erfasst auch relevante Daten wie grundlegende persönliche Informationen und überwacht die Intervention. Alle sechs Wochen treffen sich Vertreter der beteiligten Gemeinden, um Informationen auszutauschen, neue Regelungen und Trends zu diskutieren und ihre Erfahrungen darüber zu teilen, was funktioniert und was nicht.
Sobald ein Fall vom Safety House aufgegriffen wird, erhält die betroffene Person einen Brief mit einer Erklärung und wird darauf hingewiesen, dass sie das Recht hat, ihre Akte einzusehen. Wenn die Person dieses Angebot annimmt, bespricht das Safety House den Fall mit ihm oder ihr und nimmt weitere Informationen auf, die den internen Regeln folgend auch innerhalb des Safety House weitergegeben werden dürfen. Insgesamt gelten jedoch enge datenschutzrechtliche Grenzen, da die konkreten Datenschutzbestimmungen für die Arbeit der Safety Houses noch nicht verabschiedet worden sind. Auch die Beschaffung von Informationen von anderen Akteuren ist schwierig. Die Gemeinden sind unsicher, was sie an andere Institutionen weitergeben dürfen, und die Polizei ist auf das beschränkt, was im Rahmen einer Vertraulichkeitsvereinbarung mit dem Safety House vereinbart wurde. Eine Teilnehmerin schilderte die Situation dennoch mit folgenden Worten: „Wir wissen, dass wenn wir Informationen wirklich brauchen, wir sie auch bekommen.“
Fazit
In der Tertiärprävention von islamistischem Extremismus und Terrorismus werden nicht nur spezifische zivilgesellschaftliche und staatliche Aussteigerprogramme und Sicherheitsbehörden benötigt, um ein effektives Fallmanagement zu leisten. Auch eine Reihe weiterer Einrichtungen und Akteure aus dem Sozial-, Bildungs-, Justiz- und Gesundheitsbereich spielen in der Ausstiegs- und Deradikalisierungsarbeit eine wichtige Rolle.
Auf dem InFoEx-Workshop betonten Praktiker, Wissenschaftler und Behördenvertreter aus mehreren europäischen Ländern, wie wichtig ein ganzheitlicher Ansatz für die Tertiärprävention ist. Dennoch zeigen ihre Erfahrungen, dass die Multi-Agency-Zusammenarbeit – ob ad-hoc oder in einem Multi-Agency-Rahmen wie dem dänischen Infohouse – erhebliche Hürden überwinden muss. Damit das gelingen kann, ist es hilfreich, wenn die Akteure akzeptieren, dass es Unterschiede zwischen ihnen gibt. Sie sollten auf eine klare Definition und ein klares Verständnis der verschiedenen Rollen und Ziele hinwirken, zum Beispiel durch die gemeinsame Erarbeitung von Arbeitsdefinitionen. Gute Erfahrungen wurden auch mit der Entwicklung gemeinsamer Handreichungen gemacht, um die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch zu regeln. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, den Aufbau von Multi-Agency-Strukturen anstelle von Ad-hoc-Kooperationen zu erwägen. Bestehende und gut funktionierende Strukturen und Kooperationen sollten als gute Beispiele gefördert werden; gleichzeitig ist es wichtig, Formate für einen regelmäßigen Austausch auf Augenhöhe zu schaffen. Die Zusammenarbeit in konkreten Fällen sollte sich auf die Einbeziehung lokaler Akteure konzentrieren, es sollte aber auch einen strukturierten Austausch über Trends und strategische Entscheidungen zwischen den beteiligten Akteuren geben, wobei zwischen operativen und strategischen Aspekten unterschieden werden kann. Für staatliche Akteure ist es nötig, neue Fähigkeiten aufzubauen, die nicht nur fachliche Schulungen, sondern auch vertrauensbildende Maßnahmen umfassen. Schließlich sollte jede Zusammenarbeit auch Elemente von Monitoring und Evaluierung beinhalten.
Wenn die Rolle der Regelstrukturen in der Multi-Agency-Zusammenarbeit gestärkt wird, kann dies die Arbeit in der Tertiärprävention erheblich verbessern. Vertreter der Regelstrukturen bringen wertvolles Fachwissen über den Zugang zu Wohnraum, Bildung, (psychische) Gesundheit und soziale (Re-)Integration ein. So wie es verschiedene Push- und Pull-Faktoren gibt, die zu Radikalisierungsprozessen beitragen, können Deradikalisierungs- und Distanzierungsbemühungen erleichtert werden, wenn ein breites Spektrum wichtiger Bedürfnisse angesprochen werden kann. Indem anerkannt wird, dass es bei der (De-)Radikalisierung nicht nur um Sicherheit geht, vermeidet ein solcher Ansatz auch Stigmatisierung und bringt die Ressourcen staatlicher Institutionen zum Tragen. Durch diese Maßnahmen wird die Tertiärprävention letztlich effektiver und nachhaltiger.
ÜBER DAS PROJEKT INTERNATIONAL FORUM FOR EXPERT EXCHANGE ON COUNTERING ISLAMIST EXTREMISM (INFOEX)InFoEx ist ein Gemeinschaftsprojekt der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und des Forschungszentrums für Migration, Integration und Asyl des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF). InFoEx trägt bewährte Praktiken und wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Tertiärprävention im In- und Ausland zusammen. Ziel des Projekts ist es, empirische Befunde zu Radikalisierungs- und Deradikalisierungsprozessen zu erheben, wobei der Schwerpunkt auf der praktischen Anwendbarkeit für die Präventionsarbeit liegt. Zu diesem Zweck hat die BAMF-Forschungsstelle ein Netzwerk von wissenschaftlichen Mitarbeitenden initiiert, die bei den bzw. über die lokalen Partner-Beratungsstellen der BAMF-Beratungsstelle „Radikalisierung“ sowie bei verschiedenen Forschungseinrichtungen angestellt sind. Zusammen mit den Beratenden der lokalen Beratungsstellen bilden diese wissenschaftlichen Mitarbeitenden den Kern von InFoEx. ÜBER DEN WORKSHOP AM 30. SEPTEMBER UND 1. OKTOBER 2020Der 7. InFoEx-Workshop im Herbst 2020 befasste sich mit der Zusammenarbeit mit staatlichen Einrichtungen zur Tertiärprävention von islamistischem Extremismus. Aufgrund von Einschränkungen wegen der COVID-19-Pandemie wurde der Workshop digital organisiert. Unter den 30 Teilnehmenden waren Netzwerkpartner der BAMF-Beratungsstelle Radikalisierung aus zivilgesellschaftlichen und staatlichen Institutionen sowie Praktiker und Praktikerinnen und Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus Belgien, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und Norwegen. Um den Workshop auf die Bedürfnisse seiner Akteure abzustimmen, teilten die in Beratungsstellen und Forschungseinrichtungen in Deutschland eingebetteten wissenschaftlichen Mitarbeitenden – in Absprache mit den Beratenden in ihren lokalen Beratungsstellen – vor dem Workshop ihre spezifischen Informationsbedürfnisse und Fragen mit. Relevante externe Expertinnen und Experten wurden entsprechend eingeladen. Die Teilnehmenden hatten bei dem Workshop die Gelegenheit, ihre Erfahrungen zur Zusammenarbeit von zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteuren sowie Beispiele von bewährten Praktiken zu teilen. |