Wozu brauchen wir die Ukraine?

Bedeutung des politischen Wandels in der Ukraine für die EU und Russland

Datum
19 April 2016
Uhrzeit
-
Ort der Veranstaltung
DGAP, Berlin, Deutschland
Einladungstyp
Nur für geladene Gäste

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Wilfried Jilge, Ukraine-Experte der DGAP, verdeutlichte in seinem Vortrag, dass sich der ukrainische Reformprozess an einem Scheideweg befinde: Nach dem Ende der Majdan-Proteste und den fair und frei durchgeführten Präsidentenwahlen im Mai 2014 habe es zunächst einige gute Ergebnisse gegeben. Jedoch habe der Präsident in den letzten Monaten nicht den politischen Willen gezeigt, entscheidende Reformen in der Korruptionsbekämpfung und Justiz zu implementieren. Nicht zuletzt deswegen sei es bisher weder zu einer spürbaren Einschränkung des immer noch viel zu großen Einflusses oligarchischer Machtnetzwerke auf die ukrainische Politik noch zu einer spürbaren Stärkung des Rechtsstaates gekommen.

Jilge wies auch auf positive Tendenzen hin. So verfüge die Ukraine über eine aktive Zivilgesellschaft, die sich bereits vor den Majdan-Protesten herausgebildet und den Reformprozess kritisch und mit kompetenten Reformvorschlägen begleitet habe. Es sei vor allem den Vertretern der Zivilgesellschaft und ihrer engen Zusammenarbeit mit den westlichen Partnern (z.B. EU und IWF) zu verdanken, dass Missstände und Blockaden seitens alter Beharrungskräfte aufgedeckt worden seien und erste positive Ergebnisse vorgelegt werden konnten. Jilge nannte als Beispiele die Reform der Staatsankäufe und die Etablierung von Institutionen zur Korruptionsbekämpfung wie dem Nationalen Antikorruptionsbüro. Die Bekämpfung der Korruption – das Hauptübel in den staatlichen Institutionen der Ukraine – könne jedoch nur dann effektiv sein, wenn Regierung und Präsident wirksame und für die Öffentlichkeit sichtbare Schritte zur Gewährleistung der Unabhängigkeit der Richterschaft und zur personellen Erneuerung der Staatsanwaltschaft vollzögen. Die Reform des Gerichtswesens habe Priorität: Die Straflosigkeit korrupter Seilschaften und Oligarchen aufgrund fehlender Urteile unabhängiger Richter beschädige das Vertrauen vieler Bürger, die sich den Zielen der „Revolution der Würde“ verbunden fühlten, in Rechtsstaat und Demokratie. Die zivilgesellschaftliche Dachorganisation „Reanimationspaket für Reformen“ (RPR) habe wichtige Vorschläge erarbeitet, die zügig umgesetzt werden müssten und den europäischen Partnern als Orientierungsmuster dienen sollten. So habe RPR Mechanismen erarbeitet, die im Zuge eines Umbaus der Gerichte eine unabhängige Prüfung der Richter und personelle Neubesetzung der Gerichte auf transparenter und wettbewerblicher Basis sowie unter breiter Einbeziehung der Zivilgesellschaft ermöglichten.

Schließlich sollte die EU, so Jilge, auch Konzepte der Kiewer Renaissance-Stiftung aufgreifen, die für eine Übergangszeit Hybridgerichte zur Behandlung und Aburteilung schwerer Menschenrechtsverletzungen und besonders schwerer Korruptionsfälle vorschlagen. In diesen Gerichten könnten erfahrene und anerkannte Richter, Strafverfolger, Rechtsanwälte aus der EU und anderen westlichen Partnerländern vertreten sein. Solche Gerichte könnten der ukrainischen Öffentlichkeit deutlich machen, dass keine Straflosigkeit geduldet wird und damit wichtige Signale an die Richterschaft als Ganzes aussenden. Es sei unverzichtbar, so Jilge, dass die EU im Schlüsselbereich Justiz den reformbereiten Kräften in Politik und Zivilgesellschaft mit einem starken Mandat, das sich nicht in Beratung und technischer Unterstützung erschöpfen dürfe, aktiv zur Seite stünde.

Dr. Stefan Meister, Programmleiter Osteuropa, Russland und Zentralasien am Robert Bosch-Zentrum der DGAP, ergänzte, dass ein von der EU nachhaltig unterstützter gesellschaftlicher Wandlungsprozess in der Ukraine auch Ausstrahlungskraft auf Russland haben könnte, im Sinne der Entwicklung zu einem demokratischen und berechenbaren Partner. Es sollte im Eigeninteresse der EU-Mitgliedstaaten liegen, so Meister, den Anspruch zu haben, die postsowjetischen Staaten mit Blick auf Normen und Standards zu beeinflussen. Würden sie dies nicht tun, würden andere Staaten diese Nachbarschaft in ihrem Sinne entwickeln, was nicht unbedingt zu mehr Stabilität, Sicherheit und Prosperität führen würde.

Dr. Gereon Schuch, Leiter des Robert Bosch-Zentrums, moderierte die Diskussion.

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