Die „Russische Welt“

Zur Genese eines geopolitischen Konzepts und seinen Auswirkungen auf die Ukraine

Datum
03 Mai 2016
Uhrzeit
-
Ort der Veranstaltung
DGAP, Berlin, Deutschland
Einladungstyp
Nur für geladene Gäste

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Der russische Präsident Wladimir Putin hat die Annexion der Krim mit zentralen Elementen des Konzepts der „Russischen Welt“ (Russkij Mir, kurz: RM) gerechtfertigt. Er sprach von den Russen als „geteiltem Volk“ und hob das „Streben der Russischen Welt, des historischen Russland nach Wiederherstellung der Einheit“ hervor. Dabei betonte er die Existenz einer „großen russischen Zivilisation“, die es nach außen (vor allem vor dem Westen) zu schützen gelte und die er als Interessenssphäre Russlands definierte.

Bewusste Entwicklung seit Ende der 1990er-Jahre

Putins intensive Nutzung der Idee der RM im Jahr 2014 war laut Wilfried Jilge keineswegs nur eine vorübergehende Erscheinung der Russland-Ukraine-Krise. Das Konzept der „Russischen Welt“ wurde bereits zwischen 1995 und 2000 von kremlnahen Intellektuellen, Wissenschaftlern und Publizisten entwickelt, 2001 öffentlich von Präsident Putin in den politischen Diskurs eingeführt und in der Folgezeit von kremlnahen Polittechnologen in seinen ideologischen, identitätspolitischen und geopolitischen Dimensionen systematisch zu einem innen- und außenpolitischen Legitimationskonzept zusammengefügt. Mit der Gründung der gleichnamigen Stiftung „Russkij Mir“ war der Begriff in den öffentlichen Debatten Russlands weitgehend etabliert. Vordergründig diente die RM-Stiftung mit ihren Kulturzentren im Ausland der Popularisierung russischer Sprache und Kultur und dem kulturellen Dialog mit dem Ausland und schien die Basis einer auswärtigen Kulturpolitik Russlands zu bilden.

Ein „diasporales Imperium“ 

Tatsächlich jedoch, so Jilge, förderte die Stiftung nach ihrer Gründung die Konzeptualisierung der RM als einer national-kulturell definierten „vorgestellten Gemeinschaft“ von Russen in Russland und „russischsprachigen Landsleuten“ im Ausland, die bewusst staatliche Grenzen relativierte und insbesondere in Staaten des „nahen Auslands“ eine Schutzfunktion der Russischen Föderation gegenüber ihren russischsprachigen Landsleuten begründen sollte. Die RM als eine  zivilisatorische und vom „Westen“ abgegrenzte Variante des russischen Nationalismus basierte zwar nicht primär auf ethnischer Abstammung, beruhte aber auf einer essentialistischen mythischen Überhöhung russischer Sprache und Kultur. Dabei wurde, so Jilge, „Russisch sprechen“ meist mit „russisch handeln“ und „russisch denken“ gleichgesetzt, was mit national exklusiven Tendenzen einherging. Geopolitisch wurde die RM als ein russisches „diasporales Imperium“ imaginiert, wobei  den „russischen Enklaven“im europäischen „nahen Ausland“ in der Ukraine und der Republik Moldau stets eine besondere Bedeutung beigemessen wurde (z.B. Krim, Donbass, Transnistrien).

„Neurussland“ 

Nach Jilge war und ist die Idee der RM eher orthodox-neoslavophil eingefärbt und weist durchaus Unterschiede zum „Neoeurasismus“ auf. Dazu trage sicher die Tatsache bei, dass sich die Russische Orthodoxe Kirche in Kooperation mit der Staatsführung als wichtiger Ideologiespender der RM etabliert habe und – ausgehend von der Idee der „Heiligen Rus‘“  – den Schwerpunkt der RM auf die orthodox-ostslawische Sakralgemeinschaft von Russen, Ukrainern und Belorussen lege. Dabei werde bewusst der Eindruck erweckt, dass Russen und Ukrainer im Grunde ein Volk seien, die Ukrainer also keine wirklich eigenständige Nation bildeten. Mit vom Kreml im Zuge der Annexion der Krim popularisierten Begriff „Neurussland“ habe, so Jilge, die Idee der RM eine politische Radikalisierung erfahren. Auch wenn die Schaffung eines mit Russland verbundenen oder Russland direkt einverleibten „Neurusslands“ im Südosten der Ukraine derzeit kaum wahrscheinlich sei, bleibe die RM als Orientierungsmuster für die russische Außenpolitik künftig relevant: Schon die Fortexistenz von organisatorischen prorussischen, mit der RM sympathisierenden Netzwerken aus dem Umfeld der früheren Partei der Regionen in den von der Ukraine kontrollierten Gebieten des Donbass könnten von Russland als politischer Hebel einer russischen Destabilisierungspolitik genutzt werden.

Dr. Stefan Meister, Programmleiter Osteuropa, Russland und Zentralasien, moderierte das Gespräch.

Das Robert Bosch-Zentrum für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien organisierte die Veranstaltung. 

Format

Expertenrunde
Zielgruppe
Think Tank Veranstaltung
Core Expertise region