Was wollen die Muslimbrüder?
Seit ihrer Gründung vor über 80 Jahren strebt die Muslimbruderschaft nach ein und demselben Ziel: Die Gesellschaft soll zurück zum Islam geführt werden und der Islam als allumfassendes System alle Lebensbereiche der Ägypter bestimmen. Dabei gingen die Muslimbrüder stets flexibel und pragmatisch vor: Im semi-autoritären System Mubaraks setzten sie sich für Meinungsfreiheit und Pluralismus ein, da sie sich in einer demokratischen Ordnung mehr Einflussmöglichkeiten erhofften. Demokratie wurde als Instrument, nicht aber als Ziel definiert.
Mit dem Sturz Mubaraks bot sich die Chance, eine politische Partei zu gründen und die eigene Popularität in überwältigende Wahlerfolge umzuwandeln. Seither baut die Muslimbruderschaft ihren Einfluss sukzessive aus. Neben der Konzentration politischer Macht auf das Präsidentenamt strebt sie auch in anderen Bereichen nach mehr Kontrolle, etwa in der Justiz und den Medien. Die Neugestaltung des ägyptischen Staates soll soweit wie möglich nach ihren Vorstellungen erfolgen, andere Akteure werden kaum einbezogen. Das hat sich nicht zuletzt auch bei der Ausarbeitung der Verfassung gezeigt, die von den Muslimbrüdern als ein Meilenstein auf dem Weg zur Islamisierung der Gesellschaft angesehen wird. Der streng religiösen Bevölkerung wird suggeriert, ein Nein zur Verfassung sei gleichbedeutend mit einem Nein zum Islam.
Wofür stehen die Oppositionskräfte?
Momentan tritt die Opposition in erster Linie in Form der Nationalen Heilsfront auf. Dieser Zusammenschluss säkularer Oppositioneller betont, man akzeptiere Mursi als gewählten Präsidenten, nicht aber dessen Machtfülle und schon gar nicht den von ihm vorangetriebenen Verfassungsentwurf. Auf Kundgebungen werden allerdings immer wieder Rufe nach der Absetzung Mursis laut. Auch die Kräfte des alten Mubarak-Regimes kämpfen für eine säkulare Verfassung und gegen die Übermacht der Islamisten. Die Heilsfront versucht zwar, jeden Eindruck der Kooperation mit dem alten Regime zu zerstreuen, aber wegen der zurzeit deckungsgleichen Interessen mischen sich auf den Demonstrationen vermehrt Anhänger Mubaraks unter die Revolutionäre.
Ob die oppositionellen Kräfte auf Dauer geschlossen auftreten werden, ist fraglich. Im Augenblick eint die Opposition ihre Ablehnung der islamistischen Vorherrschaft. In anderen Fragen unterscheiden sie sich aber signifikant, wie ein Blick auf die drei bekanntesten Mitglieder der Heilsfront verrät: Während Hamdeen Sabahi ein bekennender Nasserist ist, steht Mohammed El-Baradei für eine deutlich liberalere Wirtschaftspolitik. Amr Mussa wird von vielen Ägyptern als Vertreter des alten Regimes angesehen. Hinzu kommt, dass es den liberal-säkularen Kräften bisher nicht gelungen ist, große Teile der ägyptischen Bevölkerung zu erreichen. Anders als die Muslimbruderschaft können sie nicht auf eine breite Wählerbasis zurückgreifen; außerhalb der großen Städte sind sie kaum präsent.
Ist ein Kompromiss in der Verfassungsfrage denkbar, oder stehen die Zeichen weiter auf Konfrontation?
Die Kluft zwischen den Lagern scheint kaum überwindbar, Islamisten und Säkulare stehen sich unversöhnlich gegenüber. Mursi und die Muslimbruderschaft treiben den Verfassungsgebungsprozess voran, ohne auf die Forderungen ihrer Kritiker einzugehen. Die Opposition wiederum zeigt sich ebenso wenig kompromissbereit. Beide Lager agieren in dem festen Glauben, die Revolution zu verteidigen. Ihre Auffassung von den Zielen der Revolution unterscheidet sich jedoch fundamental. Während die einen die Islamisierung der Gesellschaft anstreben, wollen die anderen einen säkularen Staat und fordern bürgerliche Freiheiten.
Kernpunkt des aktuellen Konflikts ist, dass der Verfassungsentwurf keinen hinreichenden Schutz der Bürgerrechte vorsieht und eine islamistisch geprägte Gesetzgebung ermöglicht. Dabei ist weniger bedenklich, dass der vielzitierte Artikel 2 unverändert bleibt, der die Scharia als wichtigste Quelle der Gesetzgebung festschreibt. Problematisch sind vielmehr die im Text eher vage ausgeführten moralischen und sozialen Grundsätze, die der Staat zu schützen habe. Solche Textstellen bieten einen breiten Interpretationsspielraum und ermöglichen es den Machthabern, bürgerliche Freiheiten im Namen der Religion einzuschränken. Außerdem wird bemängelt, dass Schutzrechte für Kinder und Frauen fehlen, nur den drei Buchreligionen Religionsfreiheit garantiert wird und die Geistlichen des religiösen Zentrums Al-Azhar eine wichtige Rolle im Gesetzgebungsprozess erhalten sollen.
Die Muslimbruderschaft ist nicht bereit, von diesen Elementen abzurücken, zumal sich viele ihrer Anhänger und auch die Salafisten eine noch stärker islamisch geprägte Verfassung gewünscht. Die Opposition wiederum pocht auf individuelle Freiheiten. Kompromisse sind nur möglich, wenn sich beide Seiten bewegen und in einen echten Dialog begeben; das aber ist nicht in Sicht. Mit der Annahme des Verfassungsentwurfs durch die Mehrheit der Wähler ist es allerdings nicht getan. Die Verfassung soll das Zusammenleben der ägyptischen Gesellschaft über viele Jahrzehnte ermöglichen. Dazu muss sie auch von Minderheiten und anderen Interessengruppen akzeptiert werden.
Welche Rolle spielt das Militär?
Es wäre ein Trugschluss zu glauben, die Generäle hätten mit der Entlassung von Militärchef Tantawi und mit Mursis Dekret vom 12. August, das dem Militär weitreichende politische Rechte entzog, massiv an Macht eingebüßt. Der „Staat im Staat“ hat ohne größeren Schaden überlebt; faktisch haben die Generäle kaum an Stärke und Einfluss verloren. Noch immer besteht ihr Hauptinteresse darin, das eigene Wirtschaftsimperium zu erhalten und von ziviler Aufsicht unbehelligt zu bleiben. Solange das gewährleistet ist und die Lage im Land einigermaßen stabil bleibt, ist es für das Militär zweitrangig, ob eine islamistische oder eine säkulare Staatsführung Ägypten regiert.
Die Macht offiziell übernehmen möchten die Generäle nicht, zu schlecht waren ihre Erfahrungen in den 18 Monaten nach dem Sturz Mubaraks. Sie sind vielmehr eine Art Königsmacher hinter den Kulissen: Keine Partei kann sich ohne Duldung des Militärs an der Macht halten. Im aktuellen Konflikt präsentieren sich die Generäle offiziell als neutral. Allerdings ist die Herrschaft der Muslimbrüder ihren Interessen durchaus zuträglich: Die Islamisten tasten das Wirtschaftsimperium des Militärs nicht an, ihr Verfassungsentwurf schränkt die Rechte des Militärs höchstens kosmetisch ein. Sollte sich das ändern oder die Lage weiter eskalieren, könnten sich die Generäle dennoch zum Eingreifen gezwungen sehen.
Was kann die internationale Gemeinschaft tun?
Die Einflussmöglichkeiten der westlichen Staaten sind verschwindend gering. Das hat mehrere Gründe: Erstens ist das Ansehen des Westens sehr schlecht. Sowohl die Muslimbruderschaft als auch die liberalen Revolutionäre wurden unter Mubarak brutal unterdrückt – eben jenem Despoten, den der Westen jahrzehntelang unterstützt hat. Zweitens zeigt Ägypten seit Beginn der Umbrüche kaum Interesse an westlicher Hilfe. Es lehnte sowohl Angebote zur Wahlbeobachtung bei den Parlamentswahlen als auch Beratungsangebote im Verfassungsprozess ab. Drittens bestehen zwischen westlichen Regierungen und den Muslimbrüdern kaum Kontakte, weil der Dialog mit Islamisten jahrzehntelang tabu war. Und viertens machen politische Unwägbarkeiten und undurchsichtige Akteurskonstellationen es dem Westen schwer, klare Strategien zu entwickeln.
Um nicht den letzten Rest Vertrauen zu verspielen, sollten westliche Staaten bedacht vorgehen, ihre Interessen klar definieren und kommunizieren, eine einseitige Parteinahme vermeiden und keinesfalls belehrend auftreten. Ob die Einstellung von Hilfszahlungen und die Einschränkung der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit, wie vom deutschen EU-Parlamentspräsident Martin Schulz angedroht und von Entwicklungsminister Dirk Niebel prompt verkündet, sinnvolle Schritte sind, darf bezweifelt werden. Mit diesen Maßnahmen wird man auf den innenpolitischen Konflikt kaum einwirken und die Muslimbruderschaft nicht zum Einlenken bewegen können. Vielmehr wird die ohnehin prekäre wirtschaftliche Lage des Landes weiter verschlechtert, was vor allem die ägyptische Bevölkerung zu spüren bekommt. Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich der Westen bewegt. Einerseits sollte er keinesfalls erneut einen autoritären Herrscher stützen und die Stabilität der Region über die Einhaltung der Bürger- und Menschenrechte stellen. Andererseits ist jetzt kein guter Moment, um Druck auszuüben und die extrem angespannte Lage im Land dadurch weiter zu verschärfen.