"Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft wird von Gesundheits- und Wirtschaftskrisen geprägt sein, die wahrscheinlich die sozialen und politischen Spannungen und internen Spaltungen vertiefen werden. Die Bundesregierung muss jedoch dazu beitragen, dass 2020 das Jahr wird, in dem die EU auf die Zukunft vorbereitet wird. Die Unterstützung des wirtschaftlichen Aufschwungs sollte die großen Umwälzungen der Digitalisierung und den „Green Deal“ durch wirkliche europäische Projekte entscheidend vorantreiben. Im wachsenden internationalen Wettbewerb muss die EU international gestärkt werden, basierend auf innerem Zusammenhalt, gemeinsamen Prinzipien, einschließlich Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, sowie auf einer vertieften Zusammenarbeit."
"In Frankreich sieht man die deutsch-französische Initiative vom 18. Mai 2020 als eine sehr gute Grundlage für eine europäische Reaktion auf die Wirtschaftskrise. Die Schaffung eines Wiederaufbaufonds, durch gemeinsame Anleihen finanziert, steht im Einklang mit den europapolitischen Vorstellungen von Präsident Emmanuel Macron. Die französische Regierung erwartet also von der deutschen Ratspräsidentschaft, dass sie für diese Idee kämpft und die „Sparsamen Vier“ davon überzeugt. Zudem wünscht sie sich ein starkes Bewusstsein für Themen der europäischen Souveränität."
"Die Erwartungen in Südeuropa drehen sich vor allem um den Europäischen Wiederaufbaufonds. Während Deutschland zu Beginn der Corona-Krise wegen seines Mangels an Solidarität in der Kritik stand, hat sich das Blatt nun gewendet: Durch die deutsch-französische Initiative sehen Rom, Madrid, Lissabon und Athen in der Bundesregierung einen Fürsprecher ihrer Position. Dies nährt die Hoffnung, dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft die wichtigsten Elemente dieses Vorschlags durchsetzt und eine rasche Einigung herbeiführt."
"Aus niederländischer Sicht hat die Rückkehr zu den vier europäischen Grundfreiheiten Priorität. Die Regierung in Den Haag wünscht sich eine pro-aktive deutsche Ratspräsidentschaft, die auf einen resilienteren Binnenmarkt hinarbeitet. Ausschließliches Corona-Krisenmanagement wäre nicht ambitioniert genug. Deutschland sollte Zukunftsthemen wie den Green New Deal und die Digitalisierungsstrategie mit Nachdruck vorantreiben. Ein europäischer Wiederaufbaufonds sollte dem Prinzip der Konditionalität folgen und nachhaltige Investitionen begünstigen."
"Die polnische Regierung schaut der deutschen EU-Ratspräsidentschaft mit vorsichtigem Optimismus entgegen. Ihr Hauptziel bei den Haushaltsverhandlungen ist es, die Forderungen der „Freunde der Kohäsion“ mit wirksamen Anti-Krisen-Maßnahmen in Einklang zu bringen. Der deutsch-französische Vorschlag und die Haushaltspläne der Kommission sind dafür ein guter Ausgangspunkt. Hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit erwartet Polen von Deutschland, nicht an den Pranger gestellt zu werden – wohlwissend, dass Berlin das Thema nicht ganz unter den Teppich kehren kann."
"Die Länder der Visegrád-Gruppe fordern von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, dass die Verhandlungen über den künftigen mehrjährigen Finanzrahmen abgeschlossen und die Interessen der Mitteleuropäer berücksichtigt werden. Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn setzen sich bei der Ausgestaltung des Wiederaufbaufonds für gerechte Verteilungskriterien ein, die flexibel und auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Mitgliedstaaten zugeschnitten sind. In der konkreten Ausgestaltung haben die vier Staaten unterschiedliche Interessen. Die Visegrád-Gruppe tritt heute politisch nicht mehr so einheitlich auf, wie etwa in der Flüchtlingskrise 2015."
"Die Corona-Krise beschränkt die Arbeitsmöglichkeiten für die deutsche Ratspräsidentschaft in Brüssel erheblich und führt zu einem Verlust an Effizienz. Die EU muss rasch wieder in die Lage kommen, über das unmittelbare Krisenmanagement hinaus ihre politische Agenda von Klimaschutz bis Digitalisierung voranzubringen. Dazu gehört, dass Politik und Diplomatie wieder im persönlichen Kontakt und direkten Austausch stattfinden können."
"Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft wird das Feindbild des US-Präsidenten bestärken. Bereits vor seiner Amtsübernahme behauptete Donald Trump medienwirksam, dass die EU nur geschaffen worden sei, um Amerika zu schaden und dass Deutschland die EU nur missbrauche, um seine Interessen durchzusetzen. Seitdem versucht der US-Präsident mit einer „divide et impera“-Strategie die ohnehin brüchige europäische Einheit zu spalten, um die Einzelteile besser beherrschen zu können. Im US-Wahljahr wird Europa umso mehr ins Fadenkreuz des amerikanischen Präsidenten geraten. Um von inneren, sozio-ökonomischen Problemen abzulenken, könnte Trump neben China auch Europa als Sündenbock in Stellung bringen."
"Seit dem Ausbruch von COVID-19 hat China von Deutschland erwartet, dass es „Europa für China liefert“. Das sogenannte bilateral-multilaterale Format des Leipziger Gipfels war ein wichtiger Teil dieses Plans. Da die Pandemie jedoch große Risiken für eine immer engere Zusammenarbeit aufzeigte, wurde es für China schwieriger, diesen Plan zu verwirklichen. Dennoch muss Deutschland anerkennen, was China tut, und als Reaktion darauf ernsthaft darauf drängen, dass Europa seine demokratische Sicherheit ausbaut."