Policy Brief

20. März 2024

Frankreichs „Pivot to Europe“

Wie das deutsch-französische Duo Europas Zeitenwende anführen könnte
Scholz und Macron vor Flaggen
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

Seit 2017 wirbt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron für die Stärkung der EU-Verteidigungspolitik. Seit 2022 gibt ihm der russische Krieg gegen die Ukraine recht. Doch der französische Führungsanspruch in Europa kollidiert mit globalen Ambitionen vergangener Zeiten. „Macht der Gleichgewichte“ im Indo-Pazifik, Ordnungsmacht in Afrika und Rahmennation der NATO-Ostflanke – das scheint zu viel für eine europäische Mittelmacht. Macron muss sich entscheiden und Deutschland kann als engster Verbündeter helfen. So ließe sich die Zeitenwende in beiden Ländern ergänzen und Europa sicherer machen.

PDF

Share

Lange hat sich die französische Identität in Abgrenzung zur NATO ­entwickelt. Das ist nun problematisch, denn Macrons Ambitionen für die EU kollidieren mit dem Comeback der NATO. 
Der Zeitpunkt für einen „Pivot to Europe“ der französischen Sicherheitspolitik ist günstig. Schließlich wurden Frankreich in Westafrika ­zuletzt deutlich die Grenzen der eigenen Spielräume aufgezeigt.
Mit der „Bratislava Agenda“ hat Macron eine geopolitische Wende eingeleitet. Doch um sie durchsetzen, braucht er Partner – in Frankreich und außerhalb. 
Deutschland fällt hierbei eine Schlüsselrolle zu. Es kann den Führungsanspruch in Mitteleuropa für Frankreich öffnen. Im Gegenzug würde es deutschen Debatten guttun, mit Frankreich den Blick in die Ferne zu wagen, nach Westafrika und in den Indo-Pazifik zum Beispiel. 

Eine Version des Policy Briefs mit Fußnoten können Sie hier herunterladen.


Frankreich und die NATO: ein schwieriges Verhältnis

Als Macron der NATO 2019 den „Hirntod“ bescheinigte, spiegelte die darauffolgende Kontroverse das Verhältnis zwischen Frankreich und der Allianz ­wider. 1966 hatte der Austritt aus dem militärischen Kommando der NATO den Grundstein des französischen „Exzeptionalismus“ im westlichen Staatenbund gelegt. Häufig wurden Spannungen im US-französischen Verhältnis als Erklärung angeführt, doch es gab auch handfeste strategische Gründe: Die Umstellung der US-Strategie von der „massive retaliation“ zur „flexible response“ hatte in Paris (wie in Bonn) Zweifel an US-Garantien geweckt – ganz ähnlich, wie es Aussagen des Ex-Präsidenten Donald Trump heute wieder tun.

Die nukleare Abschreckung war also ab 1966 souverän, doch auch konventionell hob Paris sich von den NATO-Staaten ab. Während die wiederbewaffnete Bundeswehr ab 1955 Grundpfeiler der Verteidigung Westeuropas wurde, kämpften französische Soldaten die Rückzugsgefechte des Kolonialismus: Bis 1954 in Indochina, dann in Algerien. Nach der Dekolonialisierung behielt Frankreich de facto zwei Streitkräfte: Eine „métro“-Armee (wie die europäische métropole), mit Wehrpflichtigen, die auch in Westdeutschland stationiert waren und im Ernstfall eine NATO-Reserve gebildet hätten. Und eine Expeditionsarmee, bestehend aus Berufssoldaten, die von „colo“-Truppen (wie coloniale), der Marineinfanterie und der Fremdenlegion, dominiert wurde. 

Der Mauerfall führte 1989 in Frankreich trotzdem zu ähnlichen Schlüssen wie in Deutschland: Mit der Sowjetunion war der strategische Gegner verschwunden, erstmals in seiner Geschichte war Frankreich eine geostrategische „Insel“. Die „métro“-Streitkräfte schienen überflüssig, nicht aber „colo“-Einheiten, die für Auslandseinsätze geringerer Intensität konzipiert wurden und zwischen den 1960er und 1990er Jahren ständig im Einsatz waren. Das Weißbuch von 1994 unterstrich die Bedeutung dieser Einheiten, definierte Auslandseinsätze als Hauptaufgabe der Zukunft. Die neue französische Armee war fast exklusiv auf Stabilisierungseinsätze und globale Krisenbekämpfung fokussiert. 

Angesichts dieser Entwicklung rechneten viele Beobachter in Paris mit dem Ende der NATO. Claude Martin, Botschafter in Berlin a.D., schreibt, die Allianz sei in Reaktion auf die sowjetische Bedrohung geschaffen worden und hätte mit ihr „verschwinden müssen“. Viele französische Politiker sahen 1989 die Gelegenheit, der US-Vormacht zu entkommen und endlich eine echte EU-Verteidigung aufzubauen – eine historische Konstante französischer Außenpolitik. Michel Duclos, Botschafter a.D., erinnert sich an Pläne für neue Allianzen mit Deutschland, aber auch mit Russland und China, die Dominique de Villepin, Außenminister unter Präsident Jacques Chirac, in seinen Memoiren verteidigt. Während die NATO in Deutschland als politisches Forum Bedeutung behielt, war diese Sichtweise in Frankreich weit weniger verbreitet. 

Annäherung nach dem Kalten Krieg

Trotz der Distanz zur NATO wurden in Paris nach dem Mauerfall Stimmen laut, die die Rückkehr in die Kommandostruktur forderten. Schließlich hatte Frankreich sich in den 1990er Jahren vielfach an Einsätzen der Friedenssicherung beteiligt: in Kambodscha (1991), Somalia (1992), Ruanda (1994) und Jugoslawien (1992 bis 1995). Besonders letztere, unter NATO-Kommando, führten dabei zu einem Umdenken: Französische Soldaten hatten NATO-Befehle ausgeführt, auf die aber niemand in Paris Einfluss hatte. Französische Diplomaten waren es zudem leid, systematisch die Buhmänner westlicher Bündnisstrukturen zu sein.

Entsprechend hatte Chirac 1995 die Konditionen für eine Rückkehr Frankreichs in die NATO-Kommandostruktur geprüft. Aus französischer Sicht scheiterte sie damals am Widerstand der US-Regierung. Präsident Nicolas Sarkozy brachte schließlich 2009 die Wende. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz unterstrich er die Zugehörigkeit Frankreichs zur „westlichen Familie“ , ein ungewohntes Bekenntnis für französische Politiker. Dass die Rückkehr damals in Paris fast unumstritten war, lag auch an den Erinnerungen an die Kritik nach dem deutsch-französischen „Nein“ zur Irak-­Invasion 2003 und dem Widerstand gegen den NATO-Beitritt Georgiens und der Ukraine auf dem Gipfel in Bukarest im Jahr 2008.

Die Rückkehr bedeutete jedoch nicht, dass die französischen Verantwortlichen bereit waren, ihre souveräne Linie aufzugeben. Die nukleare Abschreckung blieb national und statt die eigene Doktrin an NATO-Standards anzupassen, wurden Möglichkeiten gesucht, die Allianz im Sinne Frankreichs zu beeinflussen. Diplomaten und Militärs geben offen zu, wichtige Entscheidungen immer zuerst national zu treffen und erst dann mit Verbündeten abzusprechen. Duclos ordnet diesen „nationalen Reflex“ wie folgt ein: Frankreich sei zwar ein westliches Land, lasse sich aber nicht darauf reduzieren.

Die Reintegration der NATO warf 2009 die Frage auf, ob sie einen Bruch mit der französischen Souveränitätspolitik markierte. Viele Beobachter verneinten das, verwiesen auf veränderte Rahmenbedingungen: Die sowjetische Bedrohung war verschwunden, Szenarien für Einsätze vollkommen andere. Doch seit Februar 2022 lässt die neuerliche Bedrohung durch Russland die Diskussion in Frankreich wieder aufleben. Denn das Ziel der souveränen EU-Verteidigung, an dem man in Paris trotz der Rückkehr in die NATO immer festgehalten hat, ist unerreicht. Noch ist unklar, in welchem Rahmen Frankreich die europäische Reaktion auf die neue russische Bedrohung mitgestalten möchte.

Russlands Krieg als Kurswechsel: Die Bratislava-Agenda

Einen wichtigen Hinweis gab Macron im Mai 2023 auf der GlobSec-Konferenz in Bratislava. Der Präsident zitierte die eigene „Hirntod“-Diagnose von 2019 und fügte an, Wladimir Putin habe die NATO 2022 „mit dem schlimmsten Elektroschock geweckt“. Frankreich wolle künftig stärker die Sicherheit Osteuropas garantieren. Rhetorisch wird der Richtungswechsel durch das zunehmende Abrücken von der „strategischen Autonomie“ unterstrichen, die durch Bekenntnisse zur Stärkung des „europäischen Pfeilers in der NATO“ ersetzt wird. Diplomaten sprechen seither von der „Bratislava-Agenda“ französischer Außenpolitik.

Die wichtigste Neuerung dieser Agenda ist die Unterstützung des NATO-Beitrittsgesuchs der Ukraine. Der Positionswechsel wurde in Anspielung auf den historischen Widerstand gegen den NATO-Beitritt der Ukraine und Georgiens, der während des NATO-Gipfels in Bukarest 2008 für Streit gesorgt hatte, als „Anti-Bukarest“ kommentiert. Die Bratislava-Agenda fußt auf dem Eingeständnis, die Perspektive osteuropäischer Staaten in der Vergangenheit vernachlässigt zu haben. Nicht alle NATO-Verbündeten sind allerdings von der Nachhaltigkeit des Sinneswandels in Paris überzeugt. Vielerorts wird Taktik vermutet, die die Russlandpolitik der Vergangenheit vergessen machen soll. 

Militärisch wird die Bratislava-Agenda von der „strategischer Solidarität“ Frankreichs an der NATO-Ostflanke untermauert. Das Konzept ist nicht neu, stammt aus Zeiten des Kalten Kriegs. Frankreichs Weißbuch von 1972 definierte drei Kreise der Verteidigungsfähigkeit: Das Hexagon als „Gebiet nationaler Unabhängigkeit“; den europäischen Kontinent und französische Überseeterritorien als „Gebiete strategischer Solidarität“; und einen dritten Kreis, der Staaten einschließt, mit denen bilaterale Abkommen bestehen, darunter mehrere in Afrika. Im Rahmen der Bratislava-Agenda ist die Stärkung der französischen Präsenz im zweiten dieser drei Kreise vorgesehen. Inwiefern das zu Lasten des dritten Kreises geht, ist umstritten.

Mehr Frankreich in der NATO

Französische Soldaten sind aber nicht erst seit 2022 an der NATO-Ostflanke stationiert: Im Rahmen der enhanced forward presence (eFP) ist das Heer seit 2017 in einer Battlegroup unter britischem Oberkommando in Estland präsent; die Luftwaffe beteiligt sich seit 2004 am Air Policing im Baltikum; und auch die Flugzeugträgergruppe der Marine trug in der Vergangenheit zur Sicherung der Ostflanke bei. Frankreich hatte zudem im Februar 2022 das Kommando der NATO-Response Force (NRF) inne und nur wenige Tage nach Beginn der russischen Invasion entsandten die Franzosen über den NRF-Mechanismus ein Bataillon nach Rumänien, das dort seither das Rückgrat einer französisch geführten Battlegroup bildet.

Bild

 

Die Entsendung des Bataillons nach Rumänien deutet auf eine Prioritätenverschiebung hin, die nicht ganz überraschend ist. Frankreichs Präsenz ist zwar weniger bedeutend als die deutsche, die künftig die Stationierung einer Brigade in Litauen vorsieht. Anders als Deutschland bereitet sich Frankreich aber seit Jahren auf große zwischenstaatliche Kriege vor: Die erste nationale Sicherheitsstrategie unter Präsident Macron räumte solchen Szenarien schon 2017 viel Platz ein. Mit Blick auf den Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien (2020) forderte der Senat die Vorbereitung auf „hochintensive Gefechte“; eine Studie von 2021 beschäftigt sich mit dem „Problem der Masse“; und ein Bericht der Nationalversammlung zum „hochintensiven Gefecht“ erschien nur wenige Tage vor der russischen Invasion der Ukraine, 2022.

Im Januar 2023 kündigte Macron schließlich einen „Pivot zur Hochintensität“ an. Neben kontinuierlich steigenden Verteidigungsausgaben – Planungen sehen bis 2030 den Anstieg auf dann 69 Milliarden Euro vor, mehr als eine Verdopplung im Vergleich zu 2017 – wird der Pivot auch von der militärischen Führung getragen. 2019 kündigte General Thierry Burkhard, damals Heereschef, an, dessen Struktur vollkommen zu überdenken. Als er 2021 Generalstabschef wurde, brachte er diese Agenda mit. Anders als viele seiner Vorgänger gilt Burkhard nicht als unbedingter Verfechter der „colo“-Tradition. Und er forderte zwar wiederholt die Stärkung der EU-Verteidigungsfähigkeit, spricht sich aber auch für stärkeres Engagement französischer Soldaten in der NATO aus.

Auch sein Nachfolger im Heereskommando, General Pierre Schill, mahnt Veränderungen an. Die Ära der Interventionen im Ausland gehe zu Ende, künftig werde „strategische Solidarität“ in Europa die Hauptaufgabe des Heeres sein. Bis 2027 soll eine Brigade in zehn, eine Division in 30 Tagen einsatzbereit sein; und im nordfranzösischen Lille wurde im Oktober 2023 ein neues Heereskommando gegründet, das Commandement Terre Europe (CTE). Vertreter des Außen- und Verteidigungsministeriums sehen „starke Signale strategischer Solidarität“, mahnen aber gleichzeitig einen „Kulturwandel“ in den Streitkräften an. 

Ein Kulturwandel, der Zeit braucht

Die Notwendigkeit dieses Kulturwandels – weg von Auslandseinsätzen, hin zur Landes- und Bündnisverteidigung – haben französische Politiker und die Verwaltung erkannt. Abgeordnete fordern mehr Anstrengungen in der NATO. Der Rechnungshof rief 2023 das Verteidigungs- und das Außenministerium dazu auf, mehr Beamte in zivile und militärische Positionen in die Allianz zu bringen. Streitkräfte und Ministerien müssten zudem die NATO-Verwendungen stärker in ihren Planungen berücksichtigen. 2023 wurden den Anstrengungen „langsame Fortschritte“ bescheinigt.

Wie ernst es Frankreich mit den neuen Prioritäten meint, unterstrich im vergangenen Jahr auch die Großübung ORION. Französische Soldaten probten mit ihren NATO-Verbündeten in den größten französischen Manövern seit 1989 den Ernstfall. Auch die Bundeswehr war beteiligt. ORION wurde lange vor 2022 geplant, durch den Krieg in der Ukraine bekam die Übung aber neue Bedeutung. Sie war Schaufenster französischer Fähigkeiten in der Führung von Verbänden und unterstrich die Ambitionen in der NATO-Landes- und Bündnisverteidigung. Die Übung bot zudem die Möglichkeit, den Willen zur Übernahme von Verantwortung als NATO-Rahmennation zu beweisen und das Versprechen „strategischer Solidarität“ mit Leben zu füllen.

Ob das neue Engagement in Osteuropa mit dem Rückzug aus Westafrika zusammenhängt, ist unklar. In der Vergangenheit hatten sich die Regierungen in Paris häufig mit Verweisen auf den Kampf gegen die Instabilität im Sahel geweigert, im Rahmen der eFP Einheiten nach Osteuropa zu verlegen. Dann wurde im Februar 2022 der Rückzug französischer Truppen aus Mali angekündigt, nur wenige Tage vor der russischen Invasion der Ukraine; Ende 2022 wurde das offizielle Ende der Sahel-Mission Barkhane verkündet; und Ende 2023 beschloss Präsident Macron schließlich die Reduzierung französischer Kontingente in drei Stützpunkten in Westafrika. Die Frage, ob hier eine strategische Neuausrichtung im Gange sei, wurde wiederholt verneint: „Es ist kein Pivot“, ließ Ende 2023 ein Sprecher wissen, Hintergrundgespräche lassen aber andere Schlüsse zu.

Neue Ziele und Strategien

Dass Regierungsvertreter zögern, vom „Pivot“ zu sprechen, liegt daran, dass die Ausrichtung der Verteidigungspolitik unklar ist. Frankreichs Doktrin wird grundsätzlich von zwei Dokumenten bestimmt: Sicherheitspolitische Weißbücher definieren politische Prioritäten, die ein Gesetz zur mehrjährigen Finanzplanung mit Haushaltsmitteln ausstattet. Seit Beginn der fünften Republik wurden sechs solcher Weißbücher erarbeitet, die seit 2008 als Sicherheitsstrategien oder Revue nationale stratégique (RNS) erscheinen: 1972, 1994, 2008, 2013, 2017 und zuletzt 2022. Das Gesetz zur Haushaltsplanung, loi de programmation militaire (LPM) für den Zeitraum 2024 bis 2030, das die massive Erhöhung der Mittel vorsieht, wurde 2023 verabschiedet.

Bei der Vorstellung der RNS betonte Macron, die Strategie ergänze den Strategischen Kompass der EU und das strategische Konzept der NATO, beide wurden 2022 vorgestellt. Wie diese Dokumente sei auch die RNS vom erneuten russischen Angriff auf die Ukraine geprägt, der die Planungen in absehbarer Zukunft bestimmen werde. Auch in der RNS ist das politische Schlagwort die bereits erwähnte „strategische Solidarität“. Eines der „strategischen Ziele“ der RNS ist die Positionierung als „exemplarischer Alliierter im euro-atlantischen Raum“.

Das Ziel ist aber nur eines von zehn. Erstes Ziel bleibt die „glaubhafte nukleare Abschreckung“, weiterhin werden die Entwicklung von „Cyber-Fähigkeiten ersten Ranges“, die Stärkung der „strategischen Autonomie der EU“ und „Entscheidungsfreiheit“ auf nationaler Ebene in Fragen der Verteidigung ausgegeben. Oppositionspolitiker kritisierten, die Strategie priorisiere kaum, überlasse diese Aufgabe dem Gesetzgeber und der mehrjährigen Finanzplanung. Auch die LPM lässt jedoch keine Priorisierung erkennen. Anders als seine EU-Partner will Frankreich auch zukünftig das gesamte Spektrum moderner Streitkräfte national abbilden.

Zweifel an Frankreichs Richtungswechsel

Dieser Anspruch wirft Fragen auf. Die Regierungsmehrheit unterstrich mit Blick auf die LPM zwar den Willen Frankreichs, „tragende Säule“ der NATO zu sein. Schnell wurden jedoch Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Versprechungen laut. Denn den „Pivot zur Hochintensität“, den Macron versprach, spiegelt das Gesetz nicht wider. Emmanuel Chiva, Direktor des Beschaffungswesens, betonte, statt sich auf „Masse“ zu konzentrieren, sei das „gesamte Verteidigungssystem“ bedacht worden. Offiziere ergänzen, die exklusive Ausrichtung auf europäische Sicherheit komme auch in Zukunft nicht in Frage. Solche Aussagen schwächen die „strategischen Solidarität“ Frankreichs in Europa.

Die Lücke zwischen dem Anspruch, verteidigungspolitische EU-Führungsmacht zu sein, und der haushälterischen Realität der LPM, wird auch in Frankreich kritisiert. Im Zentrum der Kritik steht das Ideal der armée complète, welche das Fähigkeitsspektrum moderner Streitkräfte weiterhin national abdecken soll. Angesichts fehlender Masse an Soldaten, Material und Munition wird in Frankreich häufig von einer „Bonsai-Armee“ gesprochen. Diese habe Paris in dem vermessenen Anspruch geschaffen, mit den USA vergleichbare Fähigkeiten zu erhalten. Verteidigungsminister Sébastien Lecornu kokettierte 2023 damit, sagte, es gelinge Frankreich, „mit einem Economy-Class-Ticket in die Business-Class eingeladen zu werden oder sogar im Cockpit Platz zu nehmen“. 

Beteiligungen an Koalitionen und Einsätzen auf der ganzen Welt dienen dabei dem Anspruch, den die RNS als „Macht der Gleichgewichte“ definiert. Interventionen, etwa in Libyen (2011), in Mali und im Sahel (ab 2013), in Syrien und dem Irak (ab 2014) oder zuletzt im Roten Meer (seit 2023) demonstrieren die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – ohne sich dabei jedoch vollkommen den Bündnislogiken der NATO oder der EU zu unterwerfen. Aus Pariser Sicht tragen diese Beteiligungen zur Verteidigung der internationalen Ordnung bei, werden als „burden sharing“ gesehen. Damit und mit seiner nuklearen Abschreckung, leistet Frankreich in eigener Wahrnehmung wichtige Beiträge zur Sicherheit der NATO und EU, ohne dabei zwangsläufig unter NATO-Oberkommando zu stehen oder sich einem EU-Mandat zu unterwerfen.

Zeit für deutsch-französische Initiativen

Präsident Macron droht seine Ambition von 2017, die EU autonom verteidigungsfähig zu machen, zu verfehlen. Drei Jahre bleiben ihm, um die Bratislava-Agenda zu verstetigen, französische Solidarität an der Ostflanke mit Leben zu füllen und die Rückkehr in die Kommandostruktur der NATO politisch zu zementieren. 

Die Entscheidung, sich künftig auf die Sicherheit Europas zu konzentrieren, hätte immense Folgen für die außenpolitische Identität Frankreichs. Aus deutscher Sicht würde sie langfristig die Annäherung der strategischen Kulturen erleichtern, die der 2019 unterzeichnete Aachener Vertrag vorsieht. Die Bundesregierung sollte Macron und den Reformern in Paris diesen Wandel erleichtern. 1939 debattierte Frankreich, ob angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung Polens, Hilfe geschickt werden solle – Mourir pour Dantzig wurde ein geflügeltes Wort. Heute zweifeln Experten an der strategische Solidarität Frankreichs in Osteuropa, in Wahrheit bleibe ­Tahiti wichtiger als Warschau, heißt es.

Hier sind dringend neue deutsch-französische und deutsch-französisch-polnische Initiativen gefragt. Frankreich muss mehr tun, wenn es als europäische Führungsmacht ernst genommen werden will. Deutschland kann diesen Prozess begleiten und den eigenen Führungsanspruch in Mitteleuropa für Frankreich öffnen. Eine konkrete Möglichkeit, die aktuell auf militärischer und politischer Ebene besprochen wird, ist der Einsatz der deutsch-französischen Brigade an der NATO-Ostflanke. Im Gegenzug würde es der deutschen Debatte guttun, mit Frankreich den Blick in die Ferne zu wagen, nach Westafrika und in den Indo-Pazifik. So ließen sich die Zeitenwende in Deutschland und Frankreich ergänzen – und Europa würde sicherer.

Bibliografische Angaben

Ross, Jacob. “Frankreichs „Pivot to Europe“ .” DGAP Policy Brief 5 (2024). German Council on Foreign Relations. March 2024.
Lizenz

Verwandter Inhalt