Im Mai 2020 präsentierten Angela Merkel und Emmanuel Macron ihre Initiative für einen 750 Milliarden Euro schweren europäischen Aufbauplan zur Bewältigung der Folgen der Covid-19-Pandemie. Beobachter aus Frankreich rieben sich verwundert die Augen: Deutschland hatte sich von seinen traditionellen Positionen in der Frage einer Schuldenunion verabschiedet und gegen seine „sparsamen“ Verbündeten, allen voran die Niederlande, gestellt. In Frankreich wurde diese Entwicklung vielfach als Paradigmenwechsel in der europäischen Debatte über die Rolle des Staates in der Wirtschaft gewertet. Im Anschluss an den Brexit und angesichts der schwachen Position der übrigen Mitgliedstaaten, die eine Erweiterung des EU-Haushalts und eine gemeinsame Schuldenaufnahme ablehnen, könnte das deutsche Einschwenken auf die traditionelle Position Frankreichs in den kommenden Jahren spürbare Folgen für die EU haben.
Rahmenbedingungen
Ein grundlegendes Umdenken in der deutschen Wirtschaftspolitik
In Frankreich zeigte man sich überrascht, dass der Wiederaufbaufonds im Deutschen Bundestag nur auf geringen Widerstand stieß und am 25. März 2021 mit großer Mehrheit verabschiedet wurde (lediglich die Fraktion der AfD stimmte geschlossen dagegen). Doch diese überwältigende Zustimmung kam nicht vollkommen unerwartet und machte deutlich, dass sich die Haltung Deutschlands über die Jahre weiterentwickelt hat. Der deutsche Finanzminister Olaf Scholz und sein französischer Amtskollege Bruno Le Maire verständigten sich 2018 im Vorfeld des deutsch-französischen Gipfeltreffens in Meseberg auf einen Kompromiss für ein Eurozonen-Budget. Im Frühjahr 2020 stimmte der Bundestag einer Aussetzung der berüchtigten deutschen Schuldenbremse zu und ebnete damit den Weg für umfangreiche Konjunkturpakete zur Bewältigung der Auswirkungen der Corona-Krise.
Angesichts der ersten Zahlungen aus dem Wiederaufbaufonds an die Mitgliedstaaten ist die Unterstützung für das Instrument in der deutschen Politik nach wie vor ungebrochen. Viele Wirtschaftsfachleute teilen Le Maires Auffassung, dass der Fonds der EU ein wichtiges Instrument an die Hand gibt, um in einer zunehmend umkämpften und bipolaren Weltwirtschaft bestehen zu können. Einer der prominentesten Verfechter dieser Position ist der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Marcel Fratzscher. Ein weiterer ist Olaf Scholz, der nach dem Sieg der SPD bei der Bundestagswahl am 26. September höchstwahrscheinlich der Nachfolger von Angela Merkel im Kanzleramt wird. Scholz hatte den deutsch-französischen Kompromiss zum Fonds als Maßnahme nach dem Vorbild des ersten US-Finanzministers Alexander Hamilton bezeichnet und spielte damit unverkennbar auf eine zukünftige EU-Fiskalunion an.
Herausforderungen
Implizite Erwartungen an eine Fortführung des Fonds
Dennoch könnte die derzeitige Eintracht trügerisch sein. Die Frage, ob der Fonds ein vorübergehendes Instrument bleiben soll, wird in den Koalitionsverhandlungen mit Sicherheit aufkommen. Nach Ansicht der Deutschen Bundesbank werden die Kriterien für die Transfervergabe (Bevölkerungsgröße, Höhe des BIP pro Kopf und Arbeitslosenquote von 2015 bis 2019) nicht den an das Instrument gestellten Anforderungen gerecht, die Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu unterstützen. EU-Transferleistungen sollen stattdessen hauptsächlich an Länder fließen, die sich seit der Eurozonen-Krise um eine Konsolidierung ihrer Staatshaushalte bemühen. Italien (66 Milliarden Euro), Spanien (59 Milliarden Euro) und Frankreich (37 Milliarden Euro) gehören zu den Hauptempfängern. Deutschland erhält zwar 26 Milliarden Euro, ist aber mit einem Beitrag von 66 Milliarden Euro auch der größte Nettozahler.
Vor diesem Hintergrund haben einige Kritiker das Instrument als verdeckten Kohäsionsfonds bezeichnet und seine Verfassungsmäßigkeit infrage gestellt. Prüfer des Bundesrechnungshofs warnten zudem davor, dass deutsche Steuerzahler auch langfristig und weit über die außergewöhnliche Pandemiesituation hinaus Haftungsrisiken für Kredite und Zuschüsse an andere Mitgliedstaaten tragen müssen. Der Weg in eine Schuldenunion, den die Bundeskanzlerin und andere Spitzenpolitiker in der Vergangenheit wiederholt ausgeschlossen haben, wäre damit vorgezeichnet. Eine Gruppe von CDU-Bundestagsabgeordneten wich aus diesem Grund bereits im März von der Parteilinie ab und stimmte gegen den Fonds. Sie hat zudem Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht.
Empfehlungen
Bisherige Versäumnisse aufholen
Im August 2021 betonte Shahin Vallée, Programmleiter Geoökonomie bei der DGAP, dass die Parteien die Frage der wirtschaftlichen Zukunft der EU im Wahlkampf ausgespart hätten. Tatsächlich sind nur wenige Deutsche mit dem EU-Wiederaufbaufonds und den möglichen weitreichenden Folgen seiner Fortführung für die Zukunft der Europäischen Union vertraut.
Demzufolge ist eine breite Debatte über die wirtschaftliche Integration überfällig, bevor die nächste Wirtschaftskrise den Kontinent erschüttert. Hier fällt dem Bundestag eine wichtige Funktion zu. Er muss die gemeinsamen europäischen Interessen herausstellen, ohne die bestehenden Konfliktlinien unter den Teppich zu kehren. Für entsprechende Diskussionen bieten die französische EU-Ratspräsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 2022 und die Konferenz zur Zukunft Europas einen geeigneten Rahmen.
Die neue Bundesregierung muss:
- Missverständnisse zwischen Deutschland und Frankreich über den Wiederaufbaufonds vermeiden. Während sich Präsident Macron für eine Verstetigung des Instruments ausspricht, hat die Mehrzahl der deutschen Regierungsvertreterinnen und -vertreter sowie Bundestagsabgeordneten dies bisher offiziell ausgeschlossen.
- Die breite Öffentlichkeit umfassend über den Wiederaufbaufonds informieren und dafür gewinnen. Die überwältigende Zustimmung des Bundestags, die in Frankreich als Anpassung der deutschen an die französische Haltung gewertet wurde, muss von einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit getragen werden.
- So ließe sich eine langfristige Angleichung deutscher und französischer Positionen fördern und die Angriffsfläche für populistische Kräfte auf nationaler Ebene verkleinern, wie etwa für die AfD in Deutschland, die sich auf dem Höhepunkt der Eurozonen-Krise in konservativen Wirtschaftskreisen formierte.
Angesichts der Tatsache, dass die Angst vor Inflation und der Enteignung der deutschen Sparerinnen und Sparer erneut zunimmt, müssen sich Politikerinnen und Politiker dringend mit grundlegenden Fragen der künftigen wirtschafts- und fiskalpolitischen Gestaltung in Europa auseinandersetzen. Nicht einmal Hunderte von Milliarden Euro können ihnen diese Debatte ersparen.