Report

20. Sep 2021

Aktionsplan Strukturen deutscher Außenpolitik

Wie Deutschland außenpolitische Entscheidungen besser treffen, vermitteln und umsetzen kann
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Deutschlands außen- und sicherheitspolitische Entscheiderinnen und Entscheider stehen in einem sich äußerst dynamisch verändernden Umfeld vor großen Herausforderungen. Die vielschichtige Mischung von oft neuen Themen, Technologien und Akteuren fordert die politische Analyse- und Handlungsfähigkeit der Bundesregierung heraus. Die immer stärkere Verflechtung geopolitischer und geoökonomischer Interessen mit technologischen Abhängigkeiten bedroht Deutschlands Sicherheit und Wohlstand. Diese Herausforderungen lassen sich schwer den Zuständigkeiten einzelner Ministerien zuordnen, sondern betreffen meist Querschnittsthemen.

Dieser Aktionsplan ist im Rahmen des Berichts Smarte Souveränität der Ideenwerkstatt Außenpolitik, gefördert durch Stiftung Mercator, entstanden.

 

Empfehlungen

1. Zusammendenken und gemeinsam handeln: Relevante Politikfeder vernetzen

2. Antizipieren: Aufbau und Vernetzung von Foresight-Kapazitäten

3. Verstetigen: Strategische Debatten fördern



Angesichts des rasanten Wandels im internationalen System, der sich deutlich verschlechterten strategischen Lage und des tiefgreifenden Wandels durch Digitalisierung ist es höchste Zeit für Deutschland, seine Außen- und Sicherheitspolitik institutionell besser zu unterbauen. Die Bundesregierung trägt die Verantwortung dafür, dass der Umgang mit parallelen, komplexen Krisen und langfristigen Entwicklungen besser gelingt als bisher.

Durch eine modernere institutionelle Vernetzung innerhalb der Bundesregierung unter Einbeziehung von Wissenschaft und Zivilgesellschaft und durch die bewusste Organisation von strategischen Debatten im vertraulichen und im öffentlichen Raum würde Deutschland seine Chancen auf frühzeitige und umfassend reflektierte Handlungsfähigkeit verbessern. 

Diese Vorschläge sind keine institutionelle Fingerübung oder inhaltsleere Kästchenschieberei. Neue und sich vom Bisherigen unterscheidende Analysen, Sichtweisen und Lösungskonzepte können entstehen, wenn neue Räume und Anlässe geschaffen werden. Der viel beschworene politische Wille ist kein binärer Zustand: vorhanden oder nicht vorhanden. Im Sinne guter Strategie ist politische Handlung das Ergebnis eines ständigen Abgleichs zwischen Zielen und Mitteln mit Blick auf die Frage: Was kann ich erreichen, und was will ich erreichen? Dieser Abgleich entsteht durch Menschen, die ihre Ideen und Konzepte über Institutionen und Prozesse zusammenführen. Welche Menschen, wie und wann in einem Entscheidungsprozess zusammenkommen und über welche Entscheidungskompetenzen sie verfügen, hat erheblichen Einfluss auf die ins Auge gefassten Optionen, die inhaltlichen Entscheidungen und auch ihre Implementierung. 

Wandel ist jedoch nur möglich, wenn er im politisch-gesellschaftlichen Umfeld der Entscheider mitgetragen wird. Dazu reicht es nicht, Entscheidungen zu verkünden, sondern die Beteiligten müssen über die richtige Lösung streiten und ihr Ergebnis dann erklären können – schon im Vorfeld, nicht erst, wenn die Krise da ist.

Damit ist ein dritter Aspekt angesprochen, die Vorsorge. Politische Vorstellungen, aber auch Mittel und Instrumente müssen entwickelt werden, oft über Jahre. Die Entscheider müssen versuchen, die Zukunft zu antizipieren. Dazu gehört, unabweisliche Trends und gesicherte Entwicklungen fortzuschreiben, aber auch Szenarien durchzuspielen, die unbekannte, aber plausible Entwicklungen antizipieren. 

Die politischen Reflexionsprozesse der vergangenen Jahre (Weißbücher, Reviews, Strategien) haben die neuen Entwicklungen zwar ausführlich analysiert, zum Teil auch ressortübergreifend, die Strukturen und Prozesse der Entscheidungsfindung aber weitgehend unangetastet gelassen. Das war vor allem der Einsicht geschuldet, dass einem integrierten Ansatz bei aller weithin unbestrittenen sachlichen Notwendigkeit schwierige ressort- und koalitionspolitische Machtfragen entgegenstanden (z.B. Weißbuch 2016). Der Koalitionsvertrag von 2018, der unter der Überschrift „Außen-, sicherheits- und entwicklungspolitische Handlungs- und Strategiefähigkeit sicherstellen“ lediglich die stärkere Förderung mehrerer Thinktanks empfahl, hat das Problem eher illustriert als adressiert. Seither hat sich die weltpolitische Dynamik durch die COVID-19-Pandemie und die verschärfte Großmachtkonkurrenz noch beschleunigt. Die Koalitionsverhandlungen im Herbst 2021 sind eine große Chance, sowohl die außen- und sicherheitspolitische Analysefähigkeiten der Bundesregierung zu erneuern als auch die in die Jahre gekommenen Strukturen und Prozesse deutscher Entscheidungsfindung an die Herausforderungen anzupassen. Dieses Fenster der Gelegenheit darf sich nicht ungenutzt wieder schließen. 

Ohne eine Erneuerung und Anpassung droht sich die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik in weitgehend reaktivem Handeln auf externe Krisen zu erschöpfen.

Ohne eine solche Erneuerung und Anpassung droht sich die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik in weitgehend reaktivem Handeln auf externe Krisen zu erschöpfen. Sie fällt dann immer weiter hinter die Dimension der neuen Bedrohungen zurück. Gelingt hingegen eine echte Weiterentwicklung, dann kann daraus mehr Führungskraft für das Handeln der Bundesregierung erwachsen. Die zwingend erforderliche Übernahme von Verantwortung in Europa und der Welt würde erkennbar an Rahmen und Richtung gewinnen. Deutschland könnte über die Wechselfälle zu erwartender Krisen hinweg kohärenter handeln. Zugleich würde eine schlüssigere Kommunikation mit Bürgerinnen und Bürgern ebenso wie mit Deutschlands Partnern und Verbündeten ermöglicht.

Die Afghanistankrise hat illustriert, welche Schwierigkeiten die Bundesregierung damit hat, Krisen zu antizipieren, für sie zu planen und sie bestmöglich zu bewältigen. Während wichtige Informationen zur Lageentwicklung in Afghanistan durch Botschaftsberichte und geheimdienstliche Informationen vorlagen, konnte nicht sichergestellt werden, dass diese verknüpft sowie inhaltlich und politisch angemessen bewertet wurden. Die notwendige Abstimmung und Entscheidung unter den relevanten Ministerien, Nachrichtendiensten und schließlich auch dem Krisenstab des Auswärtigen Amtes gelangen nur unzureichend. 

Strukturveränderungen und Strategieprozesse stellen kein Allheilmittel dar. Sie können weder den politischen Willen ersetzen noch können sie die politische Abwägung in der konkreten Entscheidungssituation präjudizieren. Aber angesichts der Querschnittsnatur vieler neuer Herausforderungen, denen die Bundesregierung bislang aufgrund des ausgeprägten Ressortdenkens der Ministerien nicht gerecht werden kann, müssen jetzt neue Instrumente geschaffen werden, um frühzeitiges, schlüssiges und entschiedenes Handeln zu unterstützen.

Bestandsaufnahme 

Im Gegensatz zu seinen Bündnispartnern (UK Integrated Review, US National Security Strategy) verfügt Deutschland über keine umfassende außen- und sicherheitspolitische Strategie. In der letzten Legislaturperiode wurde eine Reihe strategischer Ansätze und Leitlinien vorgelegt, darunter das Weißbuch der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr von 2016, sowie regionen- und themenspezifische Leitlinien der Bundesregierung, beispielsweise zur Krisenprävention (2017) und zum Indopazifik (2020). Primär soll die Definition der außen- und sicherheitspolitischen Strategie aber auf Ebene der Europäischen Union und der NATO stattfinden. 

Sowohl das Weißbuch der Bundesregierung als auch die Leitlinien zur Krisenprävention sehen die Entwicklung eines ressortübergreifenden und „vernetzten“ Ansatzes in der Außen- und Sicherheitspolitik vor. In der Praxis fehlt es aber oft an Abstimmung, einerseits zwischen operativer Ebene und politischer Steuerung, andererseits auf der höchsten politischen Ebene zwischen den Ressorts. Beispiele dafür sind nicht abgestimmte Erklärungen aus dem Kabinett (zum Beispiel die Nordsyrien-Initiative) und Parallelkommunikationen (zum Beispiel sechs verschiedene Strategien zu Afrika in sechs Jahren). Die fehlende Kohärenz zeigt nicht nur, welche Kommunikationsmängel und Revierstreits zwischen den Ressorts bestehen. Sie verhindert auch eine konsistente Kommunikation an die Bevölkerung und trägt zur Verunsicherung genau der europäischen und transatlantischen Bündnispartner bei, auf die Deutschland in seinem außen- und sicherheitspolitischen Handeln angewiesen ist.

Es fehlt an „Transmissionsriemen“, die die Ergebnisse der Arbeitsebene auf die strategisch-politische Ebene heben.

Für außen- und sicherheitspolitische Fragen existieren bereits diverse Formate der Ressortkoordinierung. Die Koordination erfolgt dabei primär in einer wöchentlichen Staatssekretärsrunde und über die gemeinsame „nachrichtendienstliche Lage“ mit Staatssekretären und den Leitern der Sicherheitsbehörden und Nachrichtendienste. Zudem gibt es Treffen zu Einzelthemen auf Staatssekretärsebene sowie Task-Force-Formate auf Unter-Abteilungsleitungsebene. Doch diesen Zusammenkünften fehlt es an Regelmäßigkeit und Verbindlichkeit. Somit hängt die Ressortkoordination häufig vom politischen Willen oder dem persönlichen Verhältnis der Beteiligten ab. Insbesondere fehlt es an „Transmissionsriemen“, die die Ergebnisse der Arbeitsebene auf die strategisch-politische (Kabinetts-) Ebene heben. 

Deutschland verfügt über den Bundessicherheitsrat – einen Kabinettsausschuss bestehend aus Bundeskanzler, Kanzleramtschef, Außen-, Justiz-, Verteidigungs-, Wirtschafts- und Entwicklungsminister als ständige Mitglieder. Dieser befasst sich jedoch primär mit der Genehmigung von Rüstungsexporten. Initiativen, den Rat zum Koordinationsorgan auszubauen – vorgeschlagen im rot-grünen Koalitionsvertrag 1998 und im Weißbuch 2016 – liefen ins Leere. Immer wieder wird einer Weiterentwicklung des Gremiums das Argument entgegengestellt, dass im traditionell koalitionsregierten Deutschland eine mögliche Bündelung von Entscheidungen im Sicherheitsrat eine unzulässige Machtverschiebung in Richtung Kanzleramt bedeute. In der Tat muss die Balance zwischen Richtlinienkompetenz und Ressortprinzip gewahrt bleiben, aus politischen wie aus verfassungsrechtlichen Gründen. Diese Bedenken sollten aber nicht dazu führen, dass Verbesserungen der außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsmechanismen weiter blockiert werden.

Eine gemeinsame Strategie zu verfolgen, erfordert zunächst einen Konsens in der Analyse sowie ein gemeinsames Nachdenken über die Zukunft. Ansätze wie der PREVIEW-Mechanismus im Auswärtigen Amt helfen bei der Krisenfrüherkennung ebenso wie bei der Schaffung eines gemeinsamen Lageverständnisses. 2019 wurde zudem das „Lagezentrum Außen- und Sicherheitspolitik“ der Bundesregierung eingerichtet. Trotzdem fehlt es immer noch an einem einheitlichen Lagebild sowie an der politischen Einordnung und Bewertung dieses Lagebilds. Bisher bestehen viele, meist unverbundene Ansätze in einzelnen Ressorts, beispielsweise im Planungsstab des Kanzleramtes, im Amt für Planung des Bundesverteidigungsministeriums und in der Abteilung S des Auswärtigen Amtes.

Defizite bestehen auch in der Vernetzung von wissenschaftlicher Expertise mit politischen Realitäten. Die institutionellen Grenzen bremsen den Informationsfluss, obwohl Fachkompetenz zu Themen wie der Chinapolitik, dem Klimawandel und dem Umgang mit neuen Technologien dringend gebraucht wird. Im Gegensatz zu Partnerländern ist in Deutschland die „Drehtür“ zwischen politischer Praxis und Analyse mit einigen wenigen Ausnahmen zu schwergängig. 

Für mehr Handlungsfähigkeit braucht es breitere, innovativere Debatten.

In der Arbeit des Bundestags ist wenig Raum für die Auseinandersetzung mit strategischen außenpolitischen Fragen. Die Debatten beschränken sich häufig auf tagesaktuelle Themen. Für die Bildung von Konsens und strategischem Bewusstsein braucht es aber breiter gefasste Diskussionen, im Parlament und im öffentlichen Raum. Das gilt umso mehr, als die neue Außen- und Sicherheitspolitik die Grenze zwischen Außen und Innen durchdringt und eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe darstellt. Doch das Risikobewusstsein und Bedrohungsverständnis der Bürger und Bürgerinnen entsprechen häufig nicht denen der Bundesregierung. Dies erschwert ein kohärentes außenpolitisches Handeln Deutschlands und der EU. Sicherheitspolitische Debatten finden in der Bevölkerung nur punktuell Beachtung, was auch daran liegen mag, dass sie oft reflexartig geführt werden. Für mehr Handlungsfähigkeit braucht es daher breitere, innovativere Debatten. 

Die neue Bundesregierung steht also vor der Herausforderung, der neuen Wirklichkeit mit einer Analyse und einer Struktur zu begegnen, die den Herausforderungen mit Blick auf Breite und Komplexität der Themen, Schnelligkeit der Reaktion und Kohärenz der Antwort gewachsen ist. Zugleich muss sie helfen, die Beharrungskräfte von Ressortinteressen zu überwinden. Neue Gremien oder Prozesse müssen den Besonderheiten des deutschen Regierungssystems – also den Koalitionsregierungen, dem Ressortprinzip und dem föderalen Wesen des Staates – gerecht werden. Im deutschen außen- und sicherheitspolitischen Handeln muss zudem der „europäische Reflex“ noch stärker werden, um die Wahrnehmung deutscher Politik bei den europäischen und internationalen Partnern und die Wirkung auf sie konsequent einzubeziehen. Zugleich muss die Anschlussfähigkeit der deutschen Entscheidungsfindung an europäische Entscheidungsprozesse sichergestellt sein.

Empfehlungen

 1.     Zusammendenken und gemeinsam handeln: Relevante Politikfelder vernetzen 

Aufwertung des Bundessicherheitsrats

Der Bundessicherheitsrat sollte zum zentralen Kabinettsausschuss für außen- und sicherheitspolitische Fragen werden, um ein gemeinsames Verständnis der zeitnahen und langfristigen Herausforderungen zu entwickeln (siehe auch Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik). Er sollte strategische Orientierungsdebatten auf politischer Ebene gewährleisten und konkrete, zeitgerechte Entscheidungen von strategischer Tragweite ermöglichen – das heißt, eben kein Mikromanagement betreiben. Er sollte sich regelmäßig treffen, beispielsweise monatlich oder alle zwei Monate. Seine strategisch-planerische Dimension sollte getrennt bleiben von der Arbeit des Krisenstabes der Bundesregierung. Dadurch wird die strategische Planung auf Ebene der Bundesminister auf grundgesetzkonforme Weise institutionalisiert. 

Ein fester Kreis von Ressorts sollte am Bundessicherheitsrat beteiligt werden, darunter das Bundeskanzleramt, Auswärtige Amt, das Bundesverteidigungsministerium, das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat sowie das möglicherweise zu gründende Bundesdigitalministerium. Weitere Teilnehmer (Ressorts, Länder, Nachrichtendienste) sollten je nach Thema und Herausforderung ad hoc teilnehmen. In diesem Format sollte von einem breiten Sicherheitsbegriff ausgegangen werden, mit besonderer Betonung etwa geoökonomischer und geotechnologischer Fragen, Cybersicherheit oder des Zusammenhangs zwischen Klima und Sicherheit. Menschliche Sicherheit und Nachhaltigkeit gehören ebenso in dieses Spektrum. 

Die thematische Zuarbeit zum Ausschuss sollte so organisiert werden, dass die Ressorts eine starke Stellung behalten: Sie würden den Sachverstand einbringen; das Kanzleramt würde lediglich die Koordinierung übernehmen. Die Federführung für andere und zum Teil bereits etablierte Koordinierungsformate auf Staatssekretärsebene und darunter sollte bei den Ressorts verbleiben. Der Bundessicherheitsrat berät auch weiterhin über Rüstungsexportentscheidungen.

Unterstützt werden sollte die Arbeit des Bundessicherheitsrats durch ein ständiges Sekretariat, das zur Hälfte mit Experten und Methodikern (etwa zum Umgang mit Big Data, Strategic Foresight etc.) und zur anderen Hälfte mit Vertreterinnen und Vertretern relevanter Ressorts besetzt würde. Das Sekretariat sollte Expertisen ausarbeiten und selbstständig Themen für die Diskussion im Bundessicherheitsrat vorschlagen. Es sollte das Gremium überdies mit deutschen und internationalen Experten und vergleichbaren Gremien vernetzen und den inhaltlichen Austausch, etwa mit EU, NATO und den Vereinten Nationen pflegen. Ziel der Arbeit des Sekretariats sollte sein, die Mitglieder des Gremiums bestmöglich inhaltlich zu unterstützen, mitunter aber auch ungemütliche Impulse für die Diskussion zu setzen, um die Antizipations- und Vorstellungskraft zu stärken und früher das Bewusstsein für Handlungsnotwendigkeiten zu schaffen. 

Blick zu den Partnern: Beispiel Großbritannien

Großbritannien hat 2010 einen Nationalen Sicherheitsrat (NSR) eingeführt. Er dient als Koordinationsmechanismus zur gemeinsamen Strategiefindung und -implementierung auf der Grundlage eines einheitlichen Lagebilds. Der NSR hat ein Sekretariat mit inzwischen 200 Mitarbeitern, ist im Cabinet Office (vergleichbar mit dem Kanzleramt) angesiedelt, und wird durch einen Nationalen Sicherheitsberater geleitet. Im NSR vertreten sind das Prime Minister’s Office sowie das Außenministerium (FCDO), Home Office, Treasury, Cabinet Office und die Ministerien für Verteidigung, Wirtschaft, Handel und Justiz. Die Teilnahme weiterer Ministerien, Chefs des Generalstabes und der Nachrichtendienstes sowie der Opposition ist möglich. Sitzungen werden unter Federführung einzelner Ministerien in „Implementation Groups“ vorbereitet, wo die Themen und Entscheidungsvorlagen ressortübergreifend besprochen werden, bevor sie auf politischer Ebene diskutiert werden. Für den NSR wird zudem ein ressortübergreifendes Lagebild erstellt, basierend auf Analysen von Nachrichtendiensten, Sicherheitsdiensten und Fachressorts. 

Die verbesserte politische Koordinierung wird als Fortschritt gewertet, zum Beispiel in einem Assessment des Parlaments 2019. Auch ist kein Bedeutungsverlust des Außenministeriums eingetreten – dieses nimmt in der Arbeit des NSR weiterhin eine Schlüsselrolle ein. Die Integrated Review 2021 fordert sogar noch mehr inter- und interministerielle Koordination und weitreichendere Kompetenzen für den NSR. 

Vereinbarung eines Strategieprozesses für das erste Jahr der neuen Bundesregierung

Alle neuen Strukturen sollten sich aus inhaltlichen Prämissen und Prioritäten ableiten. Nur so wird ihr Nutzen für Deutschlands Sicherheit und Wohlstand deutlich und lässt sich gegenüber der deutschen Bevölkerung und Deutschlands Partnern plausibel kommunizieren. Am Anfang sollte deshalb ein Strategieprozess stehen, der die im Koalitionsvertrag vereinbarten außen- und sicherheitspolitischen Ziele zeitlich in kurz-, mittel- und langfristig priorisiert, ausdifferenziert und operationalisiert. Ein solcher Prozess sollte auch dazu genutzt werden, konkret darüber zu nachdenken, welche Ziele Deutschland mit welchen Partnern und in welchen Allianzen durchsetzen kann. Die Federführung sollte beim Kanzleramt liegen, eingebettet in die Struktur des Bundessicherheitsrates.

Ein solcher Strategieprozess erlaubt – anders als die Koalitionsverhandlungen – die Einbeziehung europäischer und internationaler Partner und Perspektiven, etwa mit Hilfe von bilateralen Konsultationen und themenspezifischen Fokusgruppen. Somit erhöht er die Transparenz und Berechenbarkeit der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für Partner und Verbündete. Um eine maximale Orientierungs- und Bindewirkung zu entfalten, sollte der Prozess früh in der Legislaturperiode beginnen. Spätere Anläufe dienen allzu leicht vor allem der nachträglichen Rationalisierung bereits ad hoc getroffener Entscheidungen.

Der Strategieprozess sollte nach Möglichkeit alle Ressorts einbinden. Er soll und muss auch neue Dimensionen der Wechselwirkung zwischen „Innen“ und „Außen“ erschließen und für Ressorts nachvollziehbar machen (ein Beispiel ist das Thema 5G und Netzwerksicherheit). Außenpolitische Handlungs- und Führungsfähigkeit braucht einen möglichst breiten innenpolitischen Konsens; deswegen sollte die Zivilgesellschaft von Beginn an eingebunden werden, zum Beispiel über Bürger- und Wahlkreisräte.

Außenpolitik braucht Kontinuität, Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit.

Der Strategieprozess sollte in einer nationalen Sicherheitsstrategie münden. Es wird dann Aufgabe des Bundessicherheitsrates sein, die Umsetzung der dort formulierten Ziele voranzutreiben und gegenüber dem Deutschen Bundestag jährlich Bericht zu erstatten. Zu dieser Gelegenheit sollte die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler jedes Jahr eine außen- und sicherheitspolitische Grundsatzrede halten, vergleichbar der jährlichen Rede zur Lage der Union, die von dem Präsidenten oder der Präsidentin der Europäischen Kommission gehalten wird (siehe auch Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik). 

2.     Antizipieren: Aufbau und Vernetzung von Foresight-Kapazitäten

Zur Verbesserung der Resilienz deutscher Außenpolitik und der Fähigkeit zur Krisenbewältigung sollte die strategische Vorausschau stärker priorisiert werden, um kurz-, mittel-, und langfristige Risiken besser abschätzen zu können. Dazu sollten bestehende Foresight-Initiativen der Bundesregierung (zum Beispiel im Vorausschau-Referat im Kanzleramt, dem BMBF-Zukunftskreis oder PREVIEW im AA) besser in die Regierungspraxis integriert werden. Ein ressortübergreifender Foresight-Prozess sollte angestoßen werden, und in allen Ressorts sollten „Focal points“ für Foresight-Fragen bestimmt werden. Die Ergebnisse sollten in die Arbeit des Bundessicherheitsrats eingespeist werden.

Methodische Fragen müssen ressortübergreifend koordiniert werden. Die Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) kann dabei als Plattform für den Austausch zwischen den Ressorts und die internationale Vernetzung in Foresight-Fragen genutzt werden. Die Entwicklung eines besseren deutschen Foresight-Ansatzes sollte sich an europäischen und internationalen Foresight-Netzwerken und -produkten orientieren. Diese sollten ausgewertet und für Deutschland durchgespielt werden (beispielsweise ESPAS als Foresight-Netzwerk auf Ebene der EU-Institutionen, ‚Global Trends 2030‘ des National Intelligence Council). 

Blick zu den Partnern: Beispiele Finnland und Frankreich 

In Finnland werden Vorausschau-Aktivitäten im Amt des Ministerpräsidenten koordiniert und gefördert, aber als gesamtgesellschaftliche Übung im „Vorausdenken“ konzipiert. Die ‚Government Foresight‘ Group, zu der auch aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gehören, koordiniert die nationalen Arbeiten im Vorausschau-Netzwerk. In jeder Legislaturperiode legt die Regierung einen „Report on the Future“ zu strategischen zukunftsrelevanten Themen im Parlament vor. Darüber entwickeln Ministerien jeweils ressortspezifische ‚Future Reviews‘. 

In Frankreich dient das „alerte précoce“-System der Frühwarnung: Zwischen Ressorts und Nachrichtendiensten findet etwa alle zwei Monate ein informeller Austausch statt. Für einen Zeithorizont von drei bis sechs Monaten wird eine Bewertung entlang der folgenden Kategorien durchgeführt: (1) absehbare Veränderungen im internationalen Kontext, (2) anstehende Ereignisse/Wahlen/Daten, (3) denkbare und wahrscheinliche disruptive Szenarien in aktuellen und laufenden Krisen, (4) „signaux faibles“ (schwache Signale), also Hinweise auf mögliche, sich bereits abzeichnende neue Krisen.

3.     Verstetigen: Strategische Debatten fördern

Außenpolitisches Handeln braucht eine Balance zwischen krisengeleiteten Ad-hoc-Maßnahmen und einer langfristigen Strategie, die die Voraussetzungen dafür schafft, künftige Herausforderungen und Brüche besser zu bewältigen. Es ist wichtig, den dafür nötigen gesellschaftlichen Rückhalt sicherzustellen – Außenpolitik braucht Kontinuität, Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit. Fortlaufende ressortübergreifende Koordinierung und Strategieprozesse der Bundesregierung sind wichtige Bausteine. Sie sollten ergänzt werden um Maßnahmen, die den Personalaustausch zwischen Politik und Forschung erleichtern, die außenpolitische Debatte im Bundestag entwickeln und die Bevölkerung für außenpolitische Chancen und Risiken sensibilisieren.

Austausch zwischen Ministerien und wissenschaftlicher/externer Expertise ausbauen

Der Personalaustausch zwischen Politik und Forschung sollte deutlich intensiviert werden. Eine politisch gewollte und institutionell erleichterte größere Durchlässigkeit würde zu mehr Expertise in den ministeriellen Apparaten und zugleich einer größeren Praxisnähe der wissenschaftlichen Politikberatung führen. Dazu braucht es durchlässigere Personalstrukturen in den Behörden, vor allem die Schaffung von Experten-Stellen und die Überprüfung des Rotations- und Generalistenprinzips. Weiterhin sollten institutionelle Mittlerstrukturen zwischen der Politik und der wissenschaftlichen Expertise geschaffen werden. 

Anlässe für strategische Debatten im Deutschen Bundestag 

Der richtige Ort, um die zu Beginn der Legislaturperiode gesetzten Schwerpunkte und Orientierungen zu überprüfen, ist der Deutsche Bundestag. Die Bundesregierung sollte sich verpflichten, einmal jährlich einen „Bericht zur Lage Deutschlands in Europa und der Welt“ zu erstatten. Ein solcher Bericht, ausgearbeitet unter Federführung des Bundessicherheitsrates, würde im Parlament einen geeigneten Anlass schaffen, um über tagesaktuelle Themen und Einsatzmandate hinaus strategische außen- und sicherheitspolitische Debatten zu führen und gleichzeitig die Umsetzung der nationalen Sicherheitsstrategie zu reflektieren. Vorstellbar ist auch eine von der Regierung einmalig eingesetzte „Kommission zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik“, die aus unabhängigen Expertinnen und Experten und ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern besteht und auf die gesellschaftliche Konsensbildung in außen- und sicherheitspolitischen Fragen abzielt. Diese Maßnahmen, ebenso wie eine „nationale Sicherheitswoche“ im Parlament, würden die wichtige Aufgabe erfüllen, die Debatte zu verbreitern und das Bewusstsein für externe Bedrohungen und die ihretwegen notwendigen politischen Maßnahmen zu verbreitern.

Bibliografische Angaben

Schwarzer, Daniela , and Christian Mölling. “Aktionsplan Strukturen deutscher Außenpolitik .” German Council on Foreign Relations. September 2021.

Aktionsplan zum DGAP Bericht Nr. 16 vom 20.09.2021: „Smarte Souveränität“. Mehr Informationen zur „Ideenwerkstatt Deutsche Außenpolitik“ finden sie hier.

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