Karl Kaiser und sein Erfolgsrezept. Was würde der Patriarch wohl heute tun?
Thomas Kleine-Brockhoff, DGAP-Direktor
Wie würde Karl Kaiser wohl heute vorgehen? Wie würde er, wäre er noch im Amt des Direktors der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), jenem Amt, das er ganze 30 seiner nunmehr 90 Lebensjahre bekleidete, wie würde also Karl Kaiser die außenpolitischen Herausforderungen unserer Zeit angehen? Etwa das Problem, eine langfristige Strategie gegenüber einem neo-imperialen Russland zu entwerfen? Oder die Herausforderung, den rechten Grad der Nähe zu einem zunehmend schwer berechenbaren Amerika, künftig unter Donald Trump, zu finden?
Über die Antwort muss man nicht lange spekulieren. Ganz klar: Kaiser würde eine Studiengruppe gründen. Er würde alle, die vom Thema etwas verstehen, um einen Tisch versammeln, ob aus Parlament, Regierung, Wirtschaft, Wissenschaft, Publizistik und dem, was heute Zivilgesellschaft heißt. Er würde Augenhöhe herstellen. Und unbedingt Vertraulichkeit. Damit jene, die sich ansonsten in Parlament und Öffentlichkeit herzhaft streiten, nicht dabei ertappt werden, wie sie einander verstehen, oder doch zumindest um gemeinsame Lösungen ringen. Kaiser würde einen Raum schaffen, in dem gedankliche Um- und Neuorientierung möglich erscheint. Am Ende stände ein Memorandum, eine Denkschrift, manchmal vertraulich, meist öffentlich. Der Text würde nicht verharren bei der Analyse, sondern konkret und praktisch Handlungsanleitungen liefern; oder etwas pompöser formuliert: eine Strategie vorschlagen. Und die würde nicht zwischen zwei Buchdeckeln begraben oder in eine kaum auffindbare Website versenkt, sondern persönlich hineingetragen in jene Büros und zu jenen Menschen, auf die es ankommt.
Es ist diese Methode Kaiser, die zur Methode DGAP wurde. So hat Karl Kaiser die DGAP mit jahrzehntelanger Kärrnerarbeit am Werkstück der außenpolitischen Beratung zu dem gemacht, was sie in seiner Zeit wurde: eine der führenden außenpolitischen Denkfabriken. Selten hat eine einzelne Person eine Institution so nachhaltig geprägt.
Der Erfolg der Methode Kaiser ist untrennbar mit der Person Kaiser verbunden. Drei Wesenszüge stechen hervor: Karl Kaiser ist ein Menschenfänger im besten Sinne. Jeder kennt Kaiser, und Kaiser kennt jeden. Schüler, Kollegen, Freunde: Das Netzwerk ist riesig und am Ende auch ein Einfluss-Instrument. Seit Jahrzehnten ist Karl Kaiser eine Ein-Mann-Mentoring-Fabrik. An wie vielen Stellenbesetzungen mag er mitgewirkt haben, und manchmal im Stillen? Wie viele Organisationen, Kreise, informelle Clubs mag er gegründet haben? Nach wie vielen akademischen Vorträgen hat er ein gemeinsames Dinner mit den wichtigsten Zuhörern organisiert, weil ja bekanntlich Erkenntnis durch den Magen geht? Ja, Karl Kaiser mag CEO gewesen sein und Direktor, Professor bis heute, und doch er ist zuvörderst ein Mensch, der mit anderen Menschen kann.
Und dann ist Karl Kaiser auch noch Sozialdemokrat. Überzeugt und seit Jahrzehnten. Berater sozialdemokratischer Minister und Kanzler. Aber selten hat ein Parteimitglied zugleich seine Überparteilichkeit in der Führung einer Institution so sehr gelebt wie Karl Kaiser. Er sah in dem, was er manchmal amerikanisch „bipartisanship“ nannte, jenes eine überwältigend wichtige Prinzip, das es eisern zu verteidigen galt, wollte die DGAP erfolgreich sein.
Schließlich ist Karl Kaiser eine ungewöhnliche Spezies der Gattung Professor. Kein Bewohner eines Elfenbeinturms, sondern ein Praktiker mit theoretischer Bildung. Wissenschaft ist für ihn Methode, nicht Ziel. Das Ziel bleibt immer die Relevanz. Nur so hat er zum Sinnbild der Politikberatung in Deutschland werden können. Als er 2003 sein Amt an der DGAP abgab und eine Professur an der Harvard-Universität annahm, da nannte man ihn bewundernd „Patriarchen“, auch „Fixpunkt im Kosmos der internationalen Beziehungen“.
Heute, gut 20 Jahre nach seinem Ausscheiden aus der DGAP, stellt sich die Frage, ob die Methode Kaiser weiterhin tauglich ist, auch für die heutige Zeit oder ob sie sich überlebt hat und gebunden bleibt an Ära und Person. Gewiss, der enorme Einfluss der Studiengruppen der frühen Jahre mag zu tun haben mit jener Bonner Republik, die regiert wurde aus einer Art Bundesdorf, deren Abläufe geprägt waren durch den Rhythmus der Schranken an der einen Bahnlinie, die Bonn zweiteilte. Alles war übersichtlicher, kleiner, winzig gar. Lobbyisten musste sich hier kaum jemand halten. Man kannte sich und hockte ohnedem zusammen, ob im Tennisclub oder beim Lieblingskneipier. Institutionenkonkurrenz war weitgehend unbekannt, es gab von allem eins. Und so fand die Deutschland AG, die Verflechtung von Wirtschaft und Banken, in der DGAP unter Kaisers Führung ihre außenpolitische Entsprechung.
Ist es also nicht nur unvermeidlich, sondern vielleicht sogar gut, dass es eine so machtvolle Plattform-Bildung wie unter Karl Kaiser in der Berliner Republik kaum mehr gibt?
Einspruch! Umgekehrt wird eher ein Schuh daraus. Es ist gerade unsere Zeit, die eine Rückbesinnung auf die Methode Kaiser sinnvoll erscheinen lässt. Es ist die strategische Offenheit unserer Tage, die Desorientierung erzeugt, sogar Verwirrung stiftet, und die deshalb eine Lösungssuche am runden Tisch erfordert.
Seit Jahrzehnten polarisiert Außenpolitik nicht mehr so stark wie heute, wird über die Prinzipien von Deutschlands internationalen Beziehungen so herzhaft gestritten. Allzu leicht fühlen sich Gruppen ungehört, marginalisiert, ausgeschlossen. Dass sie machtvoll sind oder sein sollten, muss dem Gefühl der Exklusion nicht entgegenstehen. Hier kann ein Brückenschlag so hilfreich sein wie ehedem. Heute würde „Multistakeholder-Taskforce“ heißen, was Karl Kaiser einst als Studiengruppe begründete. Und es würde wohl mehrere davon geben, schon weil Berlin kein Bundesdorf ist. Die Zahl der Spieler und Institutionen ist größer, aber die Tendenz zum Rückzug in immer kleinere Blasen aus Gleichgesinnten eben auch. Diese Blasen gilt es, platzen zu lassen.
Karl Kaiser, der 90 Jahre alt wird, hat der Republik und seiner Institution, die 70 Jahre alt wird, einen Werkzeugkasten hinterlassen, der sich adaptieren, modernisieren und für die Zukunft nutzbar machen lässt. In der Ära der „Zeitenwende“ ein ideales Erbe.
Zu seinem Geburtstag möchte die DGAP Karl Kaiser herzlich gratulieren – unter anderem in Form der vorliegenden Schrift. Wegbegleiter und Erben von beiden Seiten des Atlantiks ehren nicht nur sein Lebenswerk, sondern zeigen, dass er bereits früh große Themen der internationalen Politik erkannte – auch damals vielfach unterschätzte Herausforderungen, etwa die Macht der Digitalisierung oder die Gefahr der Erderwärmung.
Solche Themen greifen die Autorinnen und Autoren auf und blicken in die Zukunft. Ihre Beiträge handeln von Demokratie, Frieden und globaler Ordnung, von technologischen Einflusssphären, geopolitischer Souveränität und der globalen Sicherheitsbedrohung durch den Klimawandel.
Sie verweisen darauf, was Karl Kaisers Werk neben seiner Methode so einzigartig macht: seine außergewöhnliche Weitsicht.