Die russischen Streitkräfte gehen allmählich dazu über, Sjewjerodonezk vom Rest der Donbass-Front abzuschneiden. Sie haben bereits große Teile der Stadt, inklusive des Zentrums, unter ihre Kontrolle gebracht.
Ukrainische Armee muss sich zurückziehen
Neben den regulären Streitkräften musste die Ukraine auch freiwillige Einheiten zur Verteidigung der Stadt einsetzen. Diese Verbände haben eine deutlich geringere Ausbildung und weniger Ausrüstung als die regulären Streitkräfte, was dazu führt, dass sie schwere Verluste erleiden.
Russische Einheiten haben bereits den Fluss Sewerskij Donez südlich von Sjewjerodonezk überquert und versuchen, nach Norden vorzustoßen. Ziel ist es, Lyssytschansk von Süden her unter Druck zu setzen, ohne den Fluss, der Sjewjerodonezk von Lyssytschansk trennt, gewaltsam überqueren zu müssen.
Zeitgewinn durch Gegenangriff
Am Wochenende hat die Ukraine Berichten zufolge einen lokalen Gegenangriff in Sjewjerodonezk gestartet, bei dem auch westliche freiwillige Kämpfer zum Einsatz kamen.
Der kurzfristige Erfolg konnte das Blatt zwar nicht wenden, verschaffte der Ukraine aber etwas Zeit, um die Verteidigung an anderen Abschnitten der Donbass-Frontlinie zu verstärken.
Sjewjerodonezk bedeutsam für die russische Propaganda
Es ist wichtig, sich die tatsächliche Bedeutung von Sjewjerodonezk vor Augen zu halten - oder, genauer gesagt, das Fehlen dieser Bedeutung. Die Schlacht um Sjewjerodonezk ist nicht mit der Schlacht von Stalingrad vergleichbar.
Die Stadt war vor dem Krieg nicht besonders groß oder wichtig. Ihre vermeintliche Bedeutung rührt daher, dass der Kreml versucht, sie als wichtig darzustellen - um ihre Einnahme, sobald diese erfolgt ist, zu Hause als großen Erfolg zu präsentieren.
Bislang keine strategische Niederlage für Ukraine
In Wirklichkeit jedoch wird ein potenzieller Verlust Sjewjerodonezks das strategische Bild nicht zu Ungunsten der Ukraine verändern. Daher ist es wichtig, nicht auf russische Propaganda hereinzufallen und den Verlust von Sjewjerodonezk nicht als strategische Niederlage für die Ukraine zu betrachten.
Sollte es den russischen Streitkräften gelingen, die Stadt einzunehmen, wird der Kreml dies mit ziemlicher Sicherheit als einen wichtigen Erfolg darstellen. Moskau wird behaupten, dass die "Befreiung" der Region Luhansk wichtige Fortschritte gemacht hat - obwohl auch die Nachbarstadt Lyssytschansk noch zum Oblast Luhansk gehört, ebenso wie einige weitere Dörfer westlich davon.
Trotz der geringen militärischen Bedeutung wird Russland wohl dennoch versuchen, die Einnahme von Sjewjerodonezk zu nutzen, um die öffentliche Unterstützung für eine weitere Offensive gegen die noch ukrainisch kontrollierten Teile des Donbass zu erhöhen.
Risiko für die ukrainische Armee
Nur für den Fall, dass bei der Einnahme der Stadt große ukrainische Verbände im Donbass eingekesselt werden, könnte eine Niederlage in Sjewjerodonezk zu einem strategischen Desaster für die Ukraine werden. Die wichtigste Entwicklung, die es zu beobachten gilt, ist daher, ob es den ukrainischen Streitkräften entweder gelingt, den russischen Vormarsch weiter westlich aufzuhalten oder sich organisiert zurückziehen können, um eine Einkreisung zu vermeiden.
Humanitäre Lage spitzt sich zu
Neben der militärischen Perspektive ist auch der humanitäre Aspekt von Bedeutung. Von den ursprünglich rund 100.000 Einwohnern befinden sich Berichten zufolge noch etwa 20.000 bis 30.000 Zivilisten in der Stadt. Sie sind seit Wochen von der Versorgung mit Lebensmitteln abgeschnitten; die öffentlichen Dienstleistungen sind aufgrund der Kämpfe seit langem eingestellt.
Die Stadt hat schwere Schäden erlitten, sowohl in den Wohngebieten als auch an der wichtigen Infrastruktur. Es bahnt sich daher eine schwere humanitäre Krise an, ähnlich der in Mariupol.
Zusammengefasst ist der Kampf um Sjewjerodonezk an sich nicht von großer strategischer Bedeutung, auch wenn Russland dies behauptet. Was diese Schlacht so wichtig macht, ist nicht das Schicksal des Gebiets, sondern das der ukrainischen Streitkräfte, die es verteidigen, sowie das der Zivilbevölkerung, die noch in der Stadt festsitzt.