Memo

19. Nov. 2021

Reformstrategie für die Währungsunion

Deutschland sollte der EU neue Impulse geben
Eurozone
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Seit Jahren wird die Europäische Union von außen politisch, technologisch und geoökonomisch herausgefordert, während von innen Staaten wie Polen und Ungarn mit einer Anti-Brüssel-Politik die Handlungsfähigkeit der EU unterminieren. Gleichzeitig hat die italienische Regierung unter Mario Draghi ernsthaft begonnen, Reformprojekte in Angriff zu nehmen, während Präsident Emmanuel Macron am europapolitischen Programm seiner angestrebten zweiten Präsidentschaft arbeitet und in Deutschland die Einsicht gereift ist, dass es wieder mehr europapolitischer Gestaltungsenergie bedarf. Die neue Bundesregierung sollte Mut beweisen und eine umfassende Reformstrategie für die Währungsunion vorlegen.

 

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Mit dem soeben von der Kommission ausgelösten Prozess zur Überarbeitung der zurzeit suspendierten Fiskalregeln sowie der ausstehenden Entscheidung über potenzielle Eigenmittel der EU zur Rückführung der Mittel des Recovery Funds liegen zwei Fragen zur Behandlung auf dem Tisch. Sie können entweder beide für sich entschieden werden oder die Union bringt die Kraft auf, auch die damit verbundenen, offenen Fragen zur europäischen Finanz-Governance zu lösen.

Rahmenbedingungen

Die Finanzarchitektur des Eurosystems ist unfertig

Der Euro ist seit seiner Einführung ein Erfolg am Kapitalmarkt. Aber trotz der Reformen des letzten Jahrzehnts ist die Architektur der Währungsunion unfertig. Die mit ihr verbundenen Konvergenzerwartungen unter den Mitgliedsländern haben sich nicht erfüllt – stattdessen ist das Gegenteil eingetreten.

Neue Institutionen wie der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM), gemeinsame Aufsichts- und Abwicklungsstrukturen im Rahmen der Bankenunion, aber auch die Maßnahmen der Europäischen Zentralbank (EZB) dokumentieren den festen Willen zum Zusammenhalt der EU-Mitgliedstaaten und haben den Währungsraum wirksam stabilisiert. Allerdings beruht das Kapitalmarktvertrauen in den Euro zu sehr auf der Annahme des Einsatzes von EZB-Ressourcen, dauerhaft niedrigen Zinsen sowie der fortgesetzten Unterstützung der wirtschaftlich erfolgreichen Länder der Währungsunion. Die Mitgliedstaaten werden an den Kapitalmärkten zunehmend als Emittenten wahrgenommen, die implizit durch einen über die EZB und den EU-Haushalt organisierten Haftungsverbund abgesichert sind, wobei für ein Kernmitgliedsland wie Italien der Zustand der faktischen „Fiscal Dominance“, also der Abhängigkeit der Geldpolitik von der Fiskalsituation, weithin als gegeben angenommen wird.

Der im Rahmen des Projekts „Next Generation EU“ (NGEU) aufgesetzte European Recovery Fund ist eine Reaktion auf die durch die Covid-19-Krise dramatisch verschärften wirtschaftlichen Asymmetrien innerhalb der EU. Er hat für Vertrauen an den Märkten gesorgt und kann als Beitrag zur wirtschaftlichen Erholung und Modernisierung der Volkswirtschaften der EU dienen. So beruht er auf durch die Mitgliedstaaten selbst ausgearbeiteten Plänen und die Bindung an Strukturreformen hat nicht zuletzt in Italien unter Ministerpräsident Draghi einen breit angelegten Reformprozess ausgelöst. Andererseits sind viele der durch die Mitgliedsländer vorgelegten Pläne nicht neu und mit ihnen verbundene Reformzusagen unsicher. Darüber hinaus werden ausschließlich nationale Projekte finanziert, nicht aber genuine „europäische Güter“ geschaffen, sieht man von den positiven Effekten ab, die erfolgreiche nationale Maßnahmen gegen den Klimawandel für den gesamten Kontinent haben können. Es ist insofern offen, inwieweit der Wiederaufbaufonds NGEU einen Beitrag zur wirtschaftlichen Dynamisierung Europas darstellt und eine Antwort auf die durch die Krise signifikant angestiegenen Schuldenlevels innerhalb der EU sein kann. Die vor dem Hintergrund einer offenen Erfolgsbeurteilung verfrühte Diskussion um die Verstetigung von NGEU im Sinne einer sogenannten „Fiskalkapazität“ für die Europäische Union beinhaltet das Risiko, dass mangels eines originären Reformkonzeptes die ad hoc zunächst von Frankreich und Deutschland gegebene Antwort auf die Corona-Krise mittelfristig zu einer Transferunion mutieren könnte.

Herausforderungen

Neue Wege in der europäischen Finanz- und Wirtschaftspolitik

Eine Zentralisierung der Fiskalpolitik mit bundesstaatlichen Instrumenten, wie sie vielfach gefordert wird, setzt eine glaubwürdige Perspektive für eine europäische politische Union voraus, die auf absehbare Zeit nicht gegeben ist. Die schleichende Entwicklung zu einer Transferunion würde politische Fliehkräfte auslösen und die Union langfristig wirtschaftlich und politisch schwächen.

Zur Sicherung der Währungsunion und der Entfaltung einer neuen wirtschaftlichen Dynamik gibt es jedoch andere Wege. Entsprechenden Gestaltungswillen vorausgesetzt, sind diese im politischen und institutionellen Gefüge der Europäischen Union auch umsetzbar. Gerade in einem inhomogenen Wirtschaftsraum eigenständiger Mitgliedsländer kommt diesem Gefüge eine besondere Bedeutung zu. Es erfordert sowohl mehr Gemeinschaft als auch mehr Eigenverantwortung der Staaten. Leitprinzipen dieses Gefüges sind daher Integration und Subsidiarität. Subsidiarität ist essenziell für das Funktionieren eines Staatenverbundes, in dem Zuständigkeiten sinnvoll gegliedert sind und Regelwerke durch Anreizsysteme zwecks Begrenzung negativer Externalitäten ergänzt werden. Integration muss die Wahrnehmung von Gemeinschaftsaufgaben ermöglichen, den Rahmen für das Ausschöpfen ökonomischer Potenziale setzen und die Voraussetzungen für Risikoteilung schaffen.

Risikoteilung wird zumeist verengt daran gemessen, inwieweit Finanzrisiken durch Mitgliedsländer gemeinsam getragen werden. Gerade in einem Staatenverbund kommt jedoch der Entflechtung und Diversifizierung von Finanzrisiken sowie deren Verteilung auch auf private wirtschaftliche Akteure eine entscheidende Rolle zu. Sie sorgen für einen ergänzenden Risikoausgleich, der es überdies erlaubt, die Sozialisierung von Risiken unter Steuerzahlern durch Beteiligung von Kapitalanlegern wirksam zu begrenzen – ein wesentliches Ziel, das mit im Zentrum der durch die im Rahmen des G20-Gipfels in Washington 20108 angeschobenen Reformen der Finanz- und Bankenmärkte steht.

Empfehlungen

Drei Elemente für eine Erneuerung der europäischen Finanzarchitektur

Erstens müssen die Fragmentierung europäischer Verhandlungsprozesse überwunden und Kompromisse gefunden werden, die einer inneren Logik folgen. Das gilt insbesondere für den Abschluss der Bankenunion, die die Herstellung eines integrierten europäischen Marktes für Bankdienstleistungen zum Ziel hat. Sie muss in eine Verbesserung der Risikoteilungsmechanismen innerhalb der Europäischen Union eingebettet sein.

Zweitens müssen alte Gegensätze wie Marktdisziplin versus Integration, Eigenverantwortung versus Solidarität und Bankenfinanzierung versus Kapitalmarkt auf ihren jeweiligen Kern zurückgeführt und in eine langfristig tragfähige Balance gebracht werden. Banken- und Kapitalmarktunion sind dabei Mechanismen, mit denen sowohl die Voraussetzungen für einen besseren Schutz der Steuerzahler als auch für mehr Wettbewerbsfähigkeit in der Union geschaffen werden. Der Beitrag der Kapitalmarktunion besteht dabei vor allem darin, sowohl bessere Finanzierungsbedingungen für Innovationen zu schaffen als auch über die Beteiligung des Kapitals privater Akteure wirtschaftliche Risiken innerhalb Europas und insbesondere der Währungsunion besser zu verteilen.

Drittens sollte die Union keine Diskussion über eine potenzielle Verstetigung eines Transfermechanismus wie NGEU führen. Sie sollte vielmehr darüber nachdenken, mit welchen Maßnahmen Handlungsfähigkeit und wirtschaftliche Dynamik in der Union gestärkt werden können. Dazu gehören eine Vereinfachung des Fiskalpaktes, ohne dessen Prinzip der Regelbindung aufzugeben, sowie eine zentrale Finanzierungskapazität für genuin europäische öffentliche Güter.

Agenda für ein Maastricht 3.0 und eine eigene Finanzierungskapazität der Europäischen Union

Die finanzpolitischen Aufgaben, mit denen sich die EU und mit ihr die Länder der Währungsunion vordringlich beschäftigen müssen, lassen sich in drei Kategorien einteilen.

  1. Bewältigung der Krisenfolgen und deren Implikationen, wovon im Kern der Wiederaufbaufonds und die Überarbeitung der aktuell suspendierten Fiskalregeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes betroffen sind.
  2. Abschluss der mit der Bankenunion und der Entwicklung des europäischen Stabilitätsmechanismus auf den Weg gebrachten Strukturen, die bisher unvollständig geblieben sind. Dadurch würde die europäische Governance um wesentliche Elemente erweitert werden, die für die Glaubwürdigkeit und Effektivität der Maastricht-Prinzipien erforderlich sind. Darüber hinaus würde ihr Abschluss die Voraussetzungen für einen europäischen Markt für Bank- und Finanzdienstleistungen verbessern, der Risiken diversifiziert und die Union auch global wettbewerbsfähiger macht.
  3. Vertiefung und Ausbau ihres Kapitalmarktes im Sinne einer Kapitalmarktunion. Die Union würde dadurch größere wirtschaftliche Dynamik entwickeln, eine wirkungsvollere Risikoteilung unter privaten Akteuren erzielen und die Wettbewerbsvorteile eines gemeinsamen Binnenmarktes stärken und ausbauen.

Eine Reformagenda „Maastricht 3.0“ besteht somit aus kurz-, mittel-, und langfristigen Maßnahmenpaketen:

Entscheidungen über die europäischen Fiskalregeln sind zu treffen, sobald die deutsche und die französische Regierung handlungsfähig sind. Die Bankenunion und die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Vervollständigung der Maastricht-Governance können ebenso unmittelbar verhandelt und beschlossen werden, sind aber mit hinreichenden Einführungsfristen zu versehen. Die Kapitalmarktunion ist dagegen ein langfristiges Projekt, das vor allem von weitreichenden Harmonisierungsschritten im Steuer- und Insolvenzrecht abhängt. Sie ist eine große und notwendige Ambition, die mit Geduld und Bereitschaft zum berühmten Bohren dicker Bretter abhängt. Entscheidende Fortschritte in den Kategorien 1 und 2 hängen dagegen elementar davon ab, ob die „Nord-Süd-Gegensätze“ in der Union überwunden werden können. Über sie wird auf vielen Einzelschauplätzen seit vielen Jahren verhandelt.  Sie müssen endlich gebündelt als Pakete auf den Tisch, die sich so miteinander verbinden lassen, dass ein echter Durchbruch durch einen Verhandlungsausgleich, ein „Grand Bargain“, über die Leerstellen der Finanz-Governance der Europäischen Union erzielt werden kann.

Nachstehend wird nun ein Vorschlag gemacht, wie die oben skizzierten drei Kategorien in einen zielführenden, umfassenden Verhandlungsprozess integriert werden können.

  1.  Vereinfachung der europäischen Fiskalregeln und ein Haushalt für gemeinsame europäische Güter

 Die Suspendierung der Fiskalregeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes wirft die Frage nach deren Wiedereinsetzen unter den Bedingungen substanziell erhöhter Schuldenlevels auf. Eine mechanische Anwendung der seit 2011 geltenden 1/20-Regel würde die Wahrnehmung perpetuieren, wonach das Durchbrechen der Regeln die Regel ist. Umgekehrt ist die Erkenntnis, dass der Kapitalmarkt angesichts eines niedrigeren Zinsniveaus auch eine Toleranz für höhere Schuldenlevels hat, keine Rechtfertigung dafür, diese als „New Normal“ hinzunehmen. Und auch die Tatsache, dass Regeln noch kein Wachstum schaffen, legitimiert keinen Verzicht auf solche. Die Kritik an dem bestehenden Regelwerk ist groß und insbesondere hinsichtlich ihrer Komplexität vielfach auch begründet. Es gibt sehr durchdachte Ansätze, die diese zu adressieren suchen, zum Beispiel das Einsetzen einer einfachen Schuldenregel („Refocusing the European fiscal framework“, Lars Feld, Christoph Schmidt, Isabel Schnabel, Volker Wieland, VoxEU, 2018) oder das Ersetzen des Konzeptes des „strukturellen Defizits“ durch das der Schuldentragfähigkeit („A new template for the European framework“, Philippe Martin, Jean Pisani-Ferry, Xavier Ragot, VoxEU, 2021). Eine Minimalreform sollte von dem jährlichen auf einen mehrjährigen Rahmen abstellen und einen realistischen Pfad zur Reduzierung der Staatsverschuldung der Mitgliedsländer definieren. Die Qualität der Prozesse kann dabei durch die nationalen Fiscal Boards verbessert werden. Deren Effektivität ist weniger durch einheitliche europäische Vorgaben sicherzustellen, als durch robuste Mandate, die jeweils im nationalen Rahmen auszuarbeiten oder zu verbessern sind. Im Rahmen eines entsprechenden Mandats könnte auch der European Fiscal Board einen größeren Beitrag leisten: Mit der Zuständigkeit für die Überprüfung der Einhaltung der Regeln könnte er die Kommission davon entlasten, den „Fiskalschiedsrichter“ spielen zu müssen.

Die Einrichtung des „Wiederaufbaufonds“ hat eine Diskussion darüber ausgelöst, ob dieser nicht institutionell zu einer echten Fiskalkapazität entwickelt werden könnte. Es gibt gute ökonomische Argumente, warum eine Währungsunion über Stabilisierungs- und Ausgleichsmechanismen verfügen sollte. Sie setzen aber bundesstaatliche Legitimationsstrukturen voraus, die in der Europäischen Union auf absehbare Zeiten nicht gegeben sein werden. In dem vielfach referenzierten Beispiel der USA wirken sie direkt auf Ebene der Steuerzahler und Pensionsempfänger und gleichen mechanische Schuldenreduktionsmechanismen der Einzelstaaten aus - weder das eine noch das andere kann ein Modell für Europa sein. Der Wiederaufbaufonds ist im Übrigen ein klassisches zwischenstaatliches Transferinstrument, dessen Mittel nach Wohlstandsniveau verteilt werden, und das nicht als makroökonomisches Stabilisierungsinstrument gestaltet ist, welches auf asymmetrische Schocks in einzelnen Mitgliedsstaaten regieren könnte. Dazu ist es auf Einmaligkeit ausgelegt und wird erst in ein paar Jahren einer wirklichen Überprüfung seiner Effektivität unterzogen werden können.

Darüber hinaus bietet der Wiederaufbaufonds als Finanzierungsinstrument einzelstaatlicher Maßnahmen nicht das, was die Union viel eher benötigt: Ressourcen für europäische öffentliche Güter, mit denen die Union genuin gemeinsame Aufgaben finanzieren könnte. Zum Beispiel im Grenzschutz, in der Verteidigung, bei der internationalen Vertretung der Union, Forschung und Infrastruktur. Auch für die schon angesprochene Ausnahme des Klimaschutzes, der ein über die nationale Ebene hinaus wirkendes öffentliches Gut schaffen kann, gilt: Wenn die Union in diesen Bereichen Effektivität und Handlungsfähigkeit erreichen will, wäre eine gemeinsame Budget- und Finanzierungskapazität die richtige Antwort und ein Durchbruch für Europa. Sie dürfte nicht zu einer Ausweitung der Gesamtverschuldung führen, sondern müsste auf Ebene der Mitgliedstaaten durch entsprechende Einsparungen ausgeglichen werden. Kontrolliert durch das Europäische Parlament, das heute bei dem Wiederaufbaufonds weitgehend außen vor ist, würde eine gemeinsame Budget- und Finanzierungskapazität überdies dem Finanzmarkt organisch entstehende Instrumente als sogenannte „Safe Assets“ zur Verfügung stellen. „Safe Assets“ können als sichere Euro-Anleihen für den Finanzmarkt eine wichtige Stabilisierungsfunktion übernehmen. Sie werden häufig herangezogen, um die Forderung nach sogenannten „Eurobonds“, der Vergemeinschaftung von Staatsschulden, zu rechtfertigen, würden aber auch in dem begrenzten, hier vorgeschlagenen Umfang diese Stabilisierungsfunktion erfüllen können.

  1. Vollendung der Bankenunion, Lösung des Staaten-Banken-Nexus und Aufbau eines Europäischen Währungsfonds

Die Finanzkrise hat in Europa offenbar gemacht, dass der gemeinsame Währungsraum nicht nur durch öffentliche Defizite, sondern auch durch private Kapitalströme destabilisiert werden kann. Als Konsequenz wurden im Rahmen der Bankenunion ein Maßnahmenpaket beschlossen und Ziele definiert, die bis heute nur unvollständig umgesetzt sind. Eine gemeinsame Aufsicht von grenzüberschreitend tätigen Großbanken und die Möglichkeit der Restrukturierung und Abwicklung („Bail-in“) von Banken im Insolvenzfall sind dabei auf den Weg gebracht worden, mit allerdings noch erheblichen offenen Fragen hinsichtlich der Verteilung von Kompetenzen und Risiken in der konkreten Durchführung. Darüber hinaus soll eine gemeinsame Einlagensicherung (EDIS) den Sektor im Krisenfall vor einer Destabilisierung schützen, und es ist das Ziel formuliert worden, den sich krisenbeschleunigend auswirkenden „Staaten-Banken-Nexus“ aufzulösen, der in dem hohen Anteil von durch Banken an ihren Heimatstaaten gehaltenen Staatsanleihen und den damit verbundenen Risiken besteht. Schließlich sind, vorwiegend aus Deutschland vorgebracht, aber auch durch international renommierte Ökonomen gefordert (z. B. Barry Eichengreen und Charles Wyplosz in „How to fix Europe’s monetary union. Views of leading economists“, London 2016), Vorschläge für Verfahren gemacht worden, nach denen im Falle von Insolvenz-Risiken von Mitgliedsländern in einer strukturierten Weise und unter Einbeziehung des Kapitalmarktes Umschuldungen von Staatsschulden vorgenommen werden können. Der ESM ist die geeignete Institution, die zu diesem Zwecke mit den Strukturen und Handlungsmöglichkeiten eines Währungsfonds ausgestattet werden müsste.

Nicht als Einzelmaßnahmen, sondern als eine in sich stimmige Gesamtkonstruktion würden diese Instrumente wesentliche Leerstellen beseitigen, die der bisherige Reformprozess offen gelassen hat. Der Grund für den seit Jahren festzustellenden Stillstand liegt nicht in einem Mangel an Vorschlägen oder Erkenntnissen, sondern in einem Interessenkonflikt: Die Mehrzahl der Mitgliedstaaten, vor allem im Süden, lehnt Instrumente ab, die über die Konzepte von Risikodiversifizierung und Marktdisziplin ihre Staatsfinanzierung erschweren könnten, und priorisiert grundsätzlich Risikoteilung durch Vergemeinschaftung. So werden beispielsweise in Krisen regelmäßig sogenannte „Eurobonds“ ins Spiel gebracht. Deutschland und überwiegend die Mitgliedstaaten des Nordens lehnen eine Risikoteilung in Form einer „Schuldenunion“ mit gutem Recht ab: Eurobonds würden die Prinzipien der Selbstverantwortung von Maastricht auf den Kopf stellen, Grundsätze demokratischer Legitimität und Kontrolle verletzen und die Finanzarchitektur Europas schwächen, statt sie zu stärken. Allerdings ist über Eurobonds nie ernsthaft verhandelt worden. Blockiert sind die Verhandlungen vielmehr unter anderem seit vielen Jahren im Hinblick auf die Frage einer gemeinsamen Einlagensicherung. Rund zwei Drittel der deutschen Einlagen gehören zur Institutssicherung im öffentlichen Bankensektor, der naturgemäß an einer Einbeziehung in EDIS kein Interesse hat. Ohne dessen Anteil an der deutschen Einlagensicherung wird allerdings auch der französische Bankensektor keine Anstalten machen, an den Tisch zu kommen. Ein freiwilliger Ansatz, bei dem sich jene Banken einem einheitlichen Regelwerk unterwerfen, die effektiv im gesamten europäischen Markt tätig sein wollen, wäre ein charmanter, da marktgetriebener Weg, dürfte den Knoten jedoch nicht lösen.

Die europäische Einlagensicherung ist weder ein „Sündenfall“ noch die „Retterin“ der Eurozone. Es gibt sinnvolle Vorschläge, wie sie bei entsprechender Ausgestaltung stabilisierend wirken kann, ohne einen „Moral Hazard“ auszulösen, und wie auch dem öffentlichen Bankensektor in Deutschland entgegengekommen werden kann. Der alles entscheidende Punkt aber ist: Mit einer mutigen Verhandlungsstrategie könnte die nächste Bundesregierung sie zum Katalysator einer „großen Lösung“ machen. Dazu muss man allerdings vom Abwehrkampf in den Gestaltungsmodus umschalten. Die Frage lautet dann nicht: „Was haben wir verhindert?“, sondern „Was haben wir für die Zukunft eines nachhaltig stabilen Euroraumes erreicht?“ Bisher beschränkte sich die deutsche Strategie auf die Position, dass eine gemeinsame Einlagensicherung erst in Betracht komme, wenn in den Bankbilanzen weiterer Risikoabbau stattgefunden hat. Heute muss größer gedacht werden.

Wenn mithilfe einer vollendeten Bankenunion ein umfassendes und tragfähiges Risikokonzept umgesetzt und der Finanzsektor wettbewerbsfähiger werden kann, ist Doppeltes gelungen: erstens ein Durchbruch für Europa und zweitens ein besserer Schutz für die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, - unabhängig davon, ob es sich dabei um Kunden des öffentlichen Bankensektors handelt oder nicht. Und schließlich sind auch Anlegerinnen und Anleger besser geschützt, die, im Vertrauen auf den gemeinsamen Rechtsrahmen, die Chancen der Geldanlage innerhalb der EU nutzen möchten.

  1. Vorantreiben der Kapitalmarktunion

 Die Kapitalmarktunion ist ein langfristiges, aber unverzichtbares strategisches Projekt für die EU. Auch wenn die Digitalisierung hier manche Beschleunigung ermöglichen sollte, hängt substanzieller Fortschritt von grundlegenden Rechts-Harmonisierungen ab, die tief in die Eigenständigkeit der Mitgliedsländer eingreifen, zuallererst ins Steuer- und Insolvenzrecht. Ihre volle Wirkung wird sie allerdings nur entfalten, wenn sich parallel in Europa auch die Aufgeschlossenheit für die Bedeutung von Kapitalmärkten für unsere Volkswirtschaften und Gesellschaften verändert. Der in Europa überproportional große Anteil von Banken- versus Kapitalmarktfinanzierung hemmt Wachstum und Innovation, verhindert Risikodiversifikation und erschwert nicht zuletzt den Aufbau nachhaltig kapitalgedeckter Altersversicherungen. Die Bundesrepublik Deutschland muss ein Motor in den Verhandlungen sein, für die nicht zuletzt der Bericht der „Next CMU High Level Group“ von 2019 weitreichende Vorschläge unterbreitet hat.

Die neue Bundesregierung muss eine überzeugende, umfassende Reformstrategie für die Währungsunion vorlegen

Die Aufgabe für die neue Bundesregierung besteht darin, mit Mut und politischer Energie der Union wegweisende Impulse zu geben. Die Vorschläge für eine Agenda Maastricht 3.0 bündeln Aktions- und Maßnahmenfelder, um innerhalb der Union Fortschritt durch Ausgleich zu erzielen. Konsequent verfolgt, hat die Union die Chance, die dritte Dekade dieses Jahrhunderts dafür zu nutzen, der fortschreitenden wirtschaftlichen Divergenz effektiv entgegenzuwirken, Instrumente der Risikoteilung zwischen privaten und öffentlichen Trägern nachhaltig auszubalancieren und die Prinzipien von Gemeinschaftsorientierung und Eigenverantwortung in ihren Strukturen neu zu verankern.

Skepsis und Widerstände sind groß, im „Süden“ wie im „Norden“ und in Deutschland selbst. Sie werden verstärkt durch die allgemeine Wahrnehmung, dass das aktuelle Marktumfeld doch stabil sei und größere Reformmaßnahmen ohnehin nur durch akute Krisen vorangebracht werden können.

Dem ist entgegenzuhalten:

Erstens ist die Stabilität niedriger Zinsen trotz hoher Verschuldung eine höchst trügerische. Die aktuelle Debatte über Inflationsrisiken macht das mehr als deutlich. Zweitens führen akute Krisen keineswegs stets zu „richtigen“ Entscheidungen und tragfähigen Strukturen und sind in der Regel zudem mit besonders hohen Kosten verbunden. Drittens ist es für den politischen Zusammenhalt in Europa essenziell, dass die Union sich wirtschaftlich dynamisiert. Viertens sind die verbreiteten Vorbehalte gegenüber dem Konzept von „Marktdisziplin“, das hinter Risikogewichten und Restrukturierungshandhaben steht, voreilig: Diese sind kein Ersatz, sondern eine Ergänzung existierender öffentlicher Risikoteilungsstrukturen in der Union und die Akzeptanz der Bail-in-Regeln für Banken am Kapitalmarkt zeigt einen Weg auf, wie eine nicht-disruptive Adjustierung der europäischen Governance möglich ist. Und schließlich setzt die geostrategische Lage Europa unter den Druck, strategiefähig zu werden. Strategiefähigkeit ergibt sich für die Europäische Union aber nicht aus dem Beschreiten eines undifferenzierten Integrationspfades, sondern aus der Entwicklung eines Institutionengefüges, das Einheit und Vielfalt, Integration und Subsidiarität sorgfältig austariert.

 

Das Memo von Martin Wiesmann befasst sich mit Reformstrategien für die europäische Währungsunion. Seine Vorschläge sollten auch als Antwort auf das Memo „Ein neuer Strategieplan für die Eurozone: Deutschland trägt die zentrale Verantwortung für tiefgreifende Reformen“ von Shahin Vallée gelesen werden. Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine überarbeitete Version einer Erstveröffentlichung vom 4. November, die bei der neu gegründeten „Denkfabrik R21“ erschienen ist. Martin Wiesmann ist Gründungsmitglied von R21.

Bibliografische Angaben

Wiesmann, Martin. “Reformstrategie für die Währungsunion.” DGAP Memo 22 (2021). German Council on Foreign Relations. November 2021. https://doi.org/10.60823/DGAP-21-36113-de.

DGAP Memo Nr. 22, November 2021, 6 S.

In dieser Memo-Reihe bietet die DGAP fundierte Analysen zu Bereichen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, die die nächste Legislaturperiode prägen werden.

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