Kommentar

13. Jan. 2021

Europas Zukunft liegt in den Grenzregionen

Deutschland und Frankreich müssen Vorreiter sein

Mehr als ein Drittel der EU-Bürgerinnen und -Bürger leben in Grenzregionen. Der nationale Blick, der diese Regionen „an den Rand“ des Landes verortet, entspricht nicht der gelebten Realität der Menschen. Die immer engere Verflechtung der Grenzregionen muss einen höheren Stellenwert in der nationalen Politik erhalten und als Möglichkeit gesehen werden, die europäische Integration regional zu vertiefen. Deutschland und Frankreich können Vorreiter sein und sollten den Mut haben, neue Wege auszuprobieren.

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Deutschland und Frankreich haben mit dem Aachener Vertrag von 2019 neue Instrumente für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit geschaffen. Damit wird ermöglicht, gemeinsame Interessen besser identifizieren und Hindernisse abbauen zu können. Doch dass Grenzregionen in politische Entscheidungsprozesse miteinbezogen werden, ist noch lange nicht in der Praxis verankert. Das zeigt die Wiedereinführung von Grenzkontrollen vom 16. März bis 15. Juni 2020 als Antwort auf die Corona-Pandemie. Die unmittelbaren ökonomischen und sozialen Auswirkungen machen deutlich, wie eng die Räume an den europäischen Binnengrenzen verflochten und wie schädlich nationalstaatliche Reflexe sind.

Dabei sind gerade diese Räume wichtig für die europäische Integration: In der Grenzregion ist die EU für die Menschen unmittelbar spürbar. Durch die deutsch-französische Zusammenarbeit gelang in der Pandemiebekämpfung vorerst eine Kehrtwende von einer anfangs nationalen Antwort hin zu einem intensiven und operativen Austausch zwischen allen politischen Ebenen. Jetzt ist der Moment, aus dieser Erfahrung Lehren zu ziehen, um die grenzüberschreitende Zusammenarbeit als Kernelement der Europapolitik auszubauen.

 

Aus der Corona-Krise lernen

Die Freizügigkeit als zentrale europäische Errungenschaft war zu Beginn der Pandemie massiv eingeschränkt. In Reaktion auf die besonders betroffene an Deutschland grenzende Region Grand Est führte die Bundespolizei Grenzkontrollen ein und schloss 19 von 28 Grenzübergänge. Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmer konnten unter Vorlage eines Formulars weiterhin pendeln, aber Staus und Umwege erschwerten den Arbeitsweg. Private Begegnungen, beispielsweise bei getrennt lebenden Familien auf beiden Seiten der Grenze, waren nicht möglich. In lokalen Zeitungen und sozialen Medien drückten Bewohnerinnen und Bewohner der Grenzregion ihren Unmut aus: Enttäuschung über die in der Entscheidung abwesende EU, empfundene Diskriminierung an der Grenze aufgrund der Herkunft, Erfahrungen von wiederaufflammenden Ressentiments zwischen Deutschen und Franzosen.

In der Corona-Krise bewährten sich die engen deutsch-französischen Netzwerke einerseits. Andererseits zeigte sich aber, dass sie immer noch nicht ausreichend im Bewusstsein nationaler, weiter von den Grenzen entfernten Akteuren verankert sind. Dank der starken institutionellen und persönlichen Vernetzung auf beiden Seiten (z.B. in der Region, den Départements, den Städten, Landkreisen und Ländern und den Eurodistrikten, durch Parlamentarier aus der Grenzregion) etablierten sich nach dem ersten Schock schnell informelle, tägliche Telefonschalten mit den Hauptstädten.

Sie brachten die Bundesministerien, die Präfektur, Landesregierungen und andere Gebietskörperschaften auf einer lösungsorientierten Arbeitsebene zusammen, um ein gemeinsames Vorgehen in der Pandemie zu koordinieren und zu offenen Grenzen zurückzufinden. Für Patiententransfers in das andere Land konnten unzureichende rechtliche Kooperationsabkommen durch Ad-hoc-Regelungen auf Bundesebene überwunden werden. Damit wirkte Deutschland den negativen Auswirkungen der Grenzkontrollen entgegen. Der Bedarf nach einem gemeinsamen Rechtsrahmen in ganz konkreten Fällen der Pandemiebewältigung ist groß: Zum Beispiel stellt sich angesichts unterschiedlicher nationaler Impfstrategien die Frage, ob bei der Impfung von im deutschen Gesundheitssektor tätigen Franzosen vom geltenden Wohnortprinzip abgewichen werden kann.

Besonders folgenreich ist außerdem das Thema der Besteuerung von Kurzarbeitergeld. In Deutschland arbeitende Grenzgänger mit Wohnsitz in Frankreich müssen derzeit faktisch in beiden Ländern Abgaben entrichten. Dies sind keine technischen, sondern hochpolitische Fragen: Sie haben eine enorme Wirkung auf den sozialen Zusammenhalt angesichts oft hoher sozioökonomischer Gefälle entlang der Grenze, auf das Vertrauen in politische Akteure und nicht zuletzt auf die Wahrnehmung des europäischen Projekts. Gerade auf der französischen Seite der Grenze sind europaskeptische Parteien besonders stark.

Alte Probleme, neue Instrumente 

Mit der Corona-Krise kam unerwartet ein Stresstest für die bereits 2019 begonnene größere Berücksichtigung der Grenzregion in der nationalen Politik. Im Aachener Vertrag wird die Rolle der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit erstmals durch ein umfangreiches Kapitel in einem deutsch-französischen bilateralen Vertrag anerkannt und mit neuen Instrumenten ausgestattet. Zentral sind dabei ein neuer Ausschuss für grenzüberschreitende Zusammenarbeit und die Möglichkeit zur Anwendung von Ausnahmeklauseln.

An Gremien mangelt es den deutschfranzösischen Beziehungen wahrlich nicht. So kann auch der Ausschuss für grenzüberschreitende Zusammenarbeit nur dann einen Mehrwert haben, wenn er bestehende Lücken schließt. Das Potential dafür hat er dadurch, dass alle Ebenen vertreten sind – die Legislative und Exekutive, die kommunale, regionale und nationale Ebene sowie Eurodistrikte als grenzüberschreitende Kooperationsräume. Die Mitglieder des Ausschusses können so Hindernisse identifizieren und mit der Ebene diskutieren, die die Kompetenz für ihre Beseitigung hat. Zwar trifft der Ausschuss keine Entscheidungen.

Er soll aber durch Empfehlungen den direkten Weg auf die Agenda des Deutsch-Französischen Ministerrates, der in der Regel halbjährlich das deutsche und das französische Kabinett, Kanzlerin und Präsident zusammenbringt und gemeinsame Positionen abstimmt, finden. In der Realität zeigen sich folgende Schwierigkeiten: Fragen wie Turnus der Sitzungen, Rolle und Kompetenzen des Sekretariats, die Art und Weise, wie Themen eingebracht werden können, sind auch ein Jahr nach der konstituierenden Sitzung noch ungeklärt. Die Antworten darauf sind aber entscheidend für das Vertrauen der Mitglieder des Ausschusses in das neue Instrument. Hinzu kommt die Kehrseite der Präsenz ganz unterschiedlicher Ebenen, denn die hohe Anzahl von Akteuren und damit Partikularinteressen birgt das Risiko für den Ausschuss, zu einem politischen und keinem operativen Forum zu werden.

Die zweite bedeutende Neuerung ist die Möglichkeit, vom nationalen Recht abweichende Ausnahmeregelungen für Grenzregionen zu treffen. Auch auf europäischer Ebene wird ein solches Instrument, der European Cross Border Mechanism (ECBM), bereits diskutiert. Er wurde aber noch nicht umgesetzt. Gute Erfahrungen aus der deutsch-französischen Grenzregion könnten eine europaweite Regelung erleichtern und damit die Laborfunktion deutsch-französischer Zusammenarbeit für die europäische Integration erfüllen. Noch sind die Gebietskörperschaften zögerlich, Ausnahmeklauseln anzuwenden, da sie befürchten, sich mit Präzedenzfällen auf unsicheres rechtliches Terrain zu begeben. In Frankreich fehlt zudem noch eine Änderung im nationalen Recht, die diesen Ausnahmeklauseln erst den notwendigen Rahmen geben könnte: Die dafür vorgesehene Dezentralisierungsreform soll im ersten Halbjahr 2021 dem Parlament vorgelegt werden.

Auch hier genügt es nicht, von nationaler Seite ein Instrument zur Verfügung zu stellen. Die mit der Umsetzung betrauten Akteure brauchen gerade in den ersten Anwendungsfällen eine klare politische Rückendeckung. Damit Hindernisse gar nicht erst entstehen, ist ein weiterer Beschluss des Aachener Vertrags wichtig, auch wenn er sich nicht direkt auf die Grenzregion bezieht. Künftig sollen sich Deutschland und Frankreich darüber abstimmen, wie EU-Regeln in nationales Recht umgesetzt werden. Ohne eine solche Abstimmung kommt es derzeit dazu, dass beide Länder europäische Vorgaben unterschiedlich umsetzen – mit negativen Konsequenzen vor allem in der verflochtenen Grenzregion. Das zeigt das Beispiel der Umweltplakette, die Grenzgänger gleich zweimal brauchen und dafür die doppelten Kosten tragen müssen. Der hohe Aufwand, um für diesen Fall künftig eine Ausnahmeregelung anzuwenden, hätte durch eine vorherige Abstimmung vermieden werden können.

Es braucht politischen Willen 

Die neuen Instrumente bieten einen geeigneten Rahmen für eine noch engere grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Es braucht aber eine große Portion an politischem Willen, um sie mit Leben zu füllen. Dafür muss sich die große europapolitische Bedeutung der Grenzregionen fest im Bewusstsein der Akteure in den Hauptstädten verankern. Diese Regionen sind keine Nischen, sondern für Deutschland als Land der EU mit den meisten Nachbarländern und Frankreich mit seiner besonders hohen Anzahl von Grenzgängern „mittendrin“. Welche Bereiche dabei besondere Priorität haben, zeigte die Corona-Pandemie: Kooperation im Gesundheitsbereich, der Arbeitsmarkt und Mobilität. Der durch die Krise entstandene Impuls für stärkere Kooperation über verschiedene Ebenen hinweg sollte genutzt werden, um diese Themen 2021 voranzubringen.

Bibliografische Angaben

Hamann, Julie. “Europas Zukunft liegt in den Grenzregionen.” German Council on Foreign Relations. January 2021.

DGAP Kommentar Nr. 1, Januar 13, 2021, 3 Seiten

Themen & Regionen