Auf der großen Bühne im Festsaal des Bayerischen Hofs wurde demonstriert, wer klare Ziele formuliert und bereit ist, die notwendigen Mittel zu ihrer Erreichung einzusetzen – und wer genau dies nicht tut. Die schlechte Nachricht: Für Deutschland und Europa sieht die Lage trotz einer neuen Europäischen Kommission, trotz eines handlungswilligen französischen Staatspräsidenten und trotz eines von beiden US-Parteien getragenen transatlantischen Kooperationsangebots nicht gut aus. Deshalb war in einigen Statements auf der Bühne, aber vor allen in den Gesprächen am Rande des offiziellen Programms, ein gehöriges Maß an Ungeduld zu spüren – mit Europa und vor allem mit Deutschland.
Der Westen zerfällt, der Westen gewinnt
Wer dem deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier und US-Außenminister Michael Pompeo zugehört hat, musste zur Kenntnis nehmen, dass die Auffassungen zum Zustand des „Westens“ unterschiedlicher nicht sein können. Der Bundespräsident sah die Einheit des Westens in Gefahr, hob die Bedeutung internationaler Organisationen und Regelwerke, besonders die der Vereinten Nationen hervor– und betonte das Risiko, dass diese zerfallen. Eindringlich warnte er vor einem Rückzug ins Nationale.
Wie auch schon 2014 sprachen in diesem Jahr der Bundespräsident, der Außenminister und die Verteidigungsministerin. Vor sechs Jahren lautete der Aufruf unisono: Deutschland müsse mehr Verantwortung übernehmen. Viele mögen am vergangenen Wochenende gedacht haben: Ja, das wäre gut gewesen. Denn 2020 lautete die defensive Botschaft der politischen Führung aus Berlin: Sorgt Euch um den Westen; hier geht mächtig etwas schief, auch in unserem eigenen Land.
USA machen überparteilich Druck gegen Huawei
Pompeo hingegen teilte die Sorgen der deutschen Führung um den Westen nicht. Er präsentierte seine Vorstellung einer klaren, auf nationalen Interessen basierten Außen- und Wirtschaftspolitik. Ein Problembewusstsein für die europäischen Sorgen um die bestehende Weltordnung – und damit auch die Verteidigungsallianz NATO – zeigte er nicht. Als Pompeo postulierte „Der Westen gewinnt, wir gewinnen gemeinsam“, schwieg der Saal. Der fehlende Applaus symbolisierte das geringe Vertrauen, mit dem Europa kaum neun Monate vor der US-Präsidentschaftswahl nach Washington blickt.
Einen anderen Ton schlugen die demokratischen Mitglieder der Delegation des US-Kongresses an. Die MSC war gespickt mit transatlantischen Runden, in denen unter anderem über eine europäisch-amerikanische Agenda nach einem breit erhofften Machtwechsel im Weißen Haus nachgedacht wurde. Die US-amerikanische Delegation insgesamt war die zweitgrößte der MSC-Geschichte. Die Demokratin Nancy Pelosi, Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, erklärte, sie seien angereist, um den Willen für Kooperation mit Europa und Deutschland zu demonstrieren.
Auf der MSC 2020 spürte man viel Ungeduld – mit Europa und vor allem mit Deutschland
Einigkeit über die Parteigrenzen hinweg zeigte die US-Delegation beim Thema Technologiepolitik. Beim Netzwerkausbau 5G, das machte auch Pelosi sehr klar, erwarten die USA von ihren Partnern eine Entscheidung, die auf keinen Fall für den chinesischen Anbieter Huawei ausfallen dürfe. Fragen der technologischen Souveränität zogen sich wie ein roter Faden durch die drei Tage von München. Die Vorstellung, dass die Welt in technologische Einflussbereiche zerfällt und aufgeteilt wird, ist noch konkreter geworden.
China bestimmte so sehr die Diskussionen, so auch die Rede von US-Verteidigungsminister Mark Esper, dass das Thema Russland in München eine vergleichsweise geringe Rolle spielte – trotz der dramatischen Entwicklungen um Idlib, wo die von Russland unterstützte Offensive der Assad-Truppen inzwischen die größte Fluchtbewegung seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs ausgelöst hat. Erneut zeigte sich indes, wie groß der Erklärungsbedarf gegenüber den europäischen Partnern und den USA ist, wenn Frankreichs Staatspräsident Emmanuel
Macron fordert, das Verhältnis zu Moskau neu aufzustellen.
Macron schiebt, Deutschland bremst
Auch das deutsch-französische Verhältnis und die Implikationen für Europa waren als Thema omnipräsent. Macron beschrieb offen seine Ungeduld und erklärte seine Vorstellungen von einer europäischen Kooperation zur nuklearen Abschreckung. Die Reaktion der Bundesregierung auf seine viel beachtete sicherheitspolitische Rede vor der Ecole de Guerre, eine Woche vor der MSC, fiel mager aus. Die Kanzlerin schweigt seither, und die Verteidigungsministerin konnte ihm nicht die Hand reichen. Denn die Bundesregierung sieht die NATO für die Verteidigung Europas in der Pflicht und nicht Frankreich und möchte, gerade in den innenpolitisch angespannten Zeiten, eine erneute Debatte über Alternativen beim Thema nukleare Abschreckung vermeiden. Die bei einigen strategisch relevanten Themen fehlende Positionierung Deutschlands sorgte gerade bei internationalen Teilnehmern für Verwunderung.
Für die deutsche und europäische Außenpolitik sind die Schlussfolgerungen aus der MSC 2020 ernüchternd. Wer keine klaren Ziele außer dem Wunsch nach einem Festhalten an der „alten Ordnung“ formuliert, hat keinen glaubwürdigen Führungsanspruch. Das Festhalten an den Werten und Prinzipien, die der alten Ordnung unterliegen, erscheint normativ richtig. Dennoch gilt es, den Anschluss an die „neue Ordnung“ nicht zu verpassen – und sie mitzugestalten.