Dieses Memo ist Teil der Reihe „Weichenstellung für die transatlantischen Beziehungen“. In dieser Reihe analysieren DGAP-Expertinnen und -Experten im Vorfeld der US-Präsidentschaftswahl 2024 verschiedene Szenarien und deren potenzielle Auswirkungen auf die transatlantischen Beziehungen. Weitere Informationen und Beiträge finden Sie hier.
Mit dem Betritt der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1955 wurde die NATO zum wichtigsten Instrument zunächst der westdeutschen und später der gesamtdeutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Aus deutscher Sicht ist die Allianz ein zentrales Element der europäischen Ordnung und der Garant der transatlantischen Sicherheit. Mögliche Zweifel an der Zukunft der NATO und der Führungsrolle der USA, die nach Ende des Kalten Krieges aufgekommen waren, lösten sich nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine 2014 nach und nach auf. Eine große Mehrheit der politischen Elite und der öffentlichen Meinung begreift, dass Deutschland dringend eine wirksame Landes- und Bündnisverteidigung benötigt und dass diese ohne die Unterstützung Washingtons unmöglich ist. Genau deswegen ist der Ausgang der US-Präsidentschaftswahl für Deutschland und die anderen europäischen NATO-Länder auch so bedeutsam.
Szenarien
Biden 2.0: Bekenntnis zur NATO, mehr Pflichten für Europa
Sollte der derzeitige US-Präsident Joe Biden im Amt bestätigt werden, ist davon auszugehen, dass er der NATO weiterhin eine hohe Bedeutung für die amerikanische Sicherheits- und Verteidigungspolitik beimessen wird. Immer wieder unterstreicht Biden, Washington stehe fest an der Seite seiner europäischen Alliierten. Der amtierende Präsident spricht auch häufig von einem „ironclad commitment“ der Amerikaner gegenüber dem Bündnis.
Im Juni 2023 beschrieb Biden die Bündnisverpflichtungen seines Landes mit den folgenden Worten: „We’ve strengthened NATOs eastern flank, made it clear we’ll defend every inch of NATO territory. I say it again: The commitment of the United States to NATO’s Article 5 is rock solid.“
Dies sind nicht nur warme Worte.Unter Biden haben die USA einen enormen Beitrag zur Unterstützung der Ukraine und zur Verteidigungsfähigkeit NATO-Europas geleistet. Mehr als die Hälfte der militärischen Hilfen für die Ukraine stammten bisher aus den USA. Zusätzlich ordnete Biden die Verlegung bereits in Europa stationierter US-Truppen in die baltischen Staaten und nach Polen an; 20.000 zusätzliche Soldaten wurden zudem nach Europa entsandt. Derzeit sind über 100.000 US-Soldaten in Europa stationiert – 40.000 mehr als noch vor einem Jahrzehnt.
Präsident Biden wandte sich entschieden gegen Äußerungen von Donald Trump, denen zufolge die USA, sollte er wiedergewählt werden, „säumige“ NATO-Staaten nicht verteidigen würden. Der amtierende US-Präsident quittierte diese Aussage Trumps mit den Worten: „Das ist dumm, gefährlich und unamerikanisch.“ Dies sollte jedoch nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass auch eine zweite Biden-Regierung von ihren europäischen Partnern und insbesondere von Deutschland verlangen dürfte, mehr in die Sicherheit und die Verteidigungsfähigkeit des eigenen Kontinents zu investieren. Denn obwohl der US-Kongress nach monatelangen Verzögerungen Ende April Ukraine-Hilfen im Umfang von knapp 61 Milliarden Dollar freigab, könnte es auch bei einem Wahlsieg Bidens in Zukunft erneut zur Blockade im Kongress kommen, zumal der Rückhalt für die Unterstützung der Ukraine in der Bevölkerung schwindet. Auch rhetorisch deutet sich dieser Stimmungswandel an: Sprach Biden lange Zeit davon, sein Land würde der Ukraine beistehen „as long as it takes“, so sicherte er zuletzt Unterstützung lediglich für „as long as we can“ zu.
Hinzu kommt, dass auch unter einem Präsident Biden die USA in den kommenden Jahren ihren Fokus verstärkt auf den Indo-Pazifik richten werden. Bereits jetzt wird die Volksrepublik China als die größte geopolitische Herausforderung für die USA definiert. Das Hauptaugenmerk der US-Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird auf der strategischen Rivalität mit China liegen. Damit ist abzusehen, dass Europa nicht mehr im Zentrum der US-amerikanischen Interessen steht – nicht zuletzt aufgrund weiterer Krisen im Nahen Osten. In Europa sollte man daher auch im Falle einer Wiederwahl Bidens nicht zu laut aufatmen.
Trump 2.0: Drohungen, viel mehr Pflichten für Europa
Donald Trump war gegenüber europäischen NATO-Mitgliedern schon in seiner ersten Amtszeit immer wieder feindselig aufgetreten. Im laufenden Wahlkampf sorgten seine Äußerungen, wie bereits erwähnt, auf beiden Seiten des Atlantiks für große Aufregung. Bei einer Wahlkampfveranstaltung zu Beginn dieses Jahres drohte er nicht nur, die USA würden europäische Alliierte nicht verteidigen, sollten sie nicht „zahlen“, sondern ging, zumindestr rhetorisch, einen Schritt weiter und kündigte an, diese Länder Russland zu überlassen.
Dagegen äußerte sich Richard Grenell, der ehemalige US-Botschafter Trumps in Deutschland, der dem Ex-Präsidenten weiterhin nahesteht und als möglicher Außenminister in einer zweiten Trump-Regierung gehandelt wird, deutlich ausgewogener: „Wie wird die NATO starker? Prasident Trump ist entschlossen, die NATO zu starken, wenn sie stark sein will. Und das fangt damit an, dass alle ihren gerechten Beitrag leisten.“ Schließlich milderte Trump seine Aussagen ab. In einem Gespräch mit dem Brexit-Befürworter Nigel Farage unterstrich Trump, dass er die USA nicht aus der NATO führen würde, sollten die anderen Alliierten “fair spielen“. Offenbar geht es auch auf Trumps Einlenken und nachrichtendienstliche Unterrichtungen zurück, dass das US-Repräsentantenhaus die Ukraine-Hilfen passieren ließ.
Ein Ausscheiden der USA aus der NATO unter Trump 2.0 kann nicht ausgeschlossen werden. Umgekehrt gilt aber auch, dass ein Wiedereinzug Donald Trumps ins Weiße Haus nicht zwangsläufig das Ende der nordatlantischen Allianz einläuten würde, zumal der US-Kongress kürzlich ein Gesetz verabschiedet hat, demzufolge ein US-Präsident die USA nicht ohne Zustimmung des Senats aus der NATO führen kann. Dennoch darf nicht unterschätzt werden, dass Trump im Falle seiner Wiederwahl der Allianz auch ohne einen formellen Austritt großen Schaden zufügen könnte. Das wäre dann der Fall, wenn er erneut Zweifel daran säen sollte, ob auf die USA im Verteidigungsfall Verlass ist.
In jedem Fall müssen die NATO-Mitglieder bei einem Wahlsieg Trumps mehr noch als bei einer Wiederwahl Bidens damit rechnen, dass die USA von den Europäern einen erheblich größeren verteidigungspolitischen Einsatz für die Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit ihres eigenen Kontinents einfordern. Diese Forderungen dürften eng an die Erwartung geknüpft sein, dass die europäischen NATO-Staaten sich befähigen, einen Großteil der konventionellen Kräfte zu stellen, die zur Abschreckung Russlands benötigt werden. Dadurch könnten die USA Trumps Ziel näherkommen, ihren militärischen Fußabdruck in Europa zu reduzieren. Eine im Sinne der USA ausgewogenere Lastenteilung bei der konventionellen Verteidigung würde auch bedeuten, dass die Europäer ihre Verteidigungsausgaben erhöhen und ihre Produktionskapazitäten für Rüstungsgüter vergrößern. Immerhin gibt es aber auch für den Fall, dass Trump gewählt wird, keinen Hinweis darauf, dass Washington nicht bereit wäre, seinen nuklearen Schild weiterhin über Europa aufzuspannen.
Unabhängig davon, ob das Szenario Biden 2.0 oder Trump 2.0 eintritt – die Erwartungen an die europäischen Partner werden steigen. Beide möglichen Präsidenten werden den Druck auf die Europäer erhöhen, das Zwei-Prozent-Ziel bei den Militärausgaben zu erreichen und mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit zu übernehmen. Ungeachtet dessen, wer ab 2025 US-Präsident ist, wird also gelten: „Europe has work to do.“
Empfehlungen
Verteidigungspolitische Strategien für Deutschland und Europa
Folglich wird Europa rasch mehr investieren müssen in die eigene und damit auch die transatlantische Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit. Ein Wahlsieg von Donald Trump würde es als noch viel dringender erscheinen lassen, die Lücken in der europäischen Verteidigungsfähigkeit zu schließen, um auf etwaige Sprünge der US-Politik möglichst gut vorbereitet zu sein. Gleichzeitig gilt: Wenn Europa seine Verpflichtungen erfüllt und mehr für die eigene Handlungsfähigkeit leistet, würde es auch unter Trump für die USA schwieriger werden, einen Rückzug mit der Behauptung zu rechtfertigen, dass ihre Partner in Europa keinen angemessenen Beitrag zur Lastenteilung im transatlantischen Bündnis leisten.
Mehr zu tun, um die USA in Europa zu halten, und gleichzeitig die eigene Handlungsfähigkeit in Fragen der Verteidigung zu stärken, entspricht dem nationalen Interesse Deutschlands in einer Zeit, in der das strategische Hauptaugenmerk der USA über die Parteigrenzen hinweg auf dem Indo-Pazifik und China liegt.
Deutschland hat es, zusammen mit seinen europäischen NATO-Partnern, in der Hand, Entscheidungen vorzubereiten und zu treffen, die eine doppelt nützliche Wirkung entfalten: Zum einen können die Europäer Mitglieder der US-Regierung und des Kongresses dazu bewegen, das US-Engagement in Europa aufrechtzuerhalten. Denn ohne US-Unterstützung – insbesondere bei der nuklearen Abschreckung – wird Europa seine Sicherheit so bald nichtgarantieren können. Zum anderen liegt die Umsetzung der folgenden Empfehlungen im unmittelbaren sicherheits- und verteidigungspolitischen Interesse Europas und Deutschlands.
Die Vorschläge lassen sich unterteilen in kurzfristige Handlungen, die helfen könnten, die womöglich sprunghaftere und weniger vorhersehbare Politik einer zweiten Trump-Regierung abzufedern, und in mittel- bis längerfristige Anpassungen, die Deutschland und die anderen europäischen NATO-Mitglieder ohnehin und unabhängig vom Ausgang der US-Präsidentschaftswahl umsetzen müssen. Beide Empfehlungskategorien können dazu beitragen, Russland von einer militärischen Aggression gegen das NATO-Bündnisgebiet abzuschrecken.
Kurzfristige Handlungen
Um innereuropäische Geschlossenheit zu demonstrieren, aus der im Falle einer russischen Aggression gemeinsame Handlungsfähigkeit erwachsen kann, sollten Deutschland, Frankreich und Polen die europäische Sicherheit und Verteidigung stärker als bisher gemeinsam konzipieren. Die drei Staaten des Weimarer Dreiecks sollten sich bemühen, Großbritannien in ihre Überlegungen einzubeziehen. In diesem Kontext sollte auch über die nukleare Komponente europäischer Handlungsfähigkeit gesprochen werden.
Zugleich ist es dringend erforderlich, dass Deutschland und andere europäische Bündnispartner ihre finanzielle und militärische Unterstützung für die Ukraine verstärken und besser koordinieren. Dies gilt umso mehr, weil nicht nur im Falle von Trumps Wiederwahl, sondern auch bei einem Erfolg Bidens das Risiko besteht, dass die USA aufgrund von Widerständen im Kongress oder der öffentlichen Meinung ihre Hilfe reduzieren oder einstellen könnten. Vor diesem Hintergrund sollte Deutschland die Überlegung unterstützen, die Organisation der militärischen Ukraine-Hilfe nicht mehr im Ramstein-Format – also unter Vorsitz der USA –, sondern unter dem Dach der NATO anzusiedeln.
Mittel- bis längerfristige Handlungen
An vorderster Stelle müssen die Europäer ihre im NATO-Rahmen abgegebene Zusage einhalten, jährlich mindestens zwei Prozent ihres BIP für Verteidigungszwecke auszugeben. Die Zwei-Prozent-Schwelle ist nicht nur ein bedeutendes Symbol für amerikanische Entscheidungsträger in beiden politischen Lagern. Würden die europäischen NATO-Länder sie durchgängig erreichen, würden sie damit den USA signalisieren, dass Europa bereit ist, mehr Verantwortung für seine Sicherheit zu übernehmen und die USA mittel- und langfristig zu entlasten. Dafür werden allerdings perspektivisch deutlich mehr finanzielle Ressourcen benötigt als die viel beschworenen zwei Prozent – ein Grund, weshalb die Alliierten sich auf ihrem Gipfeltreffen in Vilnius im Sommer 2023 darauf einigten, die bis dahin geltende Finanzierungszusage als Mindest- und nicht Höchstmaß zu betrachten.
Ferner müssen sich die europäischen Verbündeten darauf einstellen, entscheidende Verteidigungsfähigkeiten, für die sie derzeit auf die USA angewiesen sind, in Zukunft selbst zu stellen. Dazu zählen Kapazitäten für Lufttransport, Aufklärung und Überwachung sowie Flugzeuge zur Luftbetankung. Deutschland sollte sich dafür einsetzen, verstärkt das Konzept der Rahmennation (Framework Nation Concept) für die Beschaffung dieser Fähigkeiten zu nutzen. Erfolge europäischer Bemühungen, Lücken bei den Fähigkeiten zu schließen, würden sich zweifach auswirken: Zum einen würde der Druck auf die Ressourcen der USA verringert, zum anderen würden die Europäer Abhängigkeit von Washington reduzieren.
Zudem ist wichtig, dass die europäischen Verbündeten, besonders Deutschland, ihre Verpflichtungen zur Stärkung der Ostflanke der Allianz einhalten. Die Bundesregierung sollte dafür sorgen, dass die geplante Litauen-Brigade der Bundeswehr auf litauischem Boden so schnell wie möglich voll einsatzbereit ist. Auch sollte sie darauf hinwirken, dass Kanada und Großbritannien über ihre bisherigen Zusagen einer rotierenden Truppenpräsenz in den baltischen Staaten hinausgehen und dauerhaft Brigaden in Estland und Lettland stationieren. Ein solcher Schritt würde den USA zeigen, wie ernst es den Mitgliedstaaten auf beiden Seiten des Atlantiks mit der Verteidigung ihrer Bündnispartner ist.