Die Zwischenwahlen in den USA geben Anlass, über die zukünftige US-Unterstützung für die Ukraine und Konsequenzen für Europa nachzudenken. Klar ist, dass ohne die US-Militärhilfe, die sich seit Anfang des Kriegs auf über 17 Milliarden Dollar beläuft, die Erfolge der ukrainischen Streitkräfte in den letzten Wochen nicht möglich gewesen wären. Die bisherige Haltung der Biden-Administration sah vor, die Ukraine so lange wie notwendig in ihrer Verteidigung gegen den russischen Angriffskrieg zu unterstützen und militärisch zu stärken, dass sie in künftigen Waffenstillstands- und Friedensgesprächen aus einer Position der Stärke heraus verhandeln kann. Dieser Ansatz wurde bisher auch im Kongress weitestgehend parteiübergreifend unterstützt. Bei einer Abstimmung über ein neues Hilfspaket im Mai stimmten 57 Abgeordnete des Repräsentantenhauses dagegen – bei insgesamt 435 Stimmen eine Minderheit. Nach wie vor unterstützt auch die Mehrheit der Bevölkerung das bisherige Vorgehen und hegt klare Sympathien für die Ukraine, auch wenn die Unterstützung unter republikanischen Wählerinnen und Wählern nach neuesten Umfragen zurückgegangen ist. Daneben gab es zuletzt Anzeichen für ein Aufbrechen des parteiübergreifenden Konsenses im Kongress, insbesondere auf Seiten der Republikaner, das sich nun fortsetzen könnte.
Republikaner werden mehr Kontrolle bei US-Militärhilfen einfordern
Im Oktober sorgten Aussagen von Kevin McCarthy – dem bisherigen Minderheitsführer der Republikaner im Repräsentantenhaus und ab Januar wahrscheinlich neuem Sprecher des Repräsentantenhauses als Nachfolger von Nancy Pelosi – für Aufsehen. Sollten die Republikaner die Mehrheit im Repräsentantenhaus gewinnen, so McCarthy, dürfe die Ukraine nicht von einem Blankoscheck für Unterstützung ausgehen, insbesondere da es in den USA zu einer Rezession kommen könne. Gleichzeitig deutete er an, dass die Republikaner nicht nur das Ausmaß der Hilfe reduzieren, sondern auch für eine künftige Unterstützung neuer Hilfspakete Konzessionen von den Demokraten fordern könnten, zum Beispiel im Bereich der Grenzschutz- und Einwanderungspolitik. Auch sein Parteikollege Michael McCaul, der wahrscheinlich künftig den Vorsitz im Auswärtigen Ausschuss des Repräsentantenhauses führen wird, erklärte, dass die Republikaner bei der künftigen Hilfe mehr Kontrolle und Rechenschaftspflichten der Regierung fordern werden, wie und wofür die Mittel verwendet werden. Der Republikaner Mitch McConnell, republikanischer Fraktionsführer im Senat, hat sich bisher für die Aufrechterhaltung der Ukrainehilfen ausgesprochen.
Die genannten Aussagen bedeuten zwar keine prinzipielle Ablehnung künftiger Hilfspakete. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass der Ansatz von McCarthy, McConnell und anderen führenden Republikanern von vielen neuen republikanischen Abgeordneten, die im Wahlkampf von Donald Trump unterstützt wurden, zunehmend angefochten wird. Diese MAGA-Fraktion („Make America Great Again“) der Republikaner, die bereits im Mai die Unterstützung der Hilfspakete verweigert hat, stellt grundsätzlich die Frage, warum amerikanische Steuergelder in die Ukraine fließen sollten und dafür eine nukleare Eskalation mit Russland riskiert werde. Die Ablehnung weiterer Hilfe für die Ukraine wird also voraussichtlich unter den republikanischen Abgeordneten zunehmen. Auch im Senat werden künftig mehr Kritiker der bisherigen Ukrainepolitik vertreten sein, darunter J.D. Vance, ein neuer republikanischer Senator aus Ohio und einer der prominentesten Vertreter eines isolationistischen Kurses. Diese Gruppe ist allerdings bisher noch in einer Minderheit.
Haltung der Demokraten zur Ukraine-Hilfe wird sich nicht grundlegend ändern
Es ist dagegen unwahrscheinlich, dass sich auf Seiten der Demokraten die Haltung zur Ukrainehilfe grundlegend verändern wird, auch wenn die kritischen Stimmen im demokratischen Lager zunehmen könnten. Einen ersten Vorgeschmack darauf gab es im Oktober, als ein Brief von Abgeordneten des sogenannten progressiven Flügels der Partei an die Öffentlichkeit geleakt wurde. Darin wurde die grundsätzliche Unterstützung der Ukraine zwar nicht infrage gestellt, die Biden-Regierung aber zu mehr diplomatischer Initiative für einen Waffenstillstand aufgefordert. Der Brief war schon im Sommer verfasst und zurückgehalten, aber offensichtlich ohne Autorisierung der Abgeordneten im Oktober geleakt worden. Die im Brief genannten Abgeordneten erklärten prompt, dass der Inhalt des Briefes nicht mehr ihrer aktuellen Haltung entsprechen würde.
Daneben ist auch auf Seiten der Regierung vorerst keine grundlegende Haltungsänderung in Bezug auf die Ukraine zu erwarten. Daran ändert auch die Tatsache wenig, dass wenige Tage vor den Midterms durchgesickert ist, dass US-Regierungsbeamte die ukrainische Regierung offensichtlich aufgefordert haben, von ihrer Maximalforderung abzurücken, nur mit einem neuen russischen Präsidenten über einen Friedensvertrag zu verhandeln. Bei neuen Abstimmungen über neue Hilfspakete für die Ukraine könnte es also weiter zu parteiübergreifenden Entscheidungen kommen, bei denen die Demokraten gemeinsam mit moderaten Republikanern stimmen. Da die republikanische Zustimmung aber nicht ganz sicher ist, so wird angenommen, könnte noch vor Jahresende und damit vor der Einsetzung des neuen Kongresses über ein neues Hilfspaket abgestimmt werden.
Ukraine: ein mögliches Wahlkampfthema bei den Präsidentschaftswahlen 2024
Es ist nicht auszuschließen, dass die Ukraine im anstehenden Wahlkampf zu den Präsidentschaftswahlen zu einem wichtigen Wahlkampfthema wird. Mit ihrer neuen Mehrheit im Repräsentantenhaus werden die Republikaner voraussichtlich verschiedene Untersuchungsausschüsse einsetzen – unter anderem als Revanche für den Untersuchungsausschuss zu den Ereignissen des 6. Januar 2021, den die Republikaner als „Hexenjagd“ der Demokraten sehen. Sie werden daneben voraussichtlich einen Untersuchungsausschuss zu den Geschäftspraktiken von Joe Bidens Sohn Hunter Biden einsetzen, der vor einigen Jahren in den Vorstand des ukrainischen Gasunternehmens Burisma Holding berufen wurde – wohl unter Annahme des Unternehmens, dass es dadurch einen besseren Zugang zu seinem Vater, dem damaligen Vizepräsidenten, erhalten würde, der für die US-Ukrainepolitik federführend war. Im Laufe der Untersuchungen würden die Republikaner die Ukraine und insbesondere die Selenskyj-Regierung als korrupt darstellen; ein Narrativ, dass bereits seit Jahren sowohl unter republikanischen Politikerinnen und Politikern als auch deren Wählerinnen und Wählern kursiert.
Daneben könnte das Image der Ukraine in den USA weiter Schaden nehmen, sollten sich die bisherigen militärischen Erfolge der ukrainischen Streitkräfte nicht weiter fortsetzen. Das könnten einige Republikaner zum Anlass nehmen, Bidens Ukrainepolitik generell als gescheitert darzustellen und somit schnell ein Ende bereiten zu müssen, damit die USA nicht erneut in einen teuren und langwierigen Krieg („never ending war“) hineingezogen werden. Der Abgeordnete und Trump-Anhänger Scott Perry, bisheriger Vorsitzender des Freedom Caucus, hat bereits angedeutet, dass die Republikaner einen Untersuchungsausschuss zur Ukrainepolitik der Biden-Regierung einsetzen könnten.
Nicht zuletzt könnte Donald Trump, dessen Verhältnis zur Selenskyj-Regierung seit spätestens 2019 schlecht ist, das Thema im Wahlkampf ausschlachten. Damals hatte er versucht, die ukrainische Regierung dazu zu bringen, gegen Joe Biden und seine Familie zu ermitteln. Im Gegenzug versprach Trump, die Auszahlung von US-Militärhilfen an die Ukraine freizugeben. Dieser Erpressungsversuch führte zum zweiten Impeachment-Verfahren gegen den damaligen Präsidenten. Entsprechend überrascht es nicht, dass Trump seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine Partei für Wladimir Putin ergreift und dessen Vorgehen in der Ukraine im Februar gar als „genial“ und „gerissen“ bezeichnete. Trump hat im Oktober zudem sofortige Friedensverhandlungen gefordert, um einen Weltkrieg zu verhindern. All das deutet darauf hin, dass die Unterstützung der Ukraine in einer möglichen zweiten Amtszeit Trumps oder eines ähnlich gesinnten Republikaners alles andere als gesichert wäre. Dessen ist Putin sich bewusst und könnte somit in Bezug auf den aktuellen Krieg auf Zeit spielen.
Deutschland und seine europäischen Verbündeten sollten auf einen eventuellen Wandel unter einem neuen US-Präsidenten vorbereitet sein
Deutschland und Europa sollten frühzeitig in Sicherheit und Verteidigung investieren
Diese Entwicklungen sollten eine Warnung an Europa sein. Auch wenn sich an der US-Unterstützung für die Ukraine in den nächsten zwei Jahren nicht grundsätzlich etwas ändern sollte, müssen Deutschland und seine europäischen Verbündeten auf einen eventuellen Wandel unter einem neuen US-Präsidenten vorbereitet sein. Die Bundesregierung und andere europäische Regierungen haben ihre militärische und finanzielle Unterstützung für die Ukraine zwar zuletzt erhöht, gehen aber weiter davon aus, dass die USA den Löwenanteil der Militärhilfe tragen. Dabei wird leicht vergessen, dass die Ukraine nicht nur sich selbst, sondern auch den Rest Europas gegen die russische Aggression verteidigt, und eine Unterstützung des Landes somit nicht allein aus Solidarität geschieht, sondern im deutschen Sicherheitsinteresse ist.
Im Jahr 2025 könnte sich Europa mit einer Situation konfrontiert sehen, in der Russland noch immer die Ukraine angreift oder sogar weitere europäische Staaten bedroht. Sollte in diesem Szenario die militärische Unterstützung der USA ausbleiben, wäre es an Deutschland und Europa, den Großteil der aus dem Ausland kommenden militärischen und finanziellen Unterstützung für die Ukraine zu tragen. Dies wird jedoch nur möglich sein, wenn bis dahin weitere Investitionen in die eigene Sicherheit und Verteidigung sowie Planspiele zur Unterstützung von Verbündeten vorangetrieben werden. Es könnte daneben zu einer Situation kommen, in der die US-Administration mit Russland Friedensverhandlungen lanciert, welche die territoriale Integrität der Ukraine untergraben würden. Eine sowohl für die Ukraine als auch die restlichen europäischen Staaten inakzeptable Situation. In Anbetracht dieser möglichen Entwicklungen sollten sich die politischen Verantwortlichen in Berlin und ihre Verbündeten besser heute als morgen auf ein Worst-Case-Szenario vorbereiten, selbst wenn es niemals eintreten sollte.