Mittlerweile geht die Zahl der Covid19-Neuinfektionen fast überall in Europa zurück. In den vergangenen Wochen verkündeten daher immer mehr Länder, Grenzkontrollen, Reisewarnungen und Quarantäneregeln lockern oder ganz entfallen lassen zu wollen. Die Bundesregierung entschied bereits Anfang Juni per Kabinettsbeschluss, zum symbolträchtigen Datum die Reisewarnung für alle EU-Mitgliedstaaten, Großbritannien, die Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein aufzuheben. Zwar gehen zum Jubiläum nicht alle Grenzen auf einmal wieder auf. Aber Europa macht deutliche Schritte zurück in Richtung Normalität. Dennoch gibt es zwei Gründe, warum Feierlaune unangebracht ist.
Erstens steckt das Schengener Abkommen bereits seit seinem 30. Lebensjahr in einer verfrühten „Midlife-Krise“. Während der so genannten Migrationskrise führten bereits 2015 mehrere Mitgliedstaaten Grenzkontrollen wieder ein. Diese sollten zwar nur vorübergehend sein, wurden seitdem aber immer wieder verlängert. Stichprobenartige Kontrollen gehörten also bereits in den vergangenen Jahren zur Realität von Schengen dazu. Eine Zurückweisung drohte allerdings vor allem irregulär weiterwandernden Asylsuchenden und nicht EU-Bürgern auf dem Weg in den Sommerurlaub.
Zweitens gilt auch in der jetzigen Krise, dass die Grenzen nicht für alle Personengruppen gleich „zu“ oder „offen“ sind. Wie durchlässig eine Grenze ist, hängt stattdessen davon ab, wer um Einlass bittet. Durch die Corona-Pandemie lässt sich wie unter dem Brennglas erkennen, welche Arten von Mobilität notwendig und wünschenswert sind und welche eben nicht. Die Krise warf in allen Lebensbereichen ein Schlaglicht darauf, dass bestimmte Berufsgruppen für das Funktionieren unserer Gesellschaft unverzichtbar sind, z.B. Mitarbeitende im Gesundheitsbereich, aber auch Supermarktkassierer. „Systemrelevant“ lautet die entsprechende Modevokabel.
Im Migrationsbereich trat die Bedeutung von Saisonarbeitern plötzlich zu Tage. Die Landwirtschaft fürchtete beispielsweise um die Ernte des deutschen Spargels. Bereits kurze Zeit nach Verkündung des Einreisestopps nach Deutschland wurde für Spargelstecher aus Rumänien eine Ausnahme gemacht. Sonderregelungen gab es auch für den grenzüberschreitenden Berufsverkehr. Berufspendler, die in Deutschland arbeiten, aber beispielsweise in Frankreich leben, konnten weiterhin einreisen. Hier zeigte sich, dass die Lebensrealität vieler Menschen in den Grenzregionen tatsächlich grenzübergreifend funktioniert. Eine vollständige Abdichtung der Grenze war nicht möglich. Diese Formen der Mobilität sind notwendig. Andere sind wünschenswert.
Die Langzeitfolgen der Pandemie für die weltweite und innereuropäische Mobilität sind noch nicht abzusehen.
Die Volkswirtschaften einiger europäischer Länder sind stark vom Tourismus abhängig. Und auch aus individueller Perspektive sehnen sich viele EU-Bürgerinnen und Bürger danach, die Reisefreiheit wieder genießen zu können. An einer Landesgrenze von der Grenzpolizei gestoppt und gar zurückgewiesen zu werden, sind sie einfach nicht mehr gewohnt. Diesem Wunsch nach eigener Bewegungsfreiheit steht allerdings oft der Impuls gegenüber, andere, unliebsamere Arten der Mobilität weiter zu beschränken.
Für Asylsuchende sind die Grenzen bereits seit 2015 immer undurchlässiger geworden. Jetzt verschließen sich viele Länder noch weiter. Asylverfahren werden auf Eis gelegt oder verzögern sich aufgrund der Umstellung auf digitale Prozesse erheblich. Italien erklärte seine Häfen aufgrund der Pandemie für unsicher. Schiffe, die Migranten aus Seenot gerettet haben, steckten damit erneut auf offener See fest. Tatsächlich waren die Schengen-Binnengrenzen für Asylsuchende auch vor der Pandemie nicht offen. Schutzsuchende, die, statt im Erstankunftsland zu bleiben, in ein anderes europäisches Land weiterreisten, überquerten die Grenze zumeist unrechtmäßig. Sie müssen damit rechnen, im Rahmen einer sogenannten Dublin-Überstellung zurückgeschickt zu werden. Und auch die reguläre Aufnahme von Flüchtlingen geriet wegen der Pandemie ins Stocken. Deutschland verkündete Mitte März, es werde das humanitäre Aufnahmeprogramm für Flüchtlinge („Resettlement“) aussetzen.
Die Gefahr in der derzeitigen Krise besteht nun darin, dass die Grenzen auch nach Eindämmung der Pandemie nur für bestimmten Personengruppen wieder offen sind, während sie für unerwünschte Formen der Mobilität geschlossen bleiben. Seit 2015 bestehende Trends könnten sich dadurch weiter verschärfen. „Ein Virus hat Europa infiziert, das Virus der Angst“, analysierte der sozialdemokratische italienische Politiker Gianni Pittella vor vier Jahren bei einer Debatte des Europäischen Parlaments zur Flüchtlingskrise. Mit dieser Metapher wollte er die Abschottungstendenzen der europäischen Migrationspolitik beschreiben.
Heute befeuert das reale Covid19-Virus diese Tendenzen noch weiter. Die Langzeitfolgen der Pandemie für die weltweite und innereuropäische Mobilität sind noch nicht abzusehen. Die verantwortlichen Entscheider in Deutschland und Europa sollten sorgsam abwägen, welche Prioritäten sie setzen, wenn Bewegungsfreiheit schrittweise wieder ermöglicht wird. So schön der Traum vom Sommerurlaub auch ist, dürfen gesellschaftlich umstrittenere Formen der Mobilität dabei nicht vergessen werden. Das Asylsystem in Europa stand schon vor der Corona-Krise unter Druck. Die Pandemie sollte nicht zum Vorwand werden, es noch weiter auszuhöhlen.