Deutschlands Zeitenwende ist also am Ende – so zumindest das Fazit von Benjamin Tallis nach zweijährigen Beratungen mit der „Action Group Zeitenwende“ der DGAP. Tallis geht sogar so weit zu sagen, dass sich der sicherheitspolitische Kurswechsel in Deutschland derart fundamental gescheitert sei, dass man nicht einmal mehr den Namen „Zeitenwende“ verwenden sollte.
Positive Entwicklungen und erste Erfolge
Dabei wäre es schade, denn Deutschlands Nachbarn und Verbündete haben mit großem Erstaunen wahrgenommen, was nach Jahren der sicherheitspolitischen Lethargie in Deutschland so alles möglich wurde: Ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr wurde per Federstrich beschlossen, um zumindest die größten Löcher bei den Streitkräften zu stopfen. Deutschland wurde zum zweitgrößten Unterstützer der Ukraine nach den USA, sowohl durch Waffenlieferungen als auch durch zivile Hilfe – ein erheblicher Kurswechsel, bedenkt man, dass Deutschland jahrzehntelang Rüstungsexporte in Kriegsgebiete abgelehnt hatte.
Zusätzlich wurde eine kampfbereite Bundeswehr-Brigade im Baltikum stationiert und europäische Fähigkeiten zur Luftverteidigung werden durch Deutschlands Sky Shield Initiative gemeinsam beschafft. Auch wird nun endlich von den USA das F-35 Kampfflugzeug gekauft, nachdem man sich sehr lange um die Entscheidung über die Tornado-Nachfolge herumgedrückt hatte. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung
Auch die Wende in den Köpfen lässt sich nur schwer leugnen. Die Mehrheit der Deutschen befürworten die Unterstützung der Ukraine und die Aufrechterhaltung der Sanktionen gegen Russland – trotz der pro-russischen Haltung (man möchte fast sagen Moskau-Hörigkeit) von AfD und BSW. Ein Minister, der „Kriegstüchtigkeit“ fordert, muss nicht nach wenigen Tagen zurücktreten – anders als im Jahr 2011, als Bundespräsident Horst Köhler Kritik von seinem Amt zurücktrat, weil er darauf hinwies, dass „im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege“.
Die Stärkung der Bundeswehr oder die Notwendigkeit der nuklearen Abschreckung werden allgemein akzeptiert. Und die Stationierung von amerikanischen Marschflugkörpern auf deutschem Boden wird en passant verkündet, ohne dass sich danach Menschenketten friedensbewegter Aktivisten vor Kasernentoren versammeln. Sicherheits- und verteidigungspolitische Fragen, die vor 2022 lange ein Schattendasein in der öffentlichen Debatte geführt haben, werden nun ständig in Medienberichten und Talkshows diskutiert.
Viele dieser Veränderungen gesteht auch Benjamin Tallis zu und erwähnt einiges davon sogar lobend. Er bleibt jedoch bei seiner Einschätzung, dass all dies aber nicht ausreiche und die Entwicklungen viel zu langsam und zu zögerlich vorangingen, um die Ukraine zum Sieg zu führen. Stattdessen sei Deutschland Putins leeren Nukleardrohungen auf den Leim gegangen, obwohl doch offensichtlich sei, dass er die Schwelle zum Kernwaffeneinsatz nie überschreiten würde. Tallis verschweigt dabei allerdings, dass amerikanische Geheimdienste im Herbst 2022 Erkenntnisse über einen möglichen russischen Nukleareinsatz hatten und wochenlang versuchten, Moskau mit diplomatischen Mitteln und internationalem Druck davon abzubringen.
Die Frage der NATO-Verpflichtungen und der Verteidigungsausgaben
Auch ist Tallis sich sicher, dass Deutschland das Zwei-Prozent-Ziel der NATO nur kurzzeitig erreichen würde, da das Sondervermögen bald dahingeschmolzen sei. Hier hätte ein Blick in das sogenannte „Sondervermögensgesetz“ vom Juli 2022 geholfen: In Paragraf 1 wird festgehalten, dass nach der Ausschöpfung der 100 Milliarden Euro weiterhin ein Verteidigungshaushalt bereitgestellt werden muss, der ausreicht, „um den deutschen Beitrag zu den dann jeweils geltenden NATO-Fähigkeitszielen zu gewährleisten“. Man kann nicht unbedingt davon ausgehen, dass alle Vertreter im Deutschen Bundestag die Tatsache verinnerlicht haben, dass zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes dafür gar nicht ausreichen werden – aber dafür steht es immerhin im Gesetz.
Kritik an der Umsetzung der Zeitenwende
Es gibt sicher viele Gründe, die Zeitenwende als unzureichend zu kritisieren. 100 Milliarden Euro sind angesichts des jahrelangen Modernisierungsstaus in der Bundeswehr nur ein Teil dessen, was erforderlich ist, um eine wirksame Landes- und Bündnisverteidigung aufzubauen. Andere NATO-Partner leisten im Verhältnis zu ihrer Größe und Wirtschaftskraft deutlich mehr, sowohl bei der Verstärkung ihrer Streitkräfte als auch bei der Unterstützung der Ukraine. Auch zeigt die deutsche Regierung nicht die Kraft, klare Prioritäten im Haushalt zu setzen und die Zeitenwende aus Steuermitteln, anstatt über neue Schulden zu finanzieren. Die unlängst angewandten Haushaltstricks, bei denen man auf die Zinserlöse eingefrorener russischer Vermögenswerte gesetzt hat, waren schlicht beschämend und auf die nahenden Landtagswahlen gerichtet.
Doch ist die Zeitenwende wirklich vollends gescheitert? Das hängt von der Definition und den politisch-realistischen Kriterien und nicht von Maximalforderungen ab, die ein solches Verdikt rechtfertigen. Bestenfalls kann man diskutieren, ob die bisherigen Maßnahmen als eine echte „Wende“ oder nur eine „Kursänderung“ in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik bezeichnet werden sollen.
Beim genaueren Lesen von Tallis erkennt man, dass es sich um eine Generalabrechnung mit der amtierenden Regierung handelt. Nicht nur die Zeitenwende wäre vergeigt worden, sondern auch die Energiewende oder das Verhältnis zu Frankreich. China hätte man um der eigenen Autoindustrie willen nicht entschieden genug die Stirn geboten und auch auf eine Kapitalmarktreform habe man sich nicht einigen können. Deutschlands EU-Partner habe man vergrätzt, weil man eigene EU-Schulden ablehne, und auch die Schuldenbremse hätte längst fallen müssen.
Die Forderung nach einer „Grand Strategy“
Natürlich sind solche Totalverrisse legitim. Allerdings werden sie in der Regel in Parteizentralen oder im Wahlkampf produziert. Auch die Lösung des Autors für die Misere verblüfft: Es bedarf einer „Grand Strategy“, da Deutschlands erste Nationale Sicherheitsstrategie von 2023 seiner Meinung nach nicht ausreicht. Auch wenn keinesfalls klar ist, was sich hinter diesem bedeutungsschweren Begriff verbirgt, so kann der Autor nun eine neue Gruppe um sich scharen, die Deutschland endlich auf den groß-strategisch richtigen Weg führt.
Man kann stattdessen aber auch anerkennen, dass die „Zeitenwende“ trotz all ihren Schwächen sicherheitspolitische Veränderungsprozesse in Gang gesetzt hat, die sich im Februar 2022 kaum jemand vorstellen konnte. Vor allem hat sich in breiten Teilen von Politik und Gesellschaft die Erkenntnis durchgesetzt, dass es nicht nur um eine kurzfristige Reaktion auf den Ukrainekrieg geht, sondern um einen langfristigen Wandel der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Dazu braucht es eine Bundeswehr, die auftragsgerecht ausgestattet ist, eine gesicherte und dauerhafte Finanzierung der Verteidigungsausgaben sowie eine enge transatlantische Zusammenarbeit.
Zudem liegt die sicherheitspolitische Zukunft Deutschlands in einem europäischen Pfeiler in der NATO, nicht in illusionären Konzepten einer vermeintlich autonomen Verteidigungsfähigkeit der Europäischen Union. NATO und EU verfügen über unterschiedliche Kernkompetenzen, die durch eine enge Zusammenarbeit bestmöglich genutzt werden müssen. Letztlich bedarf es einer realistischen, interessenorientierten Politik, die frei von Ideologie ist und auf einem breiten sicherheitspolitischen Wissen in Politik und Gesellschaft basiert. Nur so bleibt Deutschland zukunfts- und bündnisfähig.