Report

20. Sep 2021

Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Was Deutschland für Sicherheit, Verteidigung und Frieden tun muss
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Für das offene und global vernetzte Deutschland hängen die Sicherheit der Welt und die der europäischen Nachbarschaft untrennbar mit der eigenen zusammen. Inmitten dieser globalen Verflechtungen krankt die deutsche Sicherheitspolitik jedoch an vielerlei Fehleinschätzungen. Angesichts der Verschlechterung der strategischen Lage muss die neue Bundesregierung die Kraft zu einer Erneuerung der deutschen Sicherheitspolitik finden. Ansonsten droht Deutschland der Verlust von Handlungsspielräumen und die Vereinnahmung durch strategische Herausforderer. 

Dieser Aktionsplan ist im Rahmen des Berichts Smarte Souveränität der Ideenwerkstatt Außenpolitik, gefördert durch Stiftung Mercator, entstanden.

Empfehlungen

Strategische Kultur und institutionelle Reform

1. Strategische Kultur lebendiger gestalten

2. Einen handlungsfähigen Bundessicherheitsrat (BSR) schaffen

3. Sicherheitspolitische Kommission einrichten

4. Sicherheitspolitik demokratisieren

Reform der Politik

1. Stärken der NATO und EU verzahnen

2. Planungssicherheit und Mittelverwendung verbessern

3. Nukleare Ordnung, Abschreckung und Rüstungskontrolle mitgestalten

4. Krisenprävention und Stabilisierung besser aufstellen 

5. Exportkontrolle von Rüstungsgütern und Technologie neu ordnen

6. Resilienz in Deutschland, in Europa und im Bündnis stärken

 

 

Für das offene und global vernetzte Deutschland hängen die Sicherheit der Welt und die der europäischen Nachbarschaft untrennbar mit der eigenen zusammen. Insbesondere nach dem Fall der Mauer 1989 haben unter dem Schirm der Vereinten Nationen gewachsene normative Ordnungen den Wohlstand, die Sicherheit und das Ansehen des vereinigten Deutschlands gemehrt, allen voran die Europäische Union und das von der Sicherheitsgarantie der USA getragene westliche Bündnis. Kein Land in Europa hat so von der Erweiterung der EU und der Einführung des Euros profitiert wie Deutschland. Die Energiepartnerschaft mit Russland und die Handelspartnerschaft mit China haben dazu beigetragen, Deutschland zum wirtschaftlichen Motor Europas zu machen. Die Erweiterung der NATO schließlich machte die ehemaligen deutschen Frontstaaten zum geografischen Mittelpunkt des europäischen Bündnisgebiets.

In Deutschland wurde diese Entwicklung doppelt falsch gelesen, wie der Diplomat Thomas Bagger angemerkt hat: als Beleg für eine globale Konvergenz in Richtung des westlichen Modells und als Beweis dafür, dass sich die deutsche Erfahrung einer friedlichen Beilegung des Kalten Krieges verallgemeinern lässt. Aus diesen Missverständnissen zogen viele Deutsche den Fehlschluss, dass sie in einem angemessenen und stabilen Status quo leben, der den Einstieg in eine umfassende Abrüstung erlaube. Die Schattenseite der wirtschaftlichen Verflechtung etwa bei der Abhängigkeit vom Handel mit China wollten sie nicht sehen. Noch weniger wollten sie wahrhaben, dass Partner zu Rivalen und Gegnern werden können, wie dies bei Russland spätestens seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 der Fall ist. Schließlich ignorierte Deutschland viel zu lange die Kritik seiner Partner an den strategischen Nebenwirkungen der deutschen Wirtschaftspolitik, etwa mit Blick auf Vorhaben wie Nord Stream 2. An all diesen Fehleinschätzungen krankt die deutsche Sicherheitspolitik bis heute.

Eine neue, gefährliche Ära

Inzwischen ist offensichtlich, dass die historische Konstellation, die Deutschland in der Zeit nach Ende des Kalten Krieges in so einmaliger Weise schützte, an ihr Ende kommt. Mit großer Geschwindigkeit wachsen neue Gefahren und Bedrohungen für Deutschlands Sicherheit heran, durch die bereits bestehende Bedrohungen wie Kriege, Staatszerfall, Terrorismus und die Proliferation von Massenvernichtungswaffen in ihrer Wirkung noch verstärkt werden:

  • Chinas globale Dominanzstrategie und Russlands territorialer Revisionismus;
  • Amerikas Ambivalenz gegenüber seiner bisherigen Rolle als globaler Sicherheitsgarant;
  • Neue Waffentechnologien (z.B. Hyperschallraketen, KI, autonome Systeme, weltraumgestützte Systeme, biotechnologische Materialien), teils in Kombination mit „alten“ aber modernisierten Waffensystemen wie Nuklearwaffen;
  • Informations-Operationen (Propaganda, Desinformation) mit Hilfe neuer Medientechnologien

Kriege, Krisen und interne Konflikte finden nicht nur an Europas Grenzen statt (Israel-Palästina, Syrien, Armenien, Nordafrika), sondern in Europa selbst: von Belarus über die Ukraine und den Balkan bis in das östliche Mittelmeer. Ihre Auswirkungen beeinträchtigen Europa auf vielfältige Weise: über Lücken in den Wertschöpfungsketten oder Fracht- und Gastransitrouten, über Migrations- und Fluchtbewegungen und über Versuche, Diaspora-Populationen politisch zu instrumentalisieren. Oft stehen hinter lokalen Konfliktparteien Drittmächte wie China, Russland, der Iran, die Türkei oder Saudi-Arabien. So wird die europäische Nachbarschaft zunehmend zum Schauplatz einer Konkurrenz von Groß- und Regionalmächten, deren Sog sich Europa und Deutschland kaum entziehen können. Dies trifft insbesondere zu, wenn Alliierte in diesen Konflikten beteiligt sind, etwa die Türkei.

Austragungsort des Systemwettbewerbs

Längst ist auch Europa selbst zum Austragungsort und Objekt des Systemwettbewerbs zwischen Demokratien und Autokratien geworden. China, Russland und die Türkei verfolgen unterschiedliche Ziele, aber es ist unverkennbar, dass alle drei Länder zunehmend als Rivalen oder gar Gegner des Westens agieren. Dabei instrumentalisieren sie Differenzen innerhalb der NATO oder der EU. Sie tragen bilaterale Konflikte in diese Organisationen und spielen Akteure und Öffentlichkeiten innerhalb der Mitgliedstaaten gegeneinander aus. Sie unterstützen innerstaatliche Extremisten und verhindern Solidarität und gemeinsames Handeln. In letzter Konsequenz steht dadurch die Zukunft des Westens, des europäischen Projekts und der Demokratie in Deutschland auf dem Spiel.

Die unübersehbaren Fliehkräfte in NATO und EU machen Deutschland zu dem Punkt, an dem die europäische Ordnung aus den Angeln gehoben werden könnte.

Die bestehenden Sicherheitsordnungen in Europa (NATO, EU und OSZE) werden aber auch von den eigenen Mitgliedern in Frage gestellt. Im Falle der OSZE sind es autokratische Regierungen wie die in Russland, die ihre Legitimität reduzieren. Die EU wird durch den Brexit und autoritäre und nationalistische Regierungen wie in Ungarn und Polen geschwächt. Die NATO wiederum leidet unter amerikanischen Ambivalenzen; wobei es auch nicht hilft, wenn ein französischer Präsident das Bündnis für politisch „hirntot“ erklärt. Aber auch Deutschlands politische Akteure tragen große Verantwortung: Sie haben es jahrzehntelang unterlassen, die Gesellschaft über die realen Herausforderungen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufzuklären. Sie haben den deutschen Verteidigungsbeitrag in Frage gestellt und die Bundeswehr unterfinanziert. Und trotz ihrer Bekenntnisse zu EU und NATO betreiben sie Projekte mit Russland und China wie Nord Stream 2, die Europa und das Bündnis spalten.

Die unübersehbaren Fliehkräfte im Bündnis und in der EU machen Deutschland zu dem Punkt, an dem die europäische Ordnung aus den Angeln gehoben werden könnte. Die Tatsache, dass die Bundestagswahl im September und der damit verbundene Macht- und Generationenwechsel in der deutschen Politik schon im Vorfeld zum Gegenstand von Desinformations- und Propagandakampagnen wurden, ist ein Beleg dafür. Deutschland erlebt überdies seit Jahren eine massive Einflussnahme von ausländischen Akteuren, vom legalen Einkauf in kommunale oder private Infrastrukturen und Innovationssysteme bis zu illegalen Cyberangriffen. Hybride Bedrohungen werden aber erst seit 2020 von der deutschen Regierung als eigenständiges Thema behandelt – mit Federführung im Bundesinnenministerium. Damit gehört Deutschland zu den Nachzüglern in EU und NATO.

Was ist zu tun?

Deutschland hat in den vergangenen Jahren begonnen, die Kluft zwischen Wunschdenken und Wirklichkeit in seiner Sicherheitspolitik zu verkleinern. Bei den EU-Sanktionen gegen Russland nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 hat die Bundesregierung die Führung übernommen. Sie hat sich auch bei der Bündnisverteidigung in der NATO und in internationalen Militäreinsätzen stärker engagiert. Der Verteidigungshaushalt ist erheblich angestiegen, von 32 Milliarden Euro 2014 auf knapp 47 Milliarden Euro 2021. Und dennoch bleibt der Eindruck, dass Deutschland vor allem auf äußeren Druck reagiert—und auch dann noch zu wenig und zu spät.

Empfehlungen

Angesichts der Verschlechterung der strategischen Lage muss die neue Bundesregierung die Kraft zu einer Erneuerung der deutschen Sicherheitspolitik finden. Ansonsten droht Deutschland der Verlust von Handlungsspielräumen und die Vereinnahmung durch strategische Herausforderer. Daher sind drei Dinge notwendig: Gleich zu Beginn der Legislaturperiode sollte die neue Bundesregierung einen sicherheitspolitischen Bewusstseinswandel mit praktischen Maßnahmen anstoßen. Dieser sollte zweitens in veränderten Prozessen und neue Institutionen münden. In einem dritten Schritt gilt es, die bestehenden Politiken anzupassen und zu schärfen; das gilt insbesondere für den Umgang mit hybriden Bedrohungen, Krisenprävention und Stabilisierung, die nukleare Ordnung und neue Technologien.

Strategische Kultur und institutionelle Reformen

Die Afghanistankrise hat unterstrichen, was bereits durch die COVID-19-Pandemie seit 2020 und die Flutkatastrophe im Sommer 2021 deutlich geworden war: Der deutsche Staat ist nicht in der Lage, große Krisen bestmöglich zu antizipieren, dafür zu planen und sie zu bewältigen. Wenn sie gleichzeitig auftreten, ist er erst recht überfordert. Abstimmungen und Entscheidungen unter den zuständigen Ministerien und Agenturen (Nachrichtendienste, Krisenstäbe) gelingen nur unzureichend. Das Ressortprinzip auf Bundesebene und die föderalen Strukturen sowie fehlende Kooperation mit privaten Akteuren behindern das Handeln der Regierung und des Gesamtstaates. (siehe auch ​Aktionsplan Strukturen)

1.     Strategische Kultur lebendiger gestalten

In Deutschland können sich die politischen Akteure nur wenige Handlungsoptionen überhaupt vorstellen, als legitim ansehen und öffentlich vertreten. Es mangelt an Vorstellungskraft, politischem Willen und Verantwortungs- und Risikobereitschaft, um problemangemessene Politiken zu entscheiden und die Strukturen und Prozesse so zu gestalten, dass die erforderlichen Instrumente und Ressourcen bereitstehen. Doch wenn Probleme in den Planungen nicht berücksichtigt werden, dann stehen für ihre Bewältigung auch keine angemessenen Instrumente zur Verfügung (Masken, Kommunikationsinfrastruktur oder schnelle Krisenreaktionsverbände). Dann kann die Sicherheit in diesen Situationen nicht oder nicht bestmöglich gewährleistet werden. In einer akuten Krisensituation engt dieser vielfältige Mangel den Handlungsspielraum der politischen Akteure also so stark ein, dass sie nicht angemessen agieren können.

Das liegt an der spezifischen gesellschaft­lich-kulturellen Dimension, der so genannten strategischen Kultur. Sie bestimmt, welchen Grundannahmen die Sicherheitspolitik eines Landes folgt und gibt den Rahmen dafür vor, worüber man politisch streiten und entscheiden kann, und welche Handlungsoptionen unvorstellbar sind. In Deutschland ist dieser Rahmen der denkbaren Ziele und Mittel und damit der Handlungsspielraum eingeschränkter als bei unseren engsten Partnern. Der Grund hierfür sind historisch bedingte oder parteipolitische und gesellschaftliche Normen und Weltanschauungen. Politischen Entscheidern schlägt deshalb erheblicher Widerstand entgegen, wenn sie Politikansätze außerhalb des allgemein akzeptierten Rahmens verfolgen wollen. Solche Ansätze werden in den Planungen selten berücksichtigt.

Deshalb ist es legitim und notwendig, dass die nächste Bundesregierung es sich zum Ziel macht, die nationale Strategiefähigkeit zu stärken, also die Fähigkeit, angemessene sicherheitspolitische Ziele zu definieren und die Mittel für die Umsetzung bereitzustellen. Die dafür erforderlichen Veränderungen in der strategischen Kultur Deutschlands sind allerdings schwer zu erreichen. Es braucht nicht nur die Einsicht der politischen Akteure, sondern auch den Willen, diese gewünschten Veränderungen in die Öffentlichkeit zu tragen und sie an dieser Willensbildung aktiv zu beteiligen.

Probleme müssen regierungsgemeinsam als solche erkannt werden, Lösungen gemeinsam entschieden und Instrumente koordiniert eingesetzt werden.

In einem föderalen Land wie Deutschland ist die Macht auf verschiedene Ebenen verteilt. Veränderungen der sicherheitspolitischen Problemwahrnehmung, Ziele, Mittel und Lösungen sind nur möglich, wenn Regierung, Parlament, die sicherheitspolitische Community und die Zivilgesellschaft an diesem Wandel teilnehmen können. Sonst blockieren sie ihn.

Entscheidend für dauerhafte Veränderungen von Regierungshandeln sind Institutionen und Prozesse, die regierungsgemeinsames Handeln zur Regel machen. Probleme müssen regierungsgemeinsam als solche erkannt werden, Lösungen gemeinsam entschieden und Instrumente koordiniert eingesetzt werden. Dadurch, dass Regierung und Bürokratie ihr Handeln immer wieder auf den verschiedenen staatlichen Ebenen, und gegenüber der Öffentlichkeit erklären, können sie auch dazu beitragen, den Rahmen der überhaupt vorstellbaren Ziele und Mittel zu erweitern.

2.     Einen handlungsfähigen Bundessicherheitsrat (BSR) schaffen

Die wichtigste institutionelle Reform ist die Neukonzeption des Bundessicherheitsrats, der bisher fast nur über Rüstungsexporte entscheidet, als einem zentralen Koordinationsinstrument der Bundesregierung. Dies ist notwendig, um zu allen sicherheitspolitischen Themen ressortübergreifende Abstimmungen und Entscheidungen herstellen zu können. Je nach Thema sollten auch die Bundesländer eingebunden werden, deren Bedeutung für die Sicherheit im nicht-militärischen Bereich steigt. Denn die Länder und Kommunen entscheiden darüber, wer Zugang zu kritischen Infrastrukturen wie Datennetzen, Wasser- und Energieversorgung oder Häfen erhält.

Der neue BSR sollte sich in einen Kabinettsausschuss als Beratungs- und Entscheidungsgremium und ein Sekretariat zur Unterstützung gliedern. Im Kabinettsausschuss würden Ministerinnen und Minister regelmäßig über strategische Themen beraten und verbindliche Entscheidungen fällen. Das Sekretariat als permanente Unterstützungsstruktur hätte die Aufgabe, Themen aus der Arbeit der Bundesregierung aufzugreifen und dem Ausschuss vorzulegen. Es sollte aber auch selbstständig Themen auf die Agenda setzen können. Das Sekretariat sollte zur Hälfte mit Fachkräften aus den am BSR beteiligten Ministerien besetzt werden, zur anderen Hälfte mit Praktikerinnen und Praktikern und Fachleuten aus Wissenschaft und Privatwirtschaft. Dieses Sekretariat sollte von einer Co-Leitung aus politischen Beamten und wissenschaftlichen Experten geführt werden, um aus beiderlei Perspektiven beraten zu können.

Der erste Schritt zum Aufbau des neuen BSR ist, einen Koordinator oder eine Koordinatorin im Rang eines Staatssekretärs zu berufen und eine Task Force für den Aufbau und die kommissarische Arbeit einzurichten. Wichtige thematische Zuarbeit kann die Sicherheitspolitische Kommission leisten (siehe die nächste Empfehlung). Auf der Grundlage ihrer Vorschläge sollte der BSR nach ungefähr zwei Jahren eine nationale und föderale Sicherheitsstrategie vorlegen.

3.     Sicherheitspolitische Kommission einrichten

Als eine seiner ersten Handlungen sollte der BSR eine unabhängige Sicherheitspolitische Kommission einsetzen. Diese ist zusammengesetzt aus Parlamentariern, Experten, und Ministerialbeamten. Sie erarbeitet innerhalb eines Jahres einen Bericht zu den Risiken und Chancen, auf die eine gesamtstaatliche Sicherheitspolitik vorbereiten muss, und Empfehlungen für Politikinhalte, Strukturen und Instrumente. Damit liefert die Kommission wichtigen inhaltlichen Input für die nationale Sicherheitsstrategie und die übrige Arbeit des BSR.

Die Kommission sollte danach jedes Jahr die Fortschritte bei der Umsetzung der Sicherheitsstrategie bewerten. Ihre Berichte können einen Beitrag zum Aufbau einer „Community“ aus Experten, Politikern und Praktikern in Ministerien und bei Privatakteuren leisten. Dies wird dazu führen, dass die Regierung ihre Sicherheitspolitik besser erklärt und eine öffentliche Debatte fördert, was wiederum Voraussetzung für die Weiterentwicklung der strategischen Kultur ist.

4.     Sicherheitspolitik demokratisieren

Neue Lösungen und sicherheitspolitische Weiterentwicklung werden möglich, wenn Regierung, Parteien und Parlament eingeübte Argumentationen und reflexartige Reaktionen überwinden und stattdessen Positionen erklären und begründen müssen. Bürgerinnen und Bürger sollten an der Entwicklung von politischen Optionen und Zukunftsvisionen teilnehmen. Eine den Herausforderungen angemessene Sicherheitspolitik kann nur entstehen, wenn die Zivilgesellschaft sie versteht, akzeptiert und im besten Fall unterstützt. Das gilt insbesondere für Präventionsmaßnahmen. Folgende Möglichkeiten bieten sich an:

Bürgerinnen und Bürger sollten an der Entwicklung von politischen Option und Zukunftsvisionen teilnehmen. 

Die Zivilgesellschaft sollte eingebunden werden, vor allem bei der Entwicklung von Zukunftsvisionen und dem Erarbeiten von politischen Optionen. Ihre Erkenntnisse und Vorschläge sollten als Input in die Arbeit der sicherheitspolitischen Kommission und die nationale Sicherheitsstrategie einfließen. Dafür könnten Regierung und Parlament ein sicherheits-und friedenspolitisches Jahr oder Semester ausrufen. Deren Umsetzung könnten die Bundeszentrale für politische Bildung sowie die Landeszentralen, politischen Stiftungen, Ministerien, Schulen, Universitäten, Medien und andere Institutionen mit interaktiven und partizipativen Veranstaltungen begleiten, die über die Hauptstadt hinaus in die Länder und über die Expertengemeinschaft hinaus in die Bevölkerung reichen.

Das Parlament könnte eine jährliche nationale Sicherheitswoche im Bundestag abhalten.

Die Bundesregierung sollte vorzugsweise während der Sicherheitswoche einen jährlichen Umsetzungsbericht zur Nationalen Sicherheitsstrategie vorlegen, eingeleitet durch eine Grundsatzrede von Kanzler oder Kanzlerin zur Sicherheitspolitik.

In seiner derzeitigen Ausschussstruktur spiegelt der Bundestag nicht die Vernetzung von Innen-, Außen-, Verteidigungs-, Wirtschaftspolitik und Entwicklungszusammenarbeit wider, die aber für eine strategische deutsche Sicherheitspolitik notwendig ist. Der Bundestag sollte einen Sicherheitspolitischen Ausschuss einrichten. Dieser neue Ausschuss würde die Arbeit des Bundessicherheitsrats begleiten und parlamentarisch kontrollieren. Diese Konstruktion gewährleistet, dass eine größere Handlungsfähigkeit der Exekutive nicht auf Kosten ihrer demokratischen Legitimität und der Kontrollrechte der Parlamentarier geht. Dieser Ausschuss sollte Abgeordnete aus allen relevanten Ausschüssen beteiligen.

Dies würde einen umfassenden sicherheitspolitischen Ansatz ermöglichen und verteidigungspolitische Fragen besser mit internationaler politischer Analyse verbinden. Sicherheits- und verteidigungspolitischen Themen würden so mehr Gewicht und Reichweite erhalten.

Reform der Politiken

1.     Stärken der NATO und EU verzahnen

Die globalen und regionalen Sicherheitsinstitutionen wie die Vereinten Nationen und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bewirken immer weniger, weil sie durch Konflikte unter den Mitgliedern blockiert werden. Deutschland sollte eine weitere Erosion dieser Institutionen nach Kräften verhindern. Aber wirkliche Handlungsfähigkeit im Sinne gestalterischer Optionen bieten zurzeit vor allem EU und NATO.

In Europa sind derzeit 21 Staaten gleichzeitig Mitglieder von NATO und EU, und trotzdem nutzen sie das gemeinsame Potenzial der beiden Institutionen nicht aus. Das Verhältnis zwischen EU und NATO ist von Misstrauen und Desinteresse, bisweilen auch von Konkurrenzdenken geprägt. In Deutschland bekennen sich politische Akteure oft einseitig zu einer Institution und schreiben ihr Bedeutungen zu, die zu den eigenen Weltanschauungen passen, anstatt beide Organisationen für eine umfassende Sicherheitspolitik zu nutzen.

Tatsächlich sind diese ideologischen oder kategorischen Rollenzuschreibungen ein Hindernis für mehr Sicherheit. Den rasant wachsenden Herausforderungen kann Europa nur dann erfolgreich begegnen, wenn es die unterschiedlichen Kompetenzen beider Organisationen gemeinsam einsetzt. Dafür bedarf es der Bereitschaft, ideologische Positionen zu überwinden. Die NATO ist die stärkste Militärallianz der Welt, wenn sich die Alliierten politisch einig sind. Aber je mehr Europas Sicherheit nicht nur auf klassischen militärischen Fähigkeiten aufbaut, sondern auch den Schutz kritischer Infrastrukturen, Resilienz, Prävention, das Management komplexer Konflikte und die Nutzung neuer Technologien erfordert, desto mehr rücken die Handlungsoptionen der EU in nicht-militärischen Bereichen ins Blickfeld. Die Union besitzt einzigartige Instrumente in den Bereichen ziviles Krisenmanagement, Klimawandel und im Technologiebereich über Regulierung, Standardisierung und die Setzung von Entwicklungsanreizen.

Deutschland sollte sich für eine möglichst kohärente Analyse der Lage und Zukunft der europäischen Sicherheit einsetzen.

Die Bundesregierung sollte sich nachdrücklich für einen qualitativen Sprung in der Verzahnung von EU und NATO einsetzen. Das politische Fenster für große Veränderungen schließt sich im Sommer 2022: Bis dahin wollen EU und NATO ihre strategischen Grundlagen neu definieren. Deutschland sollte sich für eine möglichst kohärente Analyse der Lage und Zukunft der europäischen Sicherheit einsetzen. Dazu sollte es die 21 Staaten, die zugleich der EU und der NATO angehören, überzeugen, die Ergebnisse, die bis dahin bei den Beratungen in der EU erzielt wurden, als gemeinsame Grundlage in den gerade beginnenden Prozess bei der NATO einzubringen. Auch das Vereinigte Königreich dürfte dieses Kohärenzziel unterstützen.

  • Aufbauend auf ihrer gemeinsamen Analyse sollten die Stäbe von EU und NATO gemeinsam definieren, welches Niveau von Fähigkeiten in Europa erreicht werden muss, um das gesamte Konfliktspektrum (mit Ausnahme der nuklearen Abschreckung) abzudecken. Zu diesem Ambitionsniveau leisten sowohl die EU, die NATO als auch die Mitgliedsstaaten individuell ihren Beitrag.

     
  • Die militärischen Beiträge der Europäer zum Ambitionsniveau (und damit der europäische Pfeiler in der NATO) sollten über eine European Joint Force (EJF) einen sichtbaren politischen, militärischen und technologischen Kristallisationspunkt erhalten. Die EJF sollte 50 Prozent der konventionellen Fähigkeiten bereitstellen, die für die kollektive Verteidigung in Europa und das militärische Krisenmanagement erforderlich sind. Damit wird automatisch auch die Handlungsfähigkeit der EU gestärkt, denn die nationalen Streitkräfte stehen sowohl der EU als auch der NATO zur Verfügung.

     
  • Zur Umsetzung der gemeinsamen Zielvorstellung sollen der NATO-Planungsprozess und die EU-Kooperationsinstrumente CARD (Coordinated Annual Review on Defence), PESCO (Permanent Structured Cooperation) und EVF (Europäischer Verteidigungsfonds) beitragen. Die Grundlagen dafür sind bereits gelegt. Die Bundesregierung sollte dem technologisch-industriellen Bereich besonderes Gewicht beimessen. Hier konkurrieren amerikanische und europäische Firmen, und Europa pocht auf größtmögliche Autonomie. Aus militärischer Sicht kommt es für die Schlagkraft der westlichen Streitkräfte auf technologische Überlegenheit und Interoperabilität an. Deshalb sollten NATO-Alliierte gezielt in EU-Projekte einbezogen werden und umgekehrt.

     
  • Notwendige und verlässliche Partner finden sich aber auch außerhalb von EU und NATO. Wichtig ist dies vor allem für das sicherheitspolitische Engagement in Regionen wie Asien. Hier sollte die Bundesregierung weitere Partnersysteme schmieden, etwa mit Australien. Das kann sowohl im Rahmen informeller Formate und Koalitionen der Willigen geschehen als auch in Form einer Zusammenarbeit mit bestehenden regionalen Formaten.

     
  • Institutionelle Veränderungen sollte es auch auf nationaler Ebene geben; Im Auswärtigen Amt sollten die getrennten Strukturen für EU und NATO durch eine Abteilung Euro-Atlantische Sicherheit ersetzt werden. Im Verteidigungsministerium sollte dies in den Abteilungen Politik, Planung und Ausrüstung gespiegelt werden. Das Ziel ist, anstelle von institutionellen Logiken die sicherheitspolitischen Ziele in den Vordergrund zu stellen.

     
  • Die bereits geplante Bundeswehrreform sollte in den Aufbau der EJF eingebettet werden. Deutschland kann die Umsetzung der EJF fördern, indem es das Rahmennationenkonzept (FNC) wieder aufleben lässt und um den Bereich Rüstung und Beschaffung erweitert. So sollte Deutschland nicht nur Anlehnungspartnerschaften im Bereich der militärischen Strukturen, sondern auch bei der rüstungsindustriellen Basis anbieten. Dies würde der weiteren Renationalisierung im Verteidigungsbereich in Europa entgegenwirken und die industrielle Abhängigkeit von der übrigen Welt reduzieren. Auf diese Weise würde Deutschland helfen, eine leistungsfähige verteidigungstechnologische und industrielle Basis auf europäischer Ebene zu erhalten.

2.     Planungssicherheit und Mittelverwendung verbessern

In Deutschland ist die Diskussion um die angemessene Finanzierung von Sicherheit und Verteidigung auf den Streit reduziert, ob das Zwei-Prozent-Ziel der NATO sinnvoll ist. Deutschland hat dessen Erfüllung wiederholt zugesagt, bleibt aber weit davon entfernt. Auch im Rahmen der EU hat Deutschland eine kontinuierliche Steigerung seiner Verteidigungsausgaben versprochen.

Der einseitige Fokus auf Ausgabensteigerungen – und hier vor allem für militärische Mittel – ist mit Blick auf das erweiterte Bedrohungsspektrum allerdings nicht mehr angemessen. Trotzdem darf die Bundesregierung nicht den Verdacht aufkommen lassen, sie betone nur deswegen die Notwendigkeit einer größeren Effizienz der Ausgaben und die Einbeziehung nicht-militärischer Bereiche von Sicherheit, weil sie sich weiterhin vor Zahlungen drücken und Trittbrettfahrer der USA und anderer NATO-Länder bleiben wolle.

Hinzu kommt ein interner Organisationsaspekt: Auch wenn Deutschland seine Verteidigungsausgaben stetig erhöht, passieren diese Steigerungen kurzfristig und sind oft nur für das nächste Jahr gesichert. Die Bundeswehr kann dieses Geld nicht sinnvoll in langfristige Projekte investieren, wenn sie nicht weiß, ob für die gesamte Laufzeit des Projektes die erforderlichen Mittel verfügbar sind. Die Frage der angemessenen Finanzierung hat also mindestens zwei Dimensionen: ob Deutschlands NATO- und EU-Zusagen verlässlich sind, Berlin also Wort hält; und ob die Bundeswehr verlässlich planen kann. Die derzeitige Finanzierung stellt beides in Frage.

  • Die neue Bundesregierung muss sehr rasch die Weichen so stellen, dass sie die unterschiedlichen Ansprüche (sinnvolle Beträge und ein breiterer Sicherheitsfokus) zusammenbringen kann, denn die NATO will ihr neues strategisches Konzept bereits 2022 vorlegen. Hier stehen die Themen Bedrohungssituation und Lastenteilung sowie insbesondere das Spektrum von Sicherheitsrisiken und -instrumenten in den Bereichen Klima, Gesundheit und Technologie auf der Agenda.

     
  • Um bei ihren Verbündeten glaubwürdig zu sein, sollte Deutschland am Zwei-Prozent-Ziel der NATO festhalten und deutlich machen, dass es die Vorgaben bis 2024 erfüllen wird. Gelingt dies, vergrößert die höhere Glaubwürdigkeit auch den Einfluss Deutschlands in der NATO. Die neue Bundesregierung kann dies nutzen, um für eine Überarbeitung der Ausgabenmetrik und -bereiche zu werben. Dabei sollte Berlin den Fokus der zu erbringenden Leistungen auf Klima, Cybersicherheit und Innovation erweitern. Ein Teil der Ausgaben (0,5 Prozent des BIP) sollte dabei für gemeinsame Projekte mit EU- und NATO-Staaten sowie mit anderen Partnern (zum Beispiel Australien) reserviert werden. Dies würde zugleich zur Konsolidierung der Industrien und Ausrüstungen in Europa beitragen.

     
  • Darüber hinaus kann der Bundestag mit einem Bundeswehrplanungsgesetz Planungssicherheit

    schaffen und so die Effizienz der eingesetzten Steuergelder steigern. Ein Planungsgesetz sollte festschreiben, dass langfristige Projekte, über deren Notwendigkeit Konsens besteht, über einen längeren Zeitraum (fünf bis zehn Jahre) finanziert werden. Welche Projekte dies sind, legt der Bundestag fest.

     
  • Weil es in der Bundeswehr jedoch auch an vielen kleinen Anschaffungen fehlt, die es nie auf Prioritätslisten schaffen, aber im Ernstfall fehlen, sollte der Bundestag zudem eine Vollausstattungsinitiative für vier Jahre starten und finanziell hinterlegen. Dies würde auf das Zwei-Prozent-Ziel der NATO angerechnet und rasch die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr verbessern.

3.     Nukleare Ordnung, Abschreckung und Rüstungskontrolle mitgestalten

Die Bedeutung von Nuklearwaffen steigt weltweit, und gleichzeitig wächst die Komplexität der nuklearen Ordnung. Neue Akteure sind hinzugetreten. Zudem sind nukleare und konventionelle Fähigkeiten zunehmend mit neuen Technologien verwoben. Diese Entwicklung birgt erhebliche Unsicherheiten, insbesondere wenn neuartige konventionelle Fähigkeiten mit modernisierten Atomwaffen kombiniert werden.

Erschwert wird die Situation durch die zunehmende Schwächung der Rüstungskontrolle. Das Ende des INF-Vertrags über landgestützte Mittelstreckenraketen, die Unsicherheiten über die langfristige Zukunft des Vertrags über strategische Atomwaffen (New START) und die Aushöhlung des Atomwaffensperrvertrags erhöht das Risiko von Fehlkalkulationen. Die rasche nukleare Aufrüstung Chinas, das bisher wenig Bereitschaft zur Rüstungskontrolle zeigt, vergrößert das Problem. Abrüstungsvorschläge wie der Kernwaffenverbotsvertrag sind aussichtsloser denn je. Sie sind gut gemeint, haben aber keine Chance auf Umsetzung, weil sie aus Sicht der Nuklearstaaten keine überzeugende Alternative für deren Sicherheitsinteressen aufzeigen. Zudem fehlt es an Verifikationsmechanismen und Garantien, dass Nuklearwaffen tatsächlich für immer abgeschafft sind.

Deutschland muss aktiv zur kollektiven Sicherheit beitragen und am NATO-Grundsatz der nuklearen Abschreckung festhalten.

Deutschland verfügt nicht über eigene Nuklearwaffen. Für die nukleare Abschreckung hängt es von der NATO und den Beiträgen der USA, Frankreich und Großbritannien ab. Damit kann Deutschland weder die Bedingungen für nukleare Abschreckung noch die für Rüstungskontrolle und Abrüstung direkt bestimmen. Die wesentliche Voraussetzung für beides, gesicherte Abschreckung und Abrüstung, ist die europäische und transatlantische Einigkeit in der NATO.

Die NATO sieht sich inzwischen mit zwei miteinander verbundenen nuklearen Räumen konfrontiert: dem euro-atlantischen Raum, der durch das stetig wachsende Nukleararsenal Russlands bedroht wird, und dem asiatischen, in dem China Anspruch auf geopolitische Dominanz erhebt. Strategische Stabilität kann nur im Dreieck USA-China-Russland definiert werden, wobei die europäische Mitsprache eng begrenzt ist. Das russische Nuklearwaffenarsenal, insbesondere im Bereich der Mittelstreckenraketen, ist primär ein europäisches Problem, das chinesische primär ein US-Problem.

  • Deutschland sollte in der nächsten Legislaturperiode bei seinen NATO-Verbündeten für eine Abrüstungsinitiative für nukleare Mittelstreckenraketen in Europa zu Wasser, zu Lande und in der Luft werben. Diese Waffenklasse sollte deshalb im Zentrum stehen, weil ihr Überraschungspotenzial Europa unter Druck setzt und sie bereits in Friedenszeiten geeignet ist, die Europäer zu erpressen. Wenn Russland die unter Bruch des INF-Vertrages entwickelten und eingeführten nuklearfähigen Mittelstreckenraketen abrüstet, könnten die NATO-Staaten anbieten, keine konventionellen Lenkwaffen in Europa zu stationieren, die russische Raketenanlagen und Kommandostellen treffen könnten.

     
  • Eine Chance auf Gehör wird die neue Bundesregierung allerdings nur haben, wenn sie glaubhaft machen kann, dass sie der gemeinsamen und gleichen Sicherheit für alle NATO-Staaten absoluten Vorrang gibt. Unilaterale Initiativen verbieten sich. Deutschland muss aktiv zur kollektiven Sicherheit beitragen und am NATO-Grundsatz der nuklearen Abschreckung festhalten. Solange diese über nukleare Teilhabe organisiert wird, sollte Deutschland die ihm dabei zukommende Rolle zuverlässig ausüben. Dazu gehört einerseits, in Deutschland die Herausforderungen der nuklearen Ordnung zu benennen, die Kosten und den Nutzen nuklearer Abschreckung für Deutschland transparent zu machen und mögliche Veränderungen, etwa durch neue US-Nukleardoktrinen, vorausschauend mitzudenken. Andererseits bedeutet das aber auch die Stationierung von US-Atombomben auf deutschem Boden sowie die Bereitstellung von konventionellen Kampfflugzeugen, die für den Transport dieser Nuklearwaffen zertifiziert sind. Aus politischen und technischen Gründen sollte die neue Generation dieser Kampfflugzeuge in den USA beschafft oder geleast werden. So wären sie auch bei einer Änderung der nuklearen Abschreckung, etwa infolge einer veränderten US- Doktrin, von militärischem Wert.

     
  • Wichtig für die nukleare Ordnung und Abschreckung in Europa sind auch die europäischen Atommächte Frankreich und Großbritannien. Deutschland sollte der Einladung Frankreichs zu einem strategischen Dialog über die Rolle der nuklearen Abschreckung in Europa und Frankreichs Beitrag dazu folgen. Dabei sollte es aber darauf hinwirken, dass nicht Frankreich allein, sondern die europäischen Staaten gemeinsam die Prozesse und Inhalte eines solchen Dialogs definieren. Die Vereinbarkeit mit der NATO muss gewährleistet bleiben. Zu den weiteren gemeinsamen Themen, bei denen auch das Vereinigte Königreich einbezogen werden sollte, könnte die Frage gehören, was Europa dazu beitragen kann, das Risiko von konventionellen oder nuklearen Auseinandersetzungen im Indopazifik zu verringern.

4.     Krisenprävention und Stabilisierung besser aufstellen

Seit dem Ende des Kalten Krieges wurden Krisenprävention und Stabilisierung zu einer zentralen Aufgabe der deutschen Friedens- und Sicherheitspolitik. Doch nach insgesamt erfolgreichen Einsätzen auf dem westlichen Balkan (siehe auch Aktionsplan Westbalkan) stellt das Scheitern der westlichen Aufbaumission in Afghanistan viele Grundannahmen dieser Orientierung in Frage. Die USA hat die Ära des „State Building“ für beendet erklärt. Die neue Bundesregierung muss dem nicht folgen, aber auch sie wird Ziele und Instrumente neu bewerten müssen. Vier Elemente sind zentral:

Das Verständnis für Potenziale und Grenzen der Krisenprävention kann über einen partizipativen Lernprozess verbessert werden.

  • Gründliche Analyse der Operationen in Afghanistan, Mali und anderen großen zivilen oder militärischen Engagements. Ziel es, zu klären, unter welchen Umständen und mit welchen Mitteln Krisenprävention und Stabilisierung erfolgreich sein können. Auch die deutsche Öffentlichkeit wird nur dann neue Missionen akzeptieren, wenn überzeugend dargelegt wird, dass diese eine begründete Chance auf Erfolg haben. In Analyse und Kommunikation kann die Sicherheitspolitische Kommission eine zentrale Rolle spielen.

     
  • Verständnis der Wirkungszusammenhänge vertiefen. Bis heute überschätzen viele Befürworter von Krisenprävention und Stabilisierung die Wirksamkeit von Missionen und unterschätzen deren Risiken. Zudem halten einige Akteure den dezidiert friedenspolitischen Anspruch von Krisenprävention und Stabilisierung für nicht vereinbar mit dem Schutz von Menschen und Mission durch militärische Mittel. Entwicklung braucht aber einen sicheren Rahmen. Das Verständnis für Potenziale und Grenzen der Krisenprävention kann über einen partizipativen Lernprozess verbessert werden: ein Labor zur Zukunft von Krisenprävention und Stabilisierung für Vertreter der Politik, der Institutionen und der Zivilgesellschaft.

     
  • Strategische Planung: Weder national noch international gehen die Akteure der Frage nach, wie ihr künftiges Engagement für Krisenprävention und Stabilisierung aussehen können und was sie dafür brauchen werden – sie lassen sich überraschen und setzen dann die Instrumente ein, die ad hoc verfügbar sind. Die neue Bundesregierung sollte hier langfristig – etwa mit einem Horizont bis 2040 – planen, auf welche Konflikte sich Deutschland einstellen muss, welche Ziele es erreichen will und welche Mittel dafür notwendig sind. Ein erster Schritt dazu ist die Gründung einer Arbeitsgruppe mit strategischen Planern des Auswärtigen Amtes und des Bundesverteidigungsministeriums, wo bereits Projekte der strategischen Vorausschau existieren. Andere Ministerien und zivile Akteure können hinzukommen. Eine solche integrierte Planung und Abstimmung der Instrumente hätte Vorbildcharakter auch für die EU, die NATO und die Vereinten Nationen. Vorschläge dazu sollten im Zuge der Arbeiten am strategischen Kompass der EU (bis Ende 2021), dem „Civilian Compact“ der EU bis 2023 und dem strategischen Konzept der NATO bis 2022 eingebracht werden.

     
  • Europäisches Stabilisierungskorps: Schon heute wären Tausende von zivilen und militärischen Expertinnen und Experten vom Ingenieur bis zum Polizeiausbilder erforderlich, um in komplexen Konflikten von der Sahelzone bis Syrien strukturelle Veränderungen zu bewirken. Die neue Bundesregierung sollte deswegen die Aufstellung eines europäischen Stabilisierungskorps auf den Weg bringen und selbst fünfzig Prozent der benötigten Fähigkeiten beitragen. Damit könnte es als zivile Rahmennation nicht nur zur Stabilisierung in Krisen beitragen, sondern diese Operationen auch führen und gestalten. Zu diesem Zweck sollte Deutschland einen Personalpool von 5000 Spezialistinnen und Spezialisten bereitstellen, die, komplett oder in Teilen, den Kern, die Führungsstruktur und die Logistik von größeren zivilen oder integrierten Operationen bilden können. Dies würde es vielen kleineren Nationen erlauben, sich mit einem sinnvollen Beitrag anzukoppeln.

5.     Exportkontrolle von Rüstungsgütern und Technologie neu ordnen

Deutschland spielt in der EU und international eine zentrale Rolle als Hersteller, Kooperationspartner und Exporteur von Rüstungsindustriegütern. Im Bereich der klassischen Rüstungsexporte wird Deutschland jedoch als unzuverlässig wahrgenommen. Trotz klarer (und restriktiver) Vorgaben sind die Entscheidungen für Exporte und Verbote und deren Grundlagen intransparent. Deutschland gefährdet damit seine eigene industriell-technologische Basis, die von Exporten abhängig ist, sowie die Kooperationsfähigkeit mit Partnern.

Hinzu kommt, dass klassische Kriegswaffen aus technologischer Sicht nur noch eine geringe Rolle spielen. In komplexen Waffensystemen gewinnen einzelne (zumeist digitale) Technologien erheblich an Bedeutung. Diese „emerging and disruptive technologies“ (EDT) sind ein viel größeres sicherheitspolitisches Problem, da sie die Leistung von Waffensystemen erheblich steigern. Hinzu kommt, dass militärische Anwendungen nur noch ein kleiner Bereich in einem großen Feld der Sicherheitsanwendungen sind. Die bestehenden Exportkontroll- und Technologieregime sind schon seit längerer Zeit nicht mehr in der Lage, neue technologische Entwicklungen zu erfassen und zu regulieren.

Die neuen Technologien führen auch in besonderer Weise zu Zielkonflikten zwischen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen: Künstliche Intelligenz oder Quantencomputer verbindet, dass sie in den nächsten fünf bis 20 Jahren eine wichtige Quelle von Wohlstand für die Länder sein werden, die diese Technologien kontrollieren. Zugleich wird bei diesen Technologien ein hohes Schadenspotenzial vermutet, wenn sie in Konflikten zum Einsatz kommen, sei es im militärischen Kontext, gegen Infrastrukturen oder zur gezielten gesellschaftlichen und sozialen Einflussnahme. Dass Staaten sehr unterschiedliche Positionen dazu haben, wie die richtige Balance zwischen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen aussieht, bremst die Versuche, die Kontrollansätze in Europa anzugleichen.

Deutschland muss seine Rüstungsexportpolitik sicherheitspolitisch begründen und so auch für Bürger und internationale Partner verlässlicher und nachvollziehbarer gestalten.

Gleichzeitig gewinnt die Frage, wie sich Staaten den Zugang zu diesen Technologien und die Kontrolle über sie sichern können, eine erhebliche politisch-strategische Bedeutung. Die neuen Technologien sind ein wesentliches Feld der geostrategischen Auseinandersetzung, insbesondere zwischen den USA, der EU und China. Deutschlands Partner in EU und NATO drängen bei militärischen Systemen auf Regeln, die den Export gemeinsamer Entwicklungen erleichtern. Zugleich konkurrieren die Europäer aber auch untereinander. Die USA wiederum drängen auf einen viel vorsichtigeren Umgang mit Wissen und Technologien gegenüber potenziellen Gegnern, vor allem China. Schließlich strebt Deutschland, wie andere Staaten auch, Kooperationen in anderen Regionen an, wie etwa im Indo-Pazifik. Dabei ist Technologiekooperation im Bereich von Sicherheit und Verteidigung eine attraktive Option, denn Europa hat hier interessante Produkte anzubieten.

  • Deutschland sollte sich im Verbund mit der EU, der NATO und G7-Partnern den Zugang zu Technologien sichern (etwa durch Investitionen in Innovation), aber auch Rivalen den Zugriff verwehren können (zum Beispiel durch Rückverlagerung von Produktionsstätten, Investitionskontrollen oder Lieferkettenschutz, siehe auch Aktionsplan Wirtschaft und Außenpolitik). Daraus resultieren folgende Aufgaben, die vom neuen Bundessicherheitsrat behandelt und in der nationalen Sicherheitsstrategie erörtert werden sollten:
    • definieren, welche Schlüsseltechnologien Deutschland national erhalten will, und welche auf europäischer Ebene
    • identifizieren und koordinieren, wie der Zugang zu Technologien und Innovation in Deutschland und auf europäischer Ebene gesichert werden kann
    • definieren, wie der Zugang zu strategischen Technologien kontrolliert werden kann (access denial), in Deutschland, auf EU-Ebene und im Rahmen der G7.

       
  • Deutschland muss in Zukunft seine Rüstungsexportpolitik sicherheitspolitisch begründen und damit auch für seine Bürger wie für internationale Partner verlässlicher und nachvollziehbarer gestalten: Wann sind Lieferungen von Waffen und Technologie gerechtfertigt, und welchen sicherheitspolitischen Nutzen haben sie für Deutschland? Inwieweit versteht die Bundesregierung Rüstungsexporte als sicherheitspolitisches Instrument, um deutsche Interessen und politischen Einfluss zu unterstützen?

     
  • Die neue Bundesregierung sollte die Exportpolitik in eine Länder- und Regionalstrategie einbetten und einen systematischen Chancen/Risiken-Ansatz verfolgen: Eine nach Sicherheitslage und -Interessen differenzierte Länder- und Regionalstrategie würde es erlauben, Rüstungsexporte explizit als Mittel politischer Einflussnahme in die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik einzubetten. Sie wäre Grundlage für rüstungsexportpolitische Bewertungen und öffentliche Begründungen. Die Strategie müsste Risiken und Chancen abwägen: Welche Verantwortung und Handlungsmöglichkeiten hat Deutschland, wenn Rüstungsgüter in falsche Hände geraten, etwa bei einem Staatsstreich, und wie wahrscheinlich sind solche Ereignisse? Hilfestellung könnte ein exportpolitisches Ampelsystem bieten, das Exportländer entlang der vorhanden Exportkriterien bewertet: Bei grünen Ländern bedarf es einer besonderen Begründung, nicht zu exportieren; bei roten braucht jeder Export einer besonderen Begründung; bei gelben Ländern bedarf es einer Einzelfallentscheidung. Die Einstufung sollte regelmäßig geprüft werden.

     
  • Verlässlichkeit kann die neue Bundesregierung auch durch ein Exportgesetz herstellen, das eine einheitliche gesetzliche Grundlage für den Export von Kriegswaffen, Rüstungsgütern und neue Kategorien (EDT) schafft. Es sollte auch Kontrollmaßnahmen (z.B. zur Prüfung des Endverbleibs) und Sanktionsoptionen enthalten, zum Beispiel Möglichkeiten zur Stilllegung militärischer Ausrüstung. Bei der Formulierung eines neuen Exportgesetzes muss die Bundesregierung aber auch die möglichen finanziellen Folgen einer restriktiveren Politik für die Rüstungsindustrie und eventuelle Kompensationen für den Wegfall von Skaleneffekten bedenken.

     
  • Schließlich sollte Deutschland eine internationale Initiative für die Exportkontrolle von EDT starten und mitgestalten. Diese sollte darauf abzielen, ein Exportregime für kritische Technologien zu schaffen.

6.     Resilienz in Deutschland, in Europa und im Bündnis stärken

Schon längst üben andere Akteure nicht mehr nur in den engen Grenzen des Militärischen Druck auf Deutschland aus; das zeigen der Anstieg der Cyberangriffe auf kritische Infrastrukturen, die Manipulation der sozialen Medien und die Desinformationskampagnen im Zusammenhang mit der Pandemie. Um Deutschland in solchen hybriden, vielschichtigen Konflikten schützen zu können, müssen zivile und militärische, private und staatliche Akteure von der kommunalen Ebene bis hin zu EU und NATO enger zusammenarbeiten. Gerade die Zusammenarbeit zwischen staatlicher und internationaler Ebene (EU, NATO) und die Koordination zwischen der EU und der NATO sollten weiter intensiviert werden.

  • Die neue Bundesregierung sollte regelmäßige Übungen und Planspiele auf allen Ebenen abhalten. Solche Übungen helfen den Teilnehmenden, Prozesse und Vorgaben zu verstehen, Grauzonenfälle zu erfassen und auf Krisenfälle vorbereitet zu sein. National und europaweit sollten mehr sektorübergreifende Übungen durchgeführt werden. Innerstaatlich sollte das Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Ebenen (Kommunen-Land-Bund) und Akteuren (zivil, militärisch, staatlich, privat) stärker geübt werden.
  • Die Institutionen, die von der Bundesregierung als kritisch für die Aufrechterhaltung des staatlichen Gemeinwesens eingestuft werden, sollten zudem einem Stress- und Funktionalitätstest unterzogen werden. Dies erlaubt, die Sicherheitsvorsorge auf den Ebenen Bund, Länder und Gemeinden zu überprüfen und zu verbessern.

Bibliografische Angaben

Major, Claudia, Constanze Stelzenmüller, and Christian Mölling. “Aktionsplan Sicherheits- und Verteidigungspolitik.” German Council on Foreign Relations. September 2021.

Aktionsplan zum DGAP Bericht Nr. 16 vom 20.09.2021: „Smarte Souveränität“. Mehr Informationen zur „Ideenwerkstatt Deutsche Außenpolitik“ finden sie hier.

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