Demographic Change and Political Economy in the Russian Federation
Der amerikanische Politologe Jack Goldstone (Hong Kong University of Science and Technology) bettete im Eröffnungsvortrag die spezifischen russischen Entwicklungen in einen internationalen Kontext ein. Die Entwicklung von Bevölkerungszahlen, Migrationsbewegungen und Altersstrukturen weltweit bringe gravierende politische Veränderungen mit sich. Die gegenwärtigen politischen Antworten auf drängende demografische Fragen seien weder in Russland noch in anderen Ländern geeignet, den negativen Trends in der Wirtschaftsentwicklung entgegen zu wirken.
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Natalia Zubarevich (Lomonossow-Universität Moskau), Ekaterina Schulmann (Russian Presidential Academy of National Economy and Public Administration, Moskau) und Alain Blum (Institut national d’études démographiques, Paris) stellten die regionalen und politischen Folgen des demografischen Wandels in Russland dar. Die Belange der 29- bis 49-jährigen Elite fänden politisch wenig Berücksichtigung. Als Ursache benannten sie, dass der Machtzirkel im Kreml sehr klein sei. Zudem umfasse er eine homogene Gruppe gleichaltriger Personen, die durch die Erfahrungen aus der Sowjetunion und dem Sicherheitsapparat geprägt seien. Im Zuge einer ‚zweiten Urbanisierungswelle‘ nehme die Migration – auch aus dem geburtenreichen Nordkaukasus – in die Großstädte zu. Dies führe zu einer weiteren Konzentration des politischen und sozialen Lebens in urbanen Räumen.
Über die zu erwartenden wirtschaftlichen Folgen sprachen Sergey Aleksashenko (Brookings Institution, Washington), Vladimir Nazarov (Financial Research Institute, Moskau) und Andrey Shapenko (Moscow School of Management, Skolkowo). Der demografische Wandel habe Folgen für Unternehmen, den russischen Staatshaushalt und insbesondere die Altersversorgung. So weise der russische Rentenfonds 2016 erstmals ein Defizit auf, während gleichzeitig die Sparrate niedrig sei. Fiskalische Ungleichgewichte seien die Folge, verstärkt durch einen Geldabfluss aus dem Pensionsfonds im Kontext der aktuellen Wirtschaftskrise. Mit Blick auf die großen russischen Unternehmen werde sich in den nächsten Jahren die Nachfolgefrage stellen, die bisher aufgrund des fehlenden qualifizierten Nachwuchses ungeklärt sei.
Auch dem russischen Arbeitsmarkt und dem Bildungssystem drohten Veränderungen. Theodore Gerber (University of Wisconsin-Madison) und Vladimir Gimpelson (Higher School of Economics, Moskau) warnten vor einem unmittelbar bevorstehenden Mangel an Arbeitskräften, der sich in den kommenden 15 Jahren auf etwa 8 Millionen Menschen belaufen und nicht durch steigende Produktivität ausgeglichen werde. Mögliche Reaktionen der Politik seien die Anhebung des Rentenalters oder die Förderung von Migration nach Russland. Vor den anstehenden Wahlen in diesem Jahr (Dumawahl) und im Jahr 2018 (Präsidentschaftswahl) sei es unwahrscheinlich, dass solche wichtigen, aber unpopulären Entscheidungen getroffen würden.
Über die Folgen des demografischen Wandels für die russischen Sozialsysteme, insbesondere die Gesundheitsversorgung, diskutierten Christopher Davis (University of Oxford), Erica Richardson (European Observatory on Health Systems and Policies, London) und Vladimir Shkolnikov (New Economic School, Moskau und Max-Planck-Institut für Demografische Forschung, Rostock). Zentrale Themen waren dabei die Ursachen der noch immer hohen Mortalität, die Bekämpfung von Alkoholismus, steigende Ungleichheit durch mangelnde staatliche Gesundheitsversorgung und die Integration von Pflege und medizinischer Versorgung. Auch in diesen Bereichen würden Anreize für ausländische Arbeitskräfte massiv an Bedeutung gewinnen.
Ergebnisse der Konferenz waren, dass die Diskussionen über Ursachen und Folgen des demografischen Wandels in Russland fachübergreifend verlaufen müssen. Die Folgen sollten zudem in allen politischen Bereichen stärker in den Blick genommen werden. Außerdem ist ein regionaler Blickwinkel wichtig, da die demografischen Entwicklungen nicht nur Politik und Wirtschaft in Russland selbst betreffen. Auch Stabilität und Entwicklung in den anderen postsowjetischen Staaten hängen davon ab. Sie werden sich maßgeblich im Wandel von Werten und Wahrnehmungen zwischen den unterschiedlichen Generationen widerspiegeln. Die Auswirkungen auf die politische Teilhabe sowie die notwendigen Veränderung in der der Migrationspolitik sind somit wichtige zukünftige Forschungsfelder.
Gemeinsame internationale wissenschaftliche Konferenz „The Human Factor“ der DGAP (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Berlin), des ZOIS (Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien, Berlin) und des CREES (Centre for Russian and East European Studies, University of Birmingham). Sie fand am 30. Juni und 1. Juli 2016 in der DGAP statt.