Möglichkeiten politischer Stabilisierung
Franz Thönnes (SPD), stellvertretender Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags, eröffnete die Diskussion mit der Feststellung, dass der Wahlprozess in der Ukraine gut organisiert war und demokratischen Standards entsprach: Das Parlament habe nun eine deutlich bessere Legitimierung, was auch Russland anerkannt habe. Das Wahlergebnis zeige eine klare proeuropäische Tendenz, die östlichen Teile der Ukraine seien ebenfalls gut repräsentiert, und es gebe viele neue Abgeordnete aus der Reformbewegung, die nichts mit dem alten System zu tun haben. Allerdings brauche das Land nun dringend Reformen: Dezentralisierung, Lustrationsgesetze, ein besseres Investitionsklima und viele mehr. Sehr problematisch sei weiterhin die Lage im Osten des Landes, da die Minsker Vereinbarung nicht eingehalten werde. Dies sei eine Tragödie für die Menschen in Teilen des Donbas, deren soziale Situation dramatisch sei. Die EU sollte der Ukraine nach Möglichkeit nicht nur mit finanzieller Unterstützung, sondern auch mit Expertise und Vermittlung eigener Erfahrungen zur Seite stehen.
Hannes Schreiber, Vorsitzender der politischen Sektion der EU-Delegation in Kiew, nannte Dezentralisierung, Wahlrecht und die Justiz- und Polizeireform als die dringendsten Herausforderungen des Landes. Gerade die Dezentralisierung ermögliche den Dialog zwischen den Konfliktparteien. Die Reformen der Justiz und Polizei seien fundamentale Voraussetzungen für die Korruptionsbekämpfung. Schreiber fügte hinzu, dass die Ukraine schon eine lange Geschichte von Unabhängigkeitsstreben hinter sich habe und es sich lohne, für dieses Land einzutreten.
Oleksiy Semeniy, Direktor des Kiewer Institute for Global Transformation, betrachtete es als schlechtes Zeichen, dass Russland die Wahlen in den Separatistengebieten anerkannt hat: Will Russland nun noch weitere Teile der Ukraine destabilisieren oder nur ein weiteres Signal der Stärke aussenden? Zudem sei es problematisch, dass sich das ukrainische Parlament nicht auf gemeinsame Positionen verständigen könne. So dauern die Verhandlungen über einen Koalitionsvertrag bereits Wochen. Das vorrangige Interesse der EU sei hier die Stabilität an ihrer Ostgrenze. Dabei sei es zweitrangig, ob die Ukraine langfristig Teil der EU wird. Der Staat brauche jetzt vor allem eine wirtschaftliche Kooperation mit der EU, das heißt den Zugang zu europäischen Märkten.
Franz Thönnes unterstrich, dass eine finanzielle Hilfe der EU zwar notwendig sei, aber an Bedingungen gebunden sein müsse. Eine Zweckentfremdung der Gelder könne nicht toleriert werden. Gleichzeitig sollte dafür gesorgt werden, dass ukrainische Staatsbedienstete besser bezahlt würden, um weniger Anreize zu Korruption zu haben.
Ob der etwaige Verlust von Teilen der Ostukraine ein großer wirtschaftlicher Einschnitt für die Ukraine insgesamt bedeutet, beantwortete Oleksiy Semeniy: Einerseits wäre dem natürlich so, da etliche Rohstoffe in diesem Teil des Landes gefördert würden; andererseits sei die die Region schon länger ein Empfänger von Subventionen, die nun nicht mehr gezahlt würden. So gebe die Situation auch finanzielle Mittel frei, um andere Ziele damit zu erreichen.
Dr. Stefan Meister, Leiter des Programms Osteuropa, Russland und Zentralasien in der DGAP, moderierte die Diskussion. Mitveranstalter war das International Centre for Policy Studies in Kiew.