Sicherlich kann die Euphorie vieler Kommentatoren angesichts der Ablösung des Rechtspopulisten Ahmadinedschad nachvollzogen werden, eine Beschönigung der Lage unter Rohani ist allerdings kaum zu rechtfertigen. Bei vielen Iran-Analysen der letzten zwei Jahre konnte man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass diese getrieben waren von Wunschdenken sowie dem politisch motivierten Anliegen, den Verhandlungsprozess durch eine wohlwollende Berichterstattung zu stützen.
Viele Kommentare erwecken den Eindruck, dass wir es mit grundlegenden Veränderungen zu tun haben und nicht etwa mit einem Wechsel innerhalb einer Kontinuität. Denn trotz des durchaus existierenden Wettstreits zwischen Fraktionen innerhalb des ausschließlich islamistischen Spektrums der politischen Elite, haben wir es mit der Fortexistenz der Machtkonfiguration innerhalb eines politisch-ökonomischen Systems zu tun, das sich erstaunlich reformresistent gezeigt hat. Diese Stabilität ist nicht zuletzt auf ein fraktionsübergreifendes Eliten-Bewusstsein zurückzuführen, wofür das Überleben des Regimes als absolute Priorität fungiert. Dies ist der wichtigste gemeinsame Nenner von den durchaus im politischen Geschäft miteinander konkurrierenden Lagern.
Beunruhigende systemimmanente Kontinuitäten
Auf der anderen Seite wäre es aber auch vermessen, keinerlei Veränderungen in der iranischen Politik festzustellen – eine dogmatische Haltung, die sich wie ein Mantra durch die Iran-Kommentare neokonservativer Kreise in Israel und dem Westen zieht. Denn in der Tat müssen wir anerkennen, dass Präsident Rohani und sein Außenminister Javad Zarif eine wesentlich andere außenpolitische Schule vertreten als die Vorgänger-Regierung. Deren Vorstellungen eines Win-Win-Ausgangs in der Außenpolitik statt des zu Ahmadinedschads Zeiten dominierenden Nullsummenspiels ebneten auch den Weg dafür, dass ein zweifelsohne historischer Verhandlungsprozess zwischen Iran und v.a. den westlichen Großmächten in Gang kommen konnte. Aber auch hier gibt es Kontinuitäten: So scheint die iranische Politik in Irak und der Levante nach wie vor primär von den Revolutionsgarden bestimmt zu werden, die weniger auf Ausgleich als auf Machterhalt und -ausbau bedacht ist. Die Macht dieser dem Revolutionsführer untergeordneten Sonderarmee, die auch Großteile der iranischen Wirtschaft kontrolliert, ist kaum zu unterschätzen.
Vor diesem Hintergrund verwundert es, dass viele Analysten die in keinster Weise rar gesäten Probleme und Herausforderungen unter den Teppich kehren: Die Eliten-Herrschaft in der Islamischen Republik, die die große Mehrheit der Bevölkerung von politischer und wirtschaftlicher Beteiligung systematisch ausschließt, hält unvermindert an, nachdem bereits die Sanktionen ihr Übriges getan haben, nämlich den Machtvorsprung des autoritären Staates gegenüber der Zivilgesellschaft weiter zu vergrößern. In diesem Sinne könnte man bei nüchterner Betrachtung die (auch vom Staatsoberhaupt Ali Khamenei unterstützte) Rohani-Präsidentschaft als einen Versuch betrachten, Teile früherer Eliten (der Rafsanjani- und Khatami-Regierungszeiten) wieder an der Staatsmacht zu beteiligen und somit auch an den Pfründen des Systems. Diese Wiederausweitung des Eliten-Zirkels auf ein breiteres politisches Spektrum dient der Stabilisierung des Regimes.
Eine Fehlinterpretation der politischen Agenda Rohanis
Die politische Agenda Rohanis wurde von den meisten Beobachtern von Beginn an missinterpretiert und mit viel Wunschdenken garniert. Bis heute wird er mancherorts immer noch fälschlicherweise als „Reformer“ tituliert, obgleich er in Wahrheit einer der zentralsten Sicherheitspolitiker ist, der innenpolitisch als Zentrist bezeichnet werden müsste. Gewiss hat Rohani aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Krise des Landes seinen Wahlkampf mit dem Ruf nach mehr Bürgerrechten sowie wirtschaftlicher Erholung (via Sanktions-Lockerungen) bestritten. Jedoch spätestens bei seiner ersten Pressekonferenz als Präsident hätten viele Illusionen zerbrechen müssen: Dort wurde nämlich klar, dass seine Forderungen nach mehr Bürger- und Freiheitsrechten – so beispielsweise die von ihm lediglich geplante Bürgerrechts-Charta – gewiss nicht zu seinen politischen Prioritäten zählen.
Auch seine wirtschschaftspolitische Agenda hat nicht die nötige Beachtung erhalten. Rohanis Budgetplan für das laufende iranische Jahr offenbart wesentliche Unzulänglichkeiten: Die ganze Planung basiert auf der Annahme, dass Sanktionen wegfallen (was eine komplizierte Angelegenheit sein wird) und der Ölpreis bei 72 US-Dollar je Fass liegt (momentan liegt er über 10 US-Dollar darunter). Darüber hinaus basiert das Budget auf zwei kritikwürdigen Pfeilern: Austerität und Sicherheit. Auf der einen Seite werden mit Ausnahme des Gesundheitssektors sozialstaatliche Leistungen empfindlich reduziert. Auf der anderen werden die Verteidigungs- und Sicherheitssektoren beachtlich stärker alimentiert. Mit anderen Worten scheint Rohani nicht daran gelegen zu sein, das Leid der Hälfte der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze lebt, zu lindern sowie autoritäre Strukturen zu schwächen. All dies darf aber kaum verwundern, waren doch seine Vorstellungen durch vielerlei Veröffentlichungen seit vielen Jahren bekannt.
Hinzu kommt noch eine Reihe von Problemen, die eine positive Entwicklung des Landes jenseits eines Deals hemmt: eine unvermindert hohe Arbeitslosigkeit; ein alarmierendes Maß an sozialer Ungerechtigkeit (50% bis 70% der Arbeiter leben unter der Armutsgrenze); ein weltweit rekordverdächtiger Brain-Drain; massive Kapitalflucht; eklatanter Mangel an politischen Freiheiten; politische Repression von Andersdenkenden, Minderheiten, Frauen, Studenten, Arbeitern und deren jeweiligen sozialen Bewegungen; die weltweit größte Hinrichtungsrate; Presse-Zensur und eine im globalen Maßstab rekordverdächtige Inhaftierungsrate von Journalisten; durch verfehlte politische Entscheidungen forcierte Umwelt-Katastrophen; und nicht zuletzt ein hoher Grad an politischer und wirtschaftlicher Machtmonopolisierung.
Dass Entspannung in den internationalen Beziehungen unabdingbar ist für eine positive Entwicklung im Innern, habe auch ich in der letzten Dekade mehrfach argumentiert. Obgleich diese Dynamik mittel- und langfristig schwierig abzustreiten ist, erfordert eine seit der Rohani-Präsidentschaft sich verschlechternde Menschenrechtssituation ein selbstkritisches Hinterfragen. Es könnte nämlich so sein, dass kurzfristig das Regime die außenpolitische Entspannung bewusst dazu genutzt hat, gegen Unliebsame vorzugehen, wohl wissend, dass im Zuge der Verhandlungen – und im Gegensatz zu Ahmadinedschads Zeiten – wenig bis kaum relevante Proteste aus westlichen Hauptstädten zu erwarten sind. Umso wichtiger ist es, dass im Anschluss an einen Atomdeal trotz aller wirtschaftlichen Euphorie die oben angeführten Probleme besondere Beachtung finden. Umso wichtiger ist es, dass trotz aller wirtschaftlicher Euphorie im Anschluss an den Atomdeal die oben angeführten Probleme besondere Beachtung finden, so wie es auch namhafte Vertreter der iranischen Zivilgesellschaft erst kürzlich anmahnten.
Dieser Artikel erschien am 6. Juli 2015 bei Internationale Politik und Gesellschaft.