Vielstimmig hieß es nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahl in Frankreich, Marine Le Pen sei „anti-europäisch“. Dass der Kandidatin des rechtsextremen Rassemblement National (RN) mit Emmanuel Macron der einzige Europäer gegenübersteht, der konstruktive Vorschläge zur Zukunft der europäischen Integration macht, vereinfacht die Sache mit Blick auf die Stichwahl: Hier der „Pro-Europäer“ Macron, dort die „Anti-Europäerin“ Le Pen. Aber dieser Kontrast greift zu kurz und versperrt den Blick auf wichtige Erkenntnisse dieser Wahl aus deutscher Sicht.
Das Problem beginnt mit der Beschreibung „anti-europäisch“. Auch als Präsidentin Frankreichs könnte Le Pen die geografischen Gegebenheiten des alten Kontinents nicht ändern. Ihre Kritik zielt auf die EU, eine politische Idee, die keineswegs unumkehrbar ist, das haben die vergangenen Jahre gezeigt. Schon nach dem Brexit-Referendum war 2016 häufig zu lesen, Großbritannien habe „Europa den Rücken gekehrt“, als könnten die britischen Inseln nach Westen oder Osten treiben. Nicht erst seitdem werden die Begriffe „Europa“ und „EU“ in vielen Debatten durcheinander geworfen.
Meist ist der Wunsch Vater des Gedankens, wenn beide Begriffe ohne Unterscheidung verwendet werden. Die EU, diese Sichtweise teilt Emmanuel Macron mit der aktuellen Bundesregierung, ist alternativlos für Europa. Das scheint mit Blick in die Vergangenheit nachvollziehbar und vernünftig, schließlich hat der europäische Einigungsprozess den Nachbarn und dem europäischen Kontinent in den vergangenen Jahrzehnten nie gekannten Frieden und Wohlstand gebracht. Eine konstruierte Alternativlosigkeit verdeckt aber den Blick darauf, dass unter der Oberfläche europäischer Einigkeit durchaus auch andere Weltsichten und Projekte existieren.
Ja, die Regierungen in Berlin und Paris wollen die EU in ihrer aktuellen Form erhalten und ausbauen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass bei der langfristigen Entwicklung und mit Blick auf das angestrebte Ziel kein Konsens herrscht. Im aktuellen Koalitionsvertrag der Bundesregierung wird gefordert, die EU in einen föderalen Bundesstaat weiterzuentwickeln. Auch wenn das nur selten offen ausgesprochen und in Berlin nicht gerne gehört wird: Diese Forderung wird von allen wichtigen Kandidaten und Parteien in Frankreich offiziell abgelehnt. Selbst die überzeugtesten EU-Enthusiasten der Regierung Macron, sein Europastaatssekretär und Architekt der Sorbonne-Rede Clément Beaune zum Beispiel, hüten sich davor, als Föderalisten zu gelten.
Le Pens heftige Kritik an der EU baut auf einem der Grundpfeiler der politischen Tradition der fünften französischen Republik auf, dem Gaullismus. Der ist heute über das gesamte Parteienspektrum hinweg Konsens, wobei sich jede Partei das heraussucht, was zum eigenen Programm und zur Wählerschaft passt. Die Forderung aus dem Wahlprogramm des RN, die zunehmende Integration und damit Übertragung von nationalen Kompetenzen nach Brüssel umzukehren und stattdessen mit einer „Allianz souveräner Nationalstaaten“ zur zwischenstaatlichen Zusammenarbeit zurückzukehren, entspricht de Gaulles Vision des europäischen Projekts als „Europa der Vaterländer“.
Auch für Macron war die gaullistische Erzählung der souveränen Nation ein zentrales Leitmotiv. In einer der wichtigsten außenpolitischen Reden seiner Amtszeit, vor den Botschaftern der Republik, bemerkte der französische Präsident im August 2019 mit Blick nach Großbritannien, die Brexiteers hätten dem britischen Volk „ein überzeugendes Angebot gemacht: die Kontrolle über unser Leben und unsere Nation zurückzugewinnen“. Auch in der Mitte-Rechts-Partei Les Républicains haben föderalistische Pläne wie im Berliner Koalitionsvertrag keine Freunde. Im Vorwahlkampf der CDU-Schwesterpartei ergriff der frühere EU-Chefunterhändler in den Brexit-Verhandlungen, Michel Barnier, im Streit zwischen der EU-Kommission und der polnischen Regierung um den Vorrang des europäischen vor nationalem Recht klar Partei für die polnische Seite.
Wer Le Pen als Anti-Europäerin abtut, macht es sich deshalb zu einfach und verpasst die Gelegenheit, ungefilterte Eindrücke der Politik im Nachbarland zu erhalten. Alle fünf Jahre bietet der Wahlkampf die Chance, aus der ungeschützten Diskussion zwischen den Kandidaten die Misstöne herauszuhören, die nach den Wahlen schnell wieder aus dem eingeübten diplomatischen Konzert der Staatsbesuche und Gipfeltreffen verschwinden. Eine Pressekonferenz Le Pens zu ihren außenpolitischen Plänen zum Beispiel wurde in Deutschland zwar zur Kenntnis genommen und kommentiert: Die Kandidatin des RN stellt die deutsch-französische Zusammenarbeit infrage, möchte gemeinsame Rüstungsprojekte beenden, etwa die Entwicklung des Future Combat Air System (FCAS). Das wäre ein fatales Signal für die europäische Zusammenarbeit und damit „anti-europäisch“.
Dass aber Le Pen Alternativen zur deutsch-französischen Kooperation ins Auge fasst, wird meist schon nicht mehr erwähnt. In ihrem Wahlprogramm heißt es, nach dem FCAS-Ausstieg könne Frankreich sich verstärkt Großbritannien zuwenden. Tatsächlich treibt London seit Jahren ein Konkurrenz-Projekt zu FCAS voran, Tempest, an dem mit Italien und Schweden auch zwei EU-Mitgliedstaaten beteiligt sind. Es gibt also europäische Alternativen zur exklusiven EU-Zusammenarbeit. Und auch Le Pens Aussagen zu den unüberwindbaren „doktrinären und operativen“ Unterschieden zwischen den französischen und deutschen Streitkräften sollten nicht leichtfertig abgetan werden. Frankreich ist Großbritannien sicherheitspolitisch wesentlich ähnlicher als Deutschland, das wird in Frankreich auch außerhalb des RN niemand ernsthaft verneinen.
Für Berlin muss „Zeitenwende“ in diesem Fall heißen, den Partner realistisch zu betrachten. Frankreich und Großbritannien teilen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Geschichte der Dekolonialisierung. Frankreich ist seit den 1950er-Jahren fast ununterbrochen in Auslandseinsätzen aktiv gewesen. Dass diese Geschichte den französischen Blick auf die Welt heute fundamental von dem deutschen unterscheidet, ist eine unangenehme Wahrheit, die aber nicht verschwinden wird, wenn man sie ignoriert.
Marine Le Pens Wahlsieg wäre eine Katastrophe für die deutsch-französische Zusammenarbeit. Eine Auseinandersetzung mit ihren Positionen birgt die Gefahr, den deutschen Blick auf Frankreich zu ernüchtern. Vielleicht braucht es aber genau das, um in den kommenden fünf Jahren gemeinsam mit Emmanuel Macron endlich die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik voranzutreiben.