Policy Brief

09. Juni 2023

Von „Forward Presence“ zu „Forward Defense“

Deutschland muss die NATO-Nordostflanke in Litauen stärken
Deutsche und litauische Soldaten besprechen sich auf dem Übungsplatz bei der Enhanced Forward Presence Battle Group in Rukla
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Fragen der Abschreckung und Verteidigung entlang der Nordostflanke der NATO sind seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine stärker im Fokus der Alliierten. Insbesondere in den baltischen Staaten herrscht Entschlossenheit, jeden Zentimeter des Bündnisgebietes gegen einen möglichen russischen Angriff zu schützen. Um ein solches Szenario zu verhindern, führt die NATO militärische Anpassungen durch, bei denen Deutschland seinen Beitrag erhöhen muss.

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Wichtigste Erkenntnisse 

Wegen der russischen Bedrohung sollte sich die NATO verstärkt auf die Verteidigung des Bündnisgebiets konzentrieren, besonders in den geografisch exponierten baltischen Staaten.

Die seit 2014 eingeleiteten Rückversicherungs- und Abschreckungsmaßnahmen sind nicht ausreichend und müssen stärker als bisher korrigiert werden.

Die Bundesregierung kann zur Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit des Bündnisgebiets beitragen, indem sie die für die Verteidigung Litauens zugesagte Brigade dauerhaft auf litauischem Boden stationiert.

Deutschland sollte Großbritannien und Kanada ermutigen, ähnliche Maßnahmen in Estland und Lettland zu ergreifen.

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Spätestens seit Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine sind Abschreckung und Verteidigung an der Nordostflanke der NATO wieder aktuell und folglich die Anpassung militärischer Maßnahmen notwendig. Dabei sollten die Alliierten ein besonderes Augenmerk auf das Baltikum legen, denn dieses ist geostrategisch besonders exponiert. Estland, Lettland und Litauen grenzen jeweils an Russland und gleichzeitig fehlt allen drei Ländern ein geografischer Rückzugsraum, da sie klein und schmal sind.

Für Deutschland im Besonderen sowie die NATO im Allgemeinen hat diese Ausgangslage politisch-strategische sowie militärische Auswirkungen. Sollte Russland etwa einen oder mehrere der baltischen Alliierten angreifen, wäre Deutschland unmittelbar betroffen. Schließlich zählen Truppen der Bundeswehr zu den alliierten Streitkräften, die die Ostgrenze der NATO mit multinationalen Gefechtsverbänden gegenwärtig absichern. Im Fall eines russischen Angriffsszenarios wäre jedoch ein Fait accompli nicht auszuschließen, in dem Moskau unter Einsatz nuklearer Drohgebärden die anderen NATO-Staaten davon abhalten würde, militärischen Nachschub für die baltischen Staaten zu organisieren. Bereits die Aussicht auf Erfolg solcher Erpressungsversuche könnte die NATO zerrütten und einen strategischen Sieg für Russland ohne einen langwierigen Krieg erzielen.

Eine solche Entwicklung würde das Vertrauen in Deutschlands Verlässlichkeit und den Zusammenhalt innerhalb der Allianz stark beschädigen. Das ist insofern doppelt problematisch, als die nordosteuropäischen Alliierten bereits gegenwärtig die Verlässlichkeit der Bundesregierung in Zweifel ziehen, sie im Ernstfall gegen einen russischen Angriff zu verteidigen.

Umso wichtiger ist es, sich die von Wladimir Putin bereits im Dezember 2021 geäußerten Vorstellungen von einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur in Erinnerung zu rufen. In Ultimaten an die USA und NATO forderte der russische Präsident damals unter anderem die Rückabwicklung der NATO-Erweiterung seit 1999 sowie einen De-facto-Rückzug der Amerikaner aus Europa. Würden die Amerikaner diesen Forderungen nachkommen, wäre Europa in einer schwierigen Lage. Denn schließlich garantieren die USA im Rahmen der NATO einen Großteil der europäischen Sicherheit – nicht zuletzt mittels ihres Nuklearschirms, der über NATO-Europa gespannt ist.

Deutschlands Rolle an der NATO-Nordostflanke: Was zu tun ist

Deutschland kommt seit 2022 verstärkt eine wichtige Rolle in der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit der NATO-Verbündeten zu. Als Rahmennation des multinationalen Gefechtsverbands im litauischen Rukla führt es im Rahmen der Mission enhanced Forward Presence (eFP) – der sogenannten verstärkten Vornepräsenz – bereits seit 2017 die alliierten Truppen in Litauen. Die Bundesregierung hat als Reaktion auf die erneute russische Aggression gegen die Ukraine das Truppenkontingent auf knapp 900 Einsatzkräfte aufgestockt. Weiterhin hat Deutschland im letzten Jahr eine Kampfbrigade mit rund 3.000 Soldaten und Soldatinnen für Litauens Schutz zugesagt. Der etwa 60 Personen umfassende Kommandostab der Brigade ist bereits dauerhaft in Rukla stationiert. Dagegen soll der Rest der Truppe auf deutschem Boden verbleiben und nur für Übungen nach Litauen verlegt werden. Die Vorbereitung dieser Verlegung, inklusive des dazugehörigen Materials, ist hauptsächliche Aufgabe des Kommandostabes.

Die litauischen Erwartungen an die Bereitstellung einer mechanisierten Brigade haben für Spannungen zwischen beiden Ländern gesorgt. Litauen hat gehofft, dass nicht nur der Kommandostab permanent in Litauen stationiert würde, sondern die komplette Brigade samt dazugehörigem Material.

Dies lehnt die Bundesregierung jedoch gegenwärtig mit Verweis auf die mangelhafte Ausstattung der Bundeswehr ab. Gleichzeitig betont sie, dass die NATO über eine dauerhafte Präsenz entscheiden solle. Darüber hinaus heißt es aus Berlin – im Prinzip zu Recht –, dass es Litauen bislang an Infrastruktur fehle, um eine Brigade dauerhaft im Land zu beherbergen; dazu gehören unter anderem Unterbringungsmöglichkeiten für Soldaten und Soldatinnen und deren Familien ebenso wie Übungsplätze.

Diesen drei Argumenten lässt sich Folgendes entgegnen: 1. Wenn die Bundesregierung die angekündigte sicherheits- und verteidigungspolitische Zeitenwende ernst meint und mit ihrer Umsetzung glaubwürdig sein will, muss sie die Mittel und das Material aufbringen, damit die Bundeswehr ihrem Kernauftrag nachkommen kann – nämlich der Landes- und Bündnisverteidigung. Zu diesem Auftrag gehört hauptsächlich die Absicherung und, wenn nötig, auch die Verteidigung der Nordostflanke. 2. Deutschland hat bereits im vergangenen Jahr gezeigt, dass es nicht auf Entscheidungen der NATO wartet, sondern diese prägt, als Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem NATO-Gipfel in Madrid Ende Juni Litauen jene Brigade zusagte, um deren Einsatz nun gerungen wird. 3. Zwar wird es vermutlich drei bis fünf Jahre dauern, bis die infrastrukturellen Voraussetzungen bereitgestellt sind, doch Litauen arbeitet bereits jetzt an deren Umsetzung.

Von Abschreckung zur Verteidigung

Den Grundstein für die aktuelle Entwicklung von verstärkter Vornepräsenz und Abschreckung hin zu mehr Verteidigungsfähigkeit, insbesondere in den baltischen Staaten und Polen, legten die Alliierten bereits 2014 mit dem „Readiness Action Plan“ (RAP). Der RAP war die Antwort auf Russlands beginnende Aggression gegen die Ukraine im selben Jahr und konzentrierte sich zunächst auf die Vorbereitung der schrittweisen militärischen Verstärkung derjenigen Bündnispartner, die an der Grenze zu Russland liegen.

Der auf dem NATO-Gipfel 2014 in Wales beschlossene RAP stellte einen wesentlichen Schritt zur Stärkung der Nordostflanke dar und umfasste eine Reihe von Anpassungsmaßnahmen in der Luft, auf See und an Land, darunter die Verstärkung des NATO Air Policing über den baltischen Staaten. Zusätzlich beschlossen die Staats- und Regierungschefs in Wales eine Verdreifachung des Umfangs der NATO-Reaktionskräfte auf etwa 40.000 Truppen, deren „Speerspitze“, die multinationale Very High Readiness Joint Task Force (VJTF) mit etwa 5.000 Soldaten und Soldatinnen, innerhalb weniger Tage mit ersten Elementen verlegbar sein soll.

Diesen Beschlüssen und Maßnahmen lag die Einsicht zugrunde, im Lichte der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion und der russischen Unterstützung für die Separatisten im Südosten der Ukraine, zur ursprünglichen Raison d’Être der NATO zurückkehren zu müssen: Abschreckung und Verteidigung. So beschlossen die Alliierten zusätzlich eine verstärkte militärische Vornepräsenz entlang der Nordostflanke.

Kern dieser Präsenz bildet, wie zuvor erwähnt, seit 2017 die Aufstellung von vier multinationalen Gefechtsverbänden, sogenannten Battlegroups, im Umfang etwa eines verstärkten Bataillons im Rahmen der eFP der NATO. Beim NATO-Gipfel in Warschau 2016 einigten sich die Mitgliedstaaten auf die Stationierung der eFP-Kräfte in Estland, Lettland, Litauen und Polen, die in sechsmonatiger Rotation zur Verbesserung der alliierten Abschreckung gegenüber Russland beitragen sollten. Den Machthabern in Moskau sollte damit signalisiert werden, dass sich Russland selbst im Fall eines begrenzten militärischen Einfalls in das Territorium eines der vier Verbündeten unverzüglich mit der gesamten NATO – inklusive der Atommächte Frankreich, Großbritannien und USA – im Krieg befände.

All die Maßnahmen, die seit 2014 in Gang gesetzt und in den Jahren darauf bis heute implementiert und weiter angepasst wurden, haben eines gemeinsam: Sie dienen der Rückversicherung der Mitgliedstaaten entlang der Flanke, die vom Norden bis in den Südosten reicht. Wofür all diese Maßnahmen allerdings nicht hinlänglich ausgerichtet sind, ist die Verteidigung des NATO-Bündnisgebiets.

Die eFP-Kräfte haben im Fall der Fälle die Aufgabe, das Verzögerungsgefecht gegen einen russischen Angriff aufzunehmen, sprich: die Aggression zu verlangsamen bis weitere NATO-Truppen nachrücken können, um zusammen mit den baltischen Kräften eine oder mehrere der baltischen Republiken zu verteidigen oder Teile dieser zurückzuerobern.

Die Verlegung von Truppen und Material in die baltischen Staaten – zumal in einer Konfliktsituation – könnte allerdings dadurch erschwert werden, dass Russland in seiner Exklave Kaliningrad zwischen Litauen und Polen Flugabwehr, weitreichende Artillerie und Geräte zur elektronischen Kampfführung stationiert hat (A2/AD). Im Kriegsfall könnte Russland durch Präsenz entlang des sogenannten Suwalki-Korridors – ein nur rund 80 Kilometer breiter Streifen, der Polen mit Litauen verbindet – ebendiesen schmalen Landstrich militärisch schließen. Die Folge wäre, dass die baltischen Staaten von Streitkräften anderer NATO-Staaten auf dem Landweg nur verzögert und unter Umständen unter Inkaufnahme hoher eigener Verluste erreicht werden könnten.

„Jeden Zentimeter unseres Bündnisgebiets verteidigen“

Berichte über von russischen Soldaten begangene Kriegsverbrechen in der Ukraine, etwa in Butscha und Irpin, haben die Einsicht auf Seiten einiger NATO-Staaten, insbesondere der baltischen, noch einmal mehr verstärkt, dass Bündnisgebiet entlang der Nordostflanke, gerade in den besonders exponierten baltischen Staaten, erst gar nicht in russische Hände fallen dürfe. Stattdessen haben die Alliierten mehrfach betont, sie würden jeden Zentimeter des Bündnisgebiets verteidigen. Eine Warnung, die auch Olaf Scholz und Joe Biden gegenüber Putin äußerten.

Entsprechend haben die Alliierten am 24. März 2022 auf einem außerplanmäßigen Gipfel beschlossen, die Anzahl der eFP-Gefechtsverbände geografisch auszuweiten. Mittlerweile sind multinationale Battlegroups auch in Bulgarien, Rumänien, der Slowakei und Ungarn stationiert. Zudem haben Alliierte, die bereits seit 2017 als Rahmennationen für eFP-Kräfte dienen, ihre Truppen vor Ort aufgestockt. Auch für das Air Policing im Baltikum stellen einzelne Mitgliedstaaten zusätzliche Flugzeuge zur Verfügung oder verstärken die Standing Navel Forces.

Fortgesetzt hat die NATO ihre militärische Strategie weg von einer „forward presense“ hin zu einer „forward defense posture“ auf dem Treffen in Madrid im vergangenen Juni. Einen wesentlichen Fortschritt stellte dabei folgender Beschluss dar: “Allies have committed to deploy additional robust in-place combat-ready forces on our eastern flank, to be scaled up from the existing battlegroups to brigade-size units where and when required, underpinned by credible rapidly available reinforcements, prepositioned equipment, and enhanced command and control.” Somit stand bereits im Sommer 2022 fest, dass brigadestarke Truppen ein zentraler Baustein der neuen Strategie der NATO sein sollen. Wie weit sie mit der Umsetzung dieses Beschlusses gekommen ist, wird Thema auf dem diesjährigen Gipfel im litauischen Vilnius sein.

Handlungsempfehlungen:

  • Um zu verhindern, dass Russland im Ernstfall Bündnisterritorium einnimmt, sollte die Bundesregierung die dauerhafte Stationierung einer Brigade in Litauen vorsehen. Auf dem Weg zur dauerhaften Stationierung, sollte Deutschland ein zusätzliches, voll ausgestattetes Bataillon nach Litauen entsenden, und das zusätzlich zu den deutschen Truppen, die bereits zu den eFP-Kräften beitragen. Ein angedachter Zeitraum von drei bis fünf Jahren für diese Stationierung würde Deutschland die Möglichkeit geben, die Kräfte aufzustellen und Litauen die Chance, die Infrastruktur entsprechend aufzubauen.
  • Die Bundesregierung sollte im Allianzrahmen dafür werben, dass auch Großbritannien und Kanada, derzeit die zwei anderen „lead nations“ der efP-Kräfte im Baltikum, in Estland und Lettland jeweils ähnliche Schritte in die Wege leiten, um die Verteidigungsfähigkeit der gesamten Nordostflanke zu verbessern.
  • Außerdem sollte Deutschland an der Einlagerung von militärischem Material in Depots vor Ort in Litauen arbeiten, um diese im Bedarfsfall schnell zur Verfügung zu haben. Ebenfalls ist es notwendig, auf die rasche materielle und personelle Vollausstattung der für Litauens Verteidigung designierten Brigade hinzuwirken, um eine glaubwürdige Abschreckungs- und im Bedarfsfall Verteidigungsbereitschaft gegenüber Russland zu signalisieren.
  • Weiterhin ist wichtig, dass Deutschland mit und gegenüber Litauen Interoperabilität und Vertrauen stärkt und aufbaut. Dafür ist die angekündigte Brigade neben den Übungen ein erster sinnvoller Schritt.
  • Damit Deutschlands sicherheitspolitische „Zeitenwende“ umgesetzt wird und nach innen und außen Verlässlichkeit vermittelt, muss die Bundesregierung eine dauerhafte Erhöhung des Verteidigungsetats umsetzen sowie notwendige Reformen einleiten, um bürokratische Hürden wie (Beschaffungs-) Prozesse im verteidigungspolitischen Apparat abzuschaffen beziehungsweise zu beschleunigen.

 

 

Bibliografische Angaben

Matlé, Aylin. “Von „Forward Presence“ zu „Forward Defense“ .” German Council on Foreign Relations. June 2023.

DGAP Policy Brief Nr. 14, 9. Juni 2023, 6 S.

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