Online Kommentar

16. Dez. 2021

US Nuclear Posture Review

Auch ohne Joe Bidens „Sole Purpose“-Erklärung muss die NATO ihre Nuklearstrategie klären
Nuclear warheads shot outside the National Museum of Nuclear Science and History in Albuquerque, New Mexico.
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Namensnennung CC BY

Die Regierung von US-Präsident Joe Biden will die Rolle von Nuklearwaffen in der amerikanischen Sicherheitsstrategie reduzieren – unter anderem in Form der sogenannten „Sole Purpose“-Erklärung. Diese sieht vor, dass Atomwaffen ausschließlich zur Abschreckung und Vergeltung nuklearer Angriffe eingesetzt werden. Die Umsetzung einer solchen Politik droht jedoch, Verbündete zu verunsichern und könnte den NATO-Zusammenhalt schwächen. Entsprechend hat die Biden-Administration starken Gegenwind bekommen. In diesem Kontext muss die NATO dringend drei Kernfragen ihrer Nuklearpolitik klären.

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Derzeit modernisieren alle Staaten, die Nuklearwaffen besitzen, ihre Arsenale – auch die USA. Gleichzeitig hat sich die Biden-Regierung dazu verpflichtet, die Rolle von Atomwaffen in der Sicherheitspolitik der USA zu reduzieren. So steht es jedenfalls in ihrer Interim National Security Strategic Guidance. Im Januar wird die Nuclear Posture Review – die Überprüfung der Kernwaffenpolitik – erwartet, die dieses Ziel ausformulieren soll.

Ich werde weitere Schritte unternehmen, um unseren Einsatz für die Reduzierung der Rolle von Atomwaffen zu demonstrieren.

Joe Biden erwägt dabei die unilaterale Verabschiedung der Sole-Purpose-Deklaration. Bereits als Präsidentschaftskandidat versprach er im März 2020:

„Ich werde weitere Schritte unternehmen, um unseren Einsatz für die Reduzierung der Rolle von Atomwaffen zu demonstrieren. Wie ich 2017 gesagt habe, bin ich der Überzeugung, dass der einzige Zweck des amerikanischen Nuklearwaffenarsenals die Abschreckung und – falls notwendig – die Vergeltung eines nuklearen Angriffs sein sollte. Als Präsident werde ich daran arbeiten, diese Überzeugung in Abspräche mit dem US-Militär und den Verbündeten der USA in die Praxis umzusetzen.“

Ein solcher Schritt wäre eine fundamentale Änderung der bisherigen Politik und würde sich sowohl in den Augen von Gegnern als auch Verbündeten auf die Wahrnehmung der USA und ihrer Sicherheitsgarantien auswirken. Der genaue Wortlaut einer Sole-Purpose-Deklaration ist hierbei allerdings entscheidend. Bidens Verweis auf die Vergeltung eines Angriffs würde den Zweck von Washingtons Nuklearwaffen auf ein einziges, konkretes Szenario eines Militäreinsatzes beschränken. So formuliert, käme die Erklärung einem Verzicht auf den Ersteinsatz und damit einer No-First-Use-Politik sehr nahe. Diese schließt von vorneherein die Option aus, in Konfliktsituationen als erste Partei Nuklearwaffen einzusetzen. Andere Sole-Purpose-Formulierungen könnten hingegen mehr Optionen, Flexibilität und Ambiguität zulassen.

Angesichts der aktuellen Sicherheitslage und der wachsenden Bedeutung von Nuklearwaffen stößt Bidens Idee sowohl im eigenen Land als auch bei den NATO-Verbündeten auf Widerstand. Laut Medienberichten übten diesbezüglich Alliierte in Europa sowie im Indo-Pazifik bereits starken Druck auf die US-Regierung aus. Damit wiederholt sich die Erfahrung aus der Amtszeit Barack Obamas, von der schon einmal eine Sole-Purpose-Erklärung erwogen, dann aber aufgrund des Widerstands von Partnern und Alliierten wieder verworfen wurde. Es ist deshalb fraglich, ob Joe Biden sich tatsächlich auf diesen Konflikt einlassen wird. Wahrscheinlicher ist, dass, wie bereits unter Obama, eine andere Formulierung gewählt wird.

Doch was genau finden die Alliierten so problematisch an einer Sole-Purpose-Deklaration? Um dies zu verstehen, müssen Alternativen abgewägt sowie potenzielle Konsequenzen für die NATO betrachtet werden.

Bislang beruhte die Nuklearwaffenpolitik der USA auf dem Prinzip der strategischen Ambiguität. Deren Prinzip ist es, den Gegner im Unklaren darüber zu lassen, unter welchen Bedingungen Nuklearwaffen zum Einsatz kommen, und auf diese Weise abzuschrecken. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob die USA Nuklearwaffen als Reaktion auf nicht-nukleare Angriffe, etwa mit biologischen, chemischen oder konventionellen Waffen, einsetzen würden.

Eine Sole-Purpose-Deklaration verfolgt die entgegengesetzte Absicht: Sie zielt darauf ab, die Vorhersehbarkeit des Einsatzes von Nuklearwaffen zu erhöhen. So sollen Fehleinschätzungen auf Seiten der Gegner minimiert werden. Ziel ist es, Konfrontationen zu entschärfen und das Risiko eines nuklearen Konflikts zu verringern.

Für die Alliierten der USA würde eine solche Erklärung komplizierte Fragen aufwerfen. Die NATO-Verbündeten stünden vor mindestens drei Herausforderungen: Erstens müsste die NATO ihre eigene Abschreckungsstrategie in Bezug auf nicht-nukleare Bedrohungen (die sogenannte cross-domain, sprich „einsatzgebietübergreifende“ Abschreckung) überarbeiten. Zweitens wäre die NATO gezwungen, erneut eine Debatte über die nukleare Teilhabe zu führen, da die Rolle der US-Nuklearwaffen auf europäischen Boden reduziert wäre. Drittens müssten die Alliierten andere Wege finden, um den Zusammenhalt in der NATO zu stärken und auf unterschiedliche Interessen und Sicherheitsbedürfnisse zu reagieren.

Abschreckung über mehrere Einsatzbereiche hinweg

Nuklearwaffen spielen in der Abschreckungsstrategie der NATO eine entscheidende Rolle. Das westliche Bündnis hat die Option eines Ersteinsatzes von Atomwaffen nie ausgeschlossen – eine Drohung, die auf den Kalten Krieg zurückgeht, um mit einer bewussten nuklearen Eskalation massive konventionelle Angriffe abschrecken oder aufhalten zu können.

In den letzten Jahren hat sich die Rolle von Nuklearwaffen ausgeweitet, um das wachsende Spektrum von nicht-nuklearen Bedrohungen, einschließlich Cyberangriffen, abzudecken. Die NATO behält sich das Recht vor, Nuklearwaffen in Reaktion auf Aktivitäten in allen operativen Bereichen einzusetzen, „wenn die grundlegende Sicherheit eines NATO-Verbündeten bedroht ist“. Andere nuklear bewaffnete Staaten, wie zum Beispiel Russland, verfolgen eine ähnliche Strategie und halten den potenziellen Gebrauch von Nuklearwaffen zur Abschreckung nicht-nuklearer Bedrohungen bewusst offen.

Die US-amerikanischen Nuklearwaffen sind die Grundlage der cross-domain Abschreckung der NATO. Würden die USA den Zweck ihrer Nuklearwaffen auf die Abschreckung nuklearer Angriffe beschränken, würde dies die Abschreckungsfähigkeit der NATO von nicht-nuklearen Angriffen einschränken. Die Befürworter einer Sole-Purpose-Deklaration weisen darauf hin, dass die Androhung einer nuklearen Vergeltung als Reaktion auf beispielsweise Cyberoperationen bereits wenig glaubwürdig sei. Kritiker hingegen argumentieren, dass keine andere Technologie die potenzielle Zerstörungskraft und folglich Abschreckungswirkung von Nuklearwaffen ersetzen könne.

Die Frage der nuklearen Teilhabe

Auch die Vereinbarungen rund um das Konzept der sogenannten „nuklearen Teilhabe“ im Rahmen der NATO würden im Zuge der Erklärung infrage gestellt. Fünf NATO-Mitgliedsstaaten – Belgien, Deutschland, Italien, die Niederlande und die Türkei – lagern jeweils substrategische Nuklearwaffen der USA und stellen Flugzeuge für den Einsatz dieser Freifallbomben zu Verfügung. Die nukleare Teilhabe dient verschiedenen Zwecken, von der Abschreckung nicht-nuklearer Angriffe bis hin zur Rückversicherung der Verbündeten. Dennoch gerät sie immer wieder in Kritik.

2020 stellten beispielsweise Mitglieder der SPD die Beteiligung Deutschlands an der nuklearen Teilhabe der NATO infrage, nachdem diskutiert worden war, wie die Flotte alternder Tornados der Luftwaffe zu ersetzen wäre. Dabei ging es um Kampfflugzeuge, die US-Atombomben transportieren könnten. Auch die Grünen haben immer wieder den Abzug der US-Nuklearwaffen aus Deutschland gefordert. Ähnliche Debatten gibt es auch in anderen Ländern, etwa in Belgien und den Niederlanden, wo die Bevölkerung der Stationierung substrategischer US-Nuklearwaffen in ihren Ländern skeptisch gegenübersteht.

Auch wenn die neue Ampel-Regierung in ihrem Koalitionsvertrag an der nuklearen Teilhabe festzuhalten scheint, würde eine Veränderung der US-Nuklearstrategie zu einer neuen Teilhabe-Debatte führen. Die Verbündeten müssten erneut über die in Europa stationierten substrategischen Nuklearwaffen diskutieren und Kritiker der nuklearen Teilhabe würden sich darin bestätigt sehen, auf ihren Forderungen zum Abzug der Waffen zu beharren.

Tiefe Brüche innerhalb der NATO

Meinungsverschiedenheiten über so grundlegende Fragen wie die Rolle von Nuklearwaffen oder Abschreckungsstrategien könnten den inneren Zusammenhalt der Allianz ernsthaft gefährden.

Besonders die anderen beiden Atommächte in der NATO dürften Einwände haben: Frankreich und Großbritannien tragen beide mit eigenen Nuklearwaffen zur allgemeinen Abschreckungsfähigkeit der NATO bei. Keines der beiden Länder würde zurzeit seine Nuklearwaffenpolitik anpassen und die Rolle seiner Nuklearwaffen reduzieren. Schließlich hat Großbritannien erst kürzlich angekündigt, dass es die numerische Obergrenze seiner nuklearen Sprengköpfe erhöhen und die Zahl der einsatzbereiten oder stationierten Nuklearwaffen nicht mehr veröffentlichen werde.

Feindlich gesinnte Staaten könnten diese fundamentalen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der NATO als Gelegenheit sehen, den Zusammenhalt der Alliierten weiter zu untergraben und eine Entkoppelung der USA von Europa zu fördern.

Notwendigkeit eines Dialogs

Fragen der nuklearen Abschreckung treffen den Kern der Allianz. Die Verpflichtungen zur gegenseitigen Verteidigung und erweiterten nuklearen Abschreckung bilden den Eckpfeiler des Bündnisses. Entscheidungen, die sich möglicherweise auf diese Verpflichtungen auswirken, können nicht im Alleingang getroffen werden, sondern erfordern enge Konsultationen unter Verbündeten. Daran hat sich Joe Biden gehalten und die Verbündeten einbezogen.

Aktuell scheint es, als habe man in Washington den lauten Protest von Partnern und Verbündeten gehört. Vermutlich wird es auch unter Biden keine Sole-Purpose-Deklaration geben. Doch am Ziel, die Rolle von Nuklearwaffen in der Sicherheitspolitik reduzieren zu wollen, wird der Präsident festhalten. Die in diesem Kontext aufgeworfenen Fragen bleiben somit relevant.

Die Debatte zeigt, dass es auch innerhalb der NATO keine einheitliche Position über die Rolle von Nuklearwaffen bei der Abschreckung gibt. Das zeugt von Diskussionsbedarf. Gerade in Zeiten, in denen die Mittel der Kriegsführung einen fundamentalen Wandel durchlaufen, sollte die Allianz einen Dialog über Abschreckung führen. Wie kann diese über verschiedene militärische Bereiche hinweg stringent organisiert werden? Entscheidungen in einem Bereich wirken sich auf die anderen Einsatzbereiche aus. Wenn die USA die Rolle von Nuklearwaffen reduzieren, müssen sich die Verbündeten darüber im Klaren sein, was dies für Abschreckung im konventionellen Bereich sowie im Weltraum und Cyberspace bedeutet. Gerade angesichts technologischer Fortschritte und strategischer Relevanz dieser nicht-nuklearen Fähigkeiten ist eine solche Diskussion vonnöten. Die Biden-Administration will mit dem Konzept der „integrierten Abschreckung“, welche Kernelement der nationalen Verteidigungsstrategie werden soll, in diese Richtung weiterdenken.

Der aktuelle Verhandlungsprozess zum strategischen Konzept, das im Juni 2022 anlässlich des NATO-Gipfels in Madrid vorgestellt werden soll, gibt den Alliierten den passenden Anlass, um über genau diese Fragen zu sprechen, Interessen einzelner Mitgliedstaaten zu hören und eine akzeptable Kompromisslösung zu finden, die weder die Abschreckungsstrategie der NATO untergräbt noch die Kohäsion der Allianz gefährdet.

 

 

 

Bibliografische Angaben

Becker, Sophia, and Elisabeth Suh. “US Nuclear Posture Review .” German Council on Foreign Relations. December 2021.

Dieser DGAP Online-Kommentar wurde am 16. Dezember 2021 veröffentlicht und ist die aktualisierte deutsche Fassung des englischen Beitrags von Mai 2021. 

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