Russland ist dabei, seine Streitkräfte aus dem Norden der Ukraine, hauptsächlich aus der Region Kiew, abzuziehen. Im Einklang mit der am 25. März angekündigten Änderung der militärischen Ziele wird sich Russland bei seinen künftigen Operationen auf die Ostukraine konzentrieren.
Dies bedeutet nichts anderes, als dass Russland beabsichtigt, das gesamte Gebiet der Regionen Donezk und Luhansk zu besetzen, und zwar unter dem Vorwand, den von Russland dort geschaffenen separatistischen "Volksrepubliken" Hilfe zu leisten. Die rücksichtslose Belagerung von Mariupol passt in dieses Muster, da die Hafenstadt zur Region Donezk gehört.
Russland will Machtbereich in Ostukraine ausdehnen
Höchstwahrscheinlich beabsichtigt Russland außerdem, die Landbrücke zwischen der Krim und der Region Donezk und damit die vollständige Kontrolle über die gesamte Küste des Asowschen Meeres zu behalten. Dazu gehört auch der südliche Teil der ukrainischen Region Saporischschja. Diese Gebiete hatte Russland bereits in der ersten Kriegswoche besetzt und kontrolliert sie seither, mit Ausnahme Mariupols.
Ein weiterer wahrscheinlicher, wenn auch noch nicht erklärter russischer Gebietsanspruch bezieht sich auf den südlichen Teil der Region Cherson. Hier führte der Nord-Krim-Kanal Wasser aus dem Dnjepr zu Bewässerungszwecken auf die Krim. Die Wiederherstellung der Wasserversorgung der Halbinsel (die nach der Besetzung der Krim durch Russland im Jahr 2014 eingestellt wurde) ist ein wichtiges Ziel für Russland:
Aufgrund des Wassermangels ist die Größe der Ackerfläche auf der Krim seit 2014 um 90 Prozent zurückgegangen. Es ist davon auszugehen, dass Moskau auch über dieses Gebiet die Kontrolle behalten will. Um dies zu erreichen, versucht Russland, auch in Cherson eine Pseudo-Separatistenbewegung ähnlich der im Donbass zu gründen, wogegen sich die örtliche Bevölkerung jedoch heftig wehrt.
Ukraine wird im Krieg nicht nachgeben
Die Ukraine kann und wird diesen offiziellen und inoffiziellen russischen Gebietsansprüchen wahrscheinlich nicht nachgeben. Sie wird so lange weiterkämpfen, bis ein auch für sie akzeptabler Waffenstillstand ausgearbeitet ist. Für den unnachgiebigen Widerstand der Ukrainer gibt es mehrere Gründe:
In erster Linie wäre die offizielle Anerkennung des Verlusts der besetzten Gebiete nicht nur politischer Selbstmord für das herrschende Establishment, sondern auch ein Freibrief für weiteren Landraub, und zwar nach Ansicht vieler Ukrainer möglicherweise nicht nur durch Russland.
Zweitens sind mehr als 90 Prozent der Bevölkerung davon überzeugt, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann. Die schweren Gräueltaten der russischen Streitkräfte in Butscha, Borodjanka und anderen Städten haben die Bereitschaft der Ukraine, für ihr Land zu kämpfen, weiter angefeuert. Der bewaffnete Kampf bedeutet nun mehr denn je, die Bevölkerung vor der verheerenden russischen Besatzung zu schützen - oder ihr zumindest genügend Zeit zur Evakuierung zu geben.
Ukraine: Wichtige Infrastruktur würde abhanden kommen
Drittens würde eine kampflose Aufgabe des Donbass es der russischen Armee ermöglichen, ihre derzeitige Stärke beizubehalten, was bedeutet, dass ein weiterer russischer Vormarsch nicht ausgeschlossen werden kann. Niemand aus der ukrainischen Führung würde dem Versprechen Moskaus trauen, die russische Invasion wäre mit der Eroberung des Donbass abgeschlossen.
Viertens würde ein vollständiger Verzicht auf den Donbass und ein teilweiser Verzicht auf die Regionen Saporischschja und Cherson den Verlust von etwa zwei bis 2,5 Millionen Einwohnern, viel Ackerland, einigen ertragreichen Bergwerken, wichtigen Teilen der Industrie und vieler andere Wirtschaftsgüter bedeuten.
Ukraine befürchtet Domino-Effekt durch Cherson
Der Zugang zum Asowschen Meer würde vollständig und der zum Schwarzen Meer teilweise verloren gehen. Außerdem würde ein von Russland kontrolliertes Cherson auch die ukrainische Schifffahrt auf dem Dnjepr vom Schwarzen Meer abschneiden, was die Handelsmöglichkeiten der Ukraine weiter einschränken würde.
Außerdem würde ein Nachgeben bei Cherson erst Mykolajiw und dann auch Odessa gefährden, wodurch die Ukraine auch den Zugang zum Schwarzen Meer zu verlieren drohte.
Nicht nur der ukrainische Staat und die ukrainische Bevölkerung, sondern auch die politische Elite und die Oligarchen der Ukraine würden schwer leiden. Diese Faktoren machen es höchst unwahrscheinlich, dass die Ukraine auch nur eines der Gebiete kampflos aufgeben würde.