Erstes Dilemma: Bestrafung versus Pragmatismus
Einerseits gibt es gute Gründe für eine saubere Scheidung, ohne weitere Verzögerung, mit der man ein Exempel statuiert. Der Austritt sollte ein wirklicher Austritt sein; das bedeutet keine Samthandschuhe, keine Sonderbehandlung, keine Rosinenpickerei, wie sie die Briten über Jahre in der EU betrieben haben. Es gilt, den Preis für den Brexit möglichst hoch anzusetzen, um eventuelle Nachahmer abzuschrecken. Sei es, weil sie sich ebenfalls Sonderkonditionen erhoffen. Sei es, weil sie eine „Mitgliedschaft light“ als ideale Kombination zweier Welten anstreben könnten.
Andererseits kann die EU-27 nicht dauerhaft durch Druck und Zwang gegenüber Dritten zusammengehalten werden und es gibt mindestens ebenso gute Gründe, die gegen eine solche harte Linie sprechen. Niemand kann sich ernsthaft die Neuauflage der „Splendid Isolation“ des späten 19. Jahrhunderts wünschen. Schließlich sind enge und partnerschaftliche Beziehungen zu der Insel trotz des Votums im Interesse aller EU-Mitgliedstaaten – vor allem, um den wirtschaftlichen Schaden gering zu halten und um das Vereinigte Königreich als Partner in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik nicht zu verlieren.
Diese beiden politischen Ziele gegeneinander auszubalancieren ist ein schwieriges Unterfangen und verlangt Fingerspitzengefühl auf beiden Seiten. Der Grat zwischen Bestrafung und Pragmatismus ist schmal und aus britischer und europäischer Perspektive wohl nicht deckungsgleich. Die EU-27 muss hier zunächst in den eigenen Reihen und dann mit dem Vereinigten Königreich zeitnah ein gemeinsames Verständnis darüber entwickeln, wohin die Reise gehen soll – um zu vermeiden, dass aus der anstehenden Scheidung ein schmutziger Rosenkrieg wird. Auch sollte man für die Briten die Tür zur EU nicht voreilig zuschlagen. Schließlich kann in diesen Tagen noch niemand absehen, wohin das momentan führungslose Königreich tatsächlich steuert.
Allerdings haben die britischen Austrittsbefürworter ihren Wählern „blühende Landschaften“ durch einen weiterhin uneingeschränkten Zugang zum europäischen Binnenmarkt und gleichzeitig ein Ende der EU-Migration versprochen – also de facto die Quadratur des Kreises. Dies lässt befürchten, dass ein Einvernehmen über das zukünftige Verhältnis, das sowohl die 52 Prozent „Leave“- Wähler ebenso wie die nicht zu vernachlässigenden 48 Prozent „Remain“-Wähler zufriedenstellt, im Land des Brexits noch schwerer herzustellen ist als innerhalb der verbleibenden 27 Mitgliedstaaten der Union. Eine schnelle Einigung ist also nicht zu erwarten. Die aktuelle Selbstzerfleischung sowohl bei den Tories als auch bei Labour gibt einen Vorgeschmack. Als hätten die EU-27 und das Vereinigte Königreich keine anderen Sorgen.
Zweites Dilemma: Integration versus Vertrauensmangel
Wie ginge es ohne das Vereinigte Königreich weiter mit der EU? Nicht erst seit dem britischen Votum gibt es hier unterschiedliche Vorstellungen, die sich nur schwer zusammenbringen lassen. Überzeugte Europäer, die die Antwort auf die Fragen des 21. Jahrhunderts nicht in mehr Nationalismus, sondern in einem engen, weltoffenen Zusammenarbeiten der europäischen Staaten sehen, können nach dem Referendum nur fordern: Wir brauchen mehr Europa, nicht weniger. Das gilt besonders im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, wo die liberalen Demokratien des Westens angesichts einer zunehmend autoritären beziehungsweise zerfallenden Nachbarschaft Einigkeit, Widerstandsfähigkeit und auch Schlagkraft herstellen müssen.
Gleichzeitig klingen die Rufe derer, die mit integrationistischer Verve und immer gleichen Reflexen eine vertiefte Integration der EU-27 fordern, als hätten sie den Schuss nicht gehört. Nicht nur im Vereinigten Königreich, sondern in allen EU-Mitgliedstaaten sinken die Zustimmungsraten sowohl was Vertiefung als auch Erweiterung der EU betrifft. Wenn dieses Referendum eines gezeigt hat, dann dass die Idee einer immer engeren und immer größeren Union nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, jedenfalls in ihrer jetzigen Form. Und das nicht nur auf der britischen Insel.
Es wäre ein Fehler, jetzt zu argumentieren, dass die Briten ohnehin nie wirklich Teil der EU waren und sich nun – nach dem Ausstieg des „Bremsers“ – weitere Integrationsschritte ohne größere Widerstände verwirklichen ließen. Das Referendum zwingt auch die EU-27 und die politische Elite in Brüssel, sich einzugestehen, wie sehr das europäische Projekt an Strahlkraft verloren hat. In den französischen Präsidentschaftswahlen und den Bundestagswahlen 2017 wird sich bestätigen, dass das Vereinigte Königreich diesbezüglich eben keine Insel ist. Stattdessen haben wir es in Europa mit sich polarisierenden Gesellschaften zu tun. Wie sich vor Kurzem auch in Österreich zeigte, stehen sie sich in der Frage nach mehr oder weniger Nationalstaat, Grenzen oder Zuwanderung diametral gegenüber. Der britische Volksentscheid war eben nicht nur eine Entscheidung über den eigenen Verbleib in der Europäischen Union. Er war auch ein weiteres Zeichen für den Vertrauensverlust in die politischen Eliten Europas.
Deutschland in der Verantwortung
Es scheint, als könne die EU momentan weder wirklich vor noch wirklich zurück – jedenfalls nicht im siebenundzwanzigfachen Gemeinschaftsschritt. „Keep calm and carry on“ ist theoretisch ein guter Ratschlag, erfordert aber praktisch, dass man sich darüber einig wird, in welche Richtung es gehen kann und soll. Eine mögliche Lösung könnte in einer stärkeren Differenzierung des Integrationsprozesses liegen; und zwar nicht bloß als Übergangsphase und ohne den Druck einer „Ever Closer Union“, sondern auch mit offener Tür für Nachzügler, die doch irgendwann den nächsten Integrationsschritt wagen wollen. Wichtig wäre dabei, dass die unterschiedlichen Schritte gut miteinander choreografiert sind, um eine Fragmentierung der Union zu verhindern.
Auf der Suche nach Richtungsentscheidungen wird der Blick zukünftig noch mehr als ohnehin auf Deutschland fallen. Berlin steht besonders in der Verantwortung, Auswege aus den aufgezeigten Dilemmata zu suchen: Es gilt, den Zusammenhalt der verbleibenden 27 Mitgliedstaaten zu stärken, eine weitere Desintegration zu verhindern, eine gemeinsame europäische Stimme gegenüber dem Vereinigten Königreich zu finden und einen Plan für die Zukunft der EU zu entwickeln. Angesichts der Tiefe der Differenzen ist dies eine Mammutaufgabe, mit ungewissem Ausgang. Dennoch: Deutschland kann es sich nicht erlauben, sich in Zurückhaltung zu üben. Es würde ein Vakuum entstehen, das Europas Rechtspopulisten in die Hände spielt.
Die europäische Schuldenkrise und die Flüchtlingskrise haben gezeigt, dass nicht alle Mitgliedstaaten der Überzeugung sind, dass Berlin für die EU den Schlüssel zur Lösung ihrer Probleme in den Händen hält. Vielmehr sehen einige europäische Partner – insbesondere im Süden und Osten der EU – im wachsenden Einfluss Berlins einen Teil des Problems. Mit einem britischen Austritt verstärkt sich die Verschiebung der europäischen Machtbalance in Richtung Berlin nun weiter. Berlins Befürchtung ist berechtigt, dass die „deutsche Frage“ – so sie in den Hauptstädten Europas nicht ohnehin schon präsent ist – noch viel stärker diskutiert werden wird und damit die Bereitschaft zur Kooperation in den Mitgliedstaaten und die Akzeptanz für deutsche Positionen in der EU weiter sinken wird. Dies zeigt sich schon jetzt daran, dass im In- und Ausland erste Stimmen laut werden, die Angela Merkel und ihre Politik in der Flüchtlingskrise dafür verantwortlich machen, die Briten in ihrer Austrittsentscheidung bestärkt zu haben.
Berlin sollte deshalb in dieser so schwierigen Phase den Schulterschluss mit Frankreich suchen und das deutsch-französische Tandem für andere europäische Partner wie Italien und – trotz seiner umstrittenen Regierung – Polen öffnen, um einen breiten Konsens über die jetzt anstehenden, wegweisenden Zukunftsfragen für die EU herbeizuführen. Neben den traditionellen Kernstaaten Europas sollte Berlin schnellstmöglich auch die Peripherie aktiv miteinbeziehen.
Die Bewältigung der anstehenden Aufgaben wird allerdings auch dadurch erschwert, dass die Bundeskanzlerin einem sich verändernden innenpolitischen Umfeld ausgesetzt ist. Die Verhandlungen um das dritte Rettungspaket für Griechenland und die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin haben dazu geführt, dass Angela Merkels Zustimmungsraten in der Bevölkerung sinken und sie sich nicht mehr uneingeschränkt auf ihre breite Mehrheit im Bundestag verlassen kann. Mit Blick auf die Bundestagswahlen im kommenden Jahr und der wachsenden Zustimmung für die rechtspopulistische und euroskeptische „Alternative für Deutschland“ hat sich der europapolitische Gestaltungsspielraum der Bundeskanzlerin deutlich verkleinert. Doch ob die britische Entscheidung den Anfang vom Ende der Europäischen Union einläutet, oder ob der Rest zusammenhält, hängt auch wesentlich von der deutschen Führungsfähigkeit ab.
Dieser Beitrag erschien am 27. Juni 2016 bei Cicero.