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Im Herbst ist Macrons Präsidentschaft in ihre zweite Hälfte eingetreten. Der Zeitpunkt bietet sich nicht nur für eine Bilanz des Geleisteten an. Für die französische Regierung ist es auch höchste Zeit, verbliebene Wahlversprechen umzusetzen. Im Vordergrund steht die Rentenreform, die schwierigste und zugleich symbolträchtigste aller Reformen, die sich Macron und sein Team vorgenommen haben. Die Reform soll das Defizit der Rentenkasse durch die Abschaffung der zahlreichen Sonderregelungen reduzieren, das Renteneintrittsalter erhöhen und das Rentensystem auf eine einheitliche Berechnung nach Entgeltpunkten umstellen. Ob das gelingt, ist für Macrons Image als Reformer entscheidend. Davon hängt sowohl die Dynamik der Exekutive bis 2022 ab, als auch die Glaubwürdigkeit und somit die zukünftigen Wahlchancen der République en marche.
Reformgegner sind sich dessen bewusst und dementsprechend entschieden, Widerstand zu leisten. Am 5. Dezember findet landesweit ein erster großer Streiktag statt. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Beamte verschiedener Sektoren – Transport, Bildung, Gesundheit, Energie, Justiz – sind dazu aufgerufen, ihre Arbeit niederzulegen. Beim öffentlichen Nah- und Fernverkehr ist ein unbegrenzter Streik angekündigt. Seit einem Jahr und den ersten Protesten der Gelbwesten ist das gesellschaftliche Klima gereizt. Zuletzt demonstrierten Studenten sowie Mitarbeiter der Bahngesellschaft SNCF und der öffentlichen Krankenhäuser. Deshalb will die Regierung vorsichtig vorgehen: Sie setzt auf eine Gratwanderung aus Dialog, Zeit und gleichzeitig Konsequenz. Premierminister Édouard Philippe hat im September erste Gespräche mit den Gewerkschaften aufgenommen. Bis die Abgeordneten in der Assemblée nationale über die Reform debattieren, werden aber mehrere Monate vergehen. Erst nach den Kommunalwahlen am 15. und 22. März 2020, dem ersten ernsthaften Wahltest für Macrons Partei, wird es zu einem Gesetz kommen können.
Die Rentenreform als Symbol und Test
Wer die politische Seele Frankreichs verstehen will, muss einen Blick auf die Geschichte der Rentenreform werfen. Seit den 90er Jahren ist das Defizit des Rentensystems ein heikles Thema auf der politischen Agenda. Trotz unterschiedlicher Reformen in der Vergangenheit (siehe Kasten 1) ist die langfristige Finanzierung der Renten nicht gesichert. Laut dem Bericht des Rentenorientierungsrates (COR) vom November 2019 wird das Defizit 2025 zwischen 8 und 17 Milliarden Euro betragen. Im Fokus der Debatte steht nicht nur das Renteneintrittsalter, das niedrigste aller EU-Länder, sondern auch die Zersplitterung des Rentensystems: Mehrere Millionen Rentnerinnen und Rentner verteilen sich auf vierzig Sondersysteme, vor allem im öffentlichen Sektor und in Staatsunternehmen wie der SNCF und der Banque de France. Sie haben damit günstigere Ruhestandsregelungen als Angestellte der Privatwirtschaft. Diese zahlreichen Sonderregelungen tragen zum Gesamtdefizit des Rentensystems bei und waren schon ein Dorn im Auge mehrerer Regierungen.
In dieser Hinsicht ist 1995 ein Schlüsseljahr. Damals versuchte der konservative Premierminister Alain Juppé, die Regeln aller Rentensysteme anzugleichen und Ausnahmeregelungen zu beenden. Dies führte zu massiven Demonstrationen von Eisenbahnern, Postbeamten und anderen Angestellten im öffentlichen Dienst, die Frankreich drei Wochen lahmlegten. Angesichts des Ausmaßes und der Dauer der Bewegung nahm die Regierung kurz darauf die angestrebte Reform zurück. Seitdem stehen die Streiks von 1995 im kollektiven Bewusstsein der Franzosen für die Machtlosigkeit der Politik gegenüber der Straße und tragen zum (Selbst-)Bild eines nicht reformierbaren Landes bei. Dies erklärt die große Vorsicht der verschiedenen Regierungen in Bezug auf weitere Reformschritte in den letzten 25 Jahren.
Frankreichs langer Weg zur Rentenreform
- Eine Reform der kleinen Schritte
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1993: Erste Rentenreform mit dem Ziel, die Beitragszeit von 37,5 Jahren auf 40 Jahre zu erhöhen.
1995: Premierminister Alain Juppé versucht vergebens, die Rentensysteme zu vereinheitlichen.
2003: Fast zwanzig Jahre danach wird die Beitragszeit des öffentlichen Sektors an die des privaten Sektors angepasst und steigt auf 40 Jahre.
2010: Das gesetzliche Rentenalter steigt schrittweise von 60 auf 62 Jahre und das volle Rentenalter von 65 auf 67 Jahre.
2014: Mit der ersten Rentenreform unter einer sozialistischen Regierung steigt die Mindestversicherungszeit für den Anspruch auf eine volle Rente schrittweise von 166 Quartalen auf 172 Quartale für die Jahrgänge 1958-1972.
- Zentrale Reformen unter Emmanuel Macron
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Bereits umgesetzt:
- Reform des Arbeitsrechts
- Reform der SNCF
- Reform der Beruflichen Bildung, Weiterbildung und Arbeitslosenversicherung
- Reform des Asylrechts
- Reform der Vermögensteuer, des allgemeinen Sozialbeitrags und der Wohnsteuer
- Klima- und Energiegesetz
In der Umsetzung:
- Rentenreform
- Gesetz zur Bioethik
- Einführung einer Digitalsteuer
- Maßnahmen zur Steuerung von Immigration
Noch nicht umgesetzt:
- Reform der Institutionen
- Zusammenführung der Sozialhilfen
Die Entwicklung der Protestlandschaft ist entscheidend
Die Rentenreform ist für jede französische Regierung ein schwieriges Terrain, hinzukommt jetzt der besondere Kontext vor dem Hintergrund der Bewegung der Gelbwesten. Die massiven Demonstrationen in Paris und Blockaden von Verkehrskreiseln, Mautstationen und Autobahnauffahrten in ganz Frankreich sind zwar Vergangenheit. Doch die Nachwirkungen der Gelbwesten sind immer noch präsent:
- Erstens haben die Proteste, die sich an der Erhöhung der Kraftstoffsteuer entzündeten, mit ihren Forderungen nach mehr Kaufkraft, mehr Steuergerechtigkeit und besserer demokratischer Repräsentation die soziale Frage wieder zurück ins Zentrum der Politik getragen – und zwar ohne die traditionellen Akteure der Sozialpolitik wie Sozialisten und Gewerkschaften, sondern von einer bisher im politischen Spektrum kaum sichtbaren Bevölkerungsgruppe.
- Genau diese ist nun, zweitens, mit neuem Selbstbewusstsein stärker im Diskurs präsent als zuvor. Es geht dabei vor allem um die untere Mittelschicht, die kaum noch sozioökonomische Aufstiegsperspektiven für sich sieht, oft „abgehängt“ von den wirtschaftlichen Zentren des Landes ist und sich zu großen Teilen als „apolitisch“ – zumindest aber politisch nicht aktiv – identifiziert. Dank der Dynamik sozialer Netzwerke ist diese fluide und politisch unspezifische Kraft auch ohne feste Struktur fähig, Protestierende zu mobilisieren. Das Wiedererstarken will die Regierung vermeiden, weshalb die Gelbwesten der „unsichtbare Dritte“ in den Verhandlungen zwischen Exekutive und Sozialpartnern sind.
- Drittens hat das enorme Misstrauen in die politische Führung, das die Proteste ausgedrückt haben, die Exekutive gezwungen, die eigene Vorgehensweise zu hinterfragen und anzupassen. Macrons musste seine Methode, Frankreich im Rekordtempo schwindelig zu reformieren, umdenken.
Das Szenario, das es für Macron zu vermeiden gilt, ist eine erfolgreiche „convergence des luttes“, der Zusammenschluss der verschiedenen sozialen Kämpfe. Proteste gegen Reformen scheiterten in den vergangenen Jahren immer wieder an der Zersplitterung der Protestlandschaft. Um an 1995 anzuknüpfen, muss es den Gewerkschaften gelingen, weit über ihre Basis hinaus und über viele Berufsgruppen hinweg zu mobilisieren. Können die Gelbwesten mit ins Boot geholt werden, könnte ein solcher Zusammenschluss gelingen. Vor allem dann, wenn diejenigen wiedergewonnen werden, die sich wegen der Gewaltbereitschaft eines kleinen Kerns von den Protesten abgewandt haben. Gleichzeitig geht es für die Gewerkschaften darum, ihre einstige Rolle als Treiber des wirkungsvollen sozialen Protests wieder zu besetzen. Die Misserfolge vergangener Bewegungen (zum Beispiel gegen die SNCF-Reform 2018 oder die Reform des Arbeitsrechts 2016 und 2017) haben den Druck auf die chronisch mitgliederschwachen Organisationen erhöht, ihre Legitimität mit Erfolgen auf der Straße zu begründen.
Mit Dialog und Zeit das Spiel bestimmen
Mit zwei Strategien versucht die Regierung, einen zu großen Einfluss der Bewegung gegen die Rentenreform auf das Land zu vermeiden: Dialog ermöglichen und Zeit verschaffen. Eine frühzeitige Einbeziehung der Sozialpartner ist seit Macrons Vorgänger François Hollande ein wichtiger Schritt vor Reformen. Zuletzt kritisierten Gewerkschaften die Vorabstimmungen jedoch als Feigenblatt und warfen der aktuellen Regierung vor, ihre Forderungen nicht ausreichend zu berücksichtigen. Dadurch ist Vertrauen verloren gegangen, sogar bei der reformfreundlichen Gewerkschaft CFDT (Confédération française démocratique du travail). Auf deren Unterstützung für seine Reformvorhaben konnte Macron zunächst hoffen, war die CFDT schließlich die einzige Gewerkschaft, die eine Umstellung des Rentensystems nach Punkten befürwortete. Gewerkschaftschef Laurent Berger kündigte nun aber Widerstand an, wenn sich die Regierung für eine einseitig auf finanzielle Einsparungen ausgerichtete Reform entscheiden würde. Neben dem Dialog mit den Sozialpartnern hat die Exekutive als neues Element eine Konsultation der Bürgerinnen und Bürger eingeführt. Dies geht direkt auf die Proteste der Gelbwesten zurück. Über eine Online-Plattform und lokale öffentliche Debatten soll bis Anfang 2020 eine öffentliche Beteiligung ermöglicht werden, deren Ergebnis der Assemblée nationale übergeben wird und dann in den Gesetzgebungsprozess einfließen soll. Wie das sichergestellt wird, ist jedoch unklar.
Die Bürger-Konsultationen gehen direkt auf die Proteste der Gelbwesten zurück
Dieser Dialogprozess dient auch dazu, den Kalender zu entzerren und erst nach und nach ein genaues Bild der Reform zu geben. Zu zentralen Themen hat die Regierung bis jetzt nur vage Aussagen formuliert bzw. widersprüchliche Signale gegeben. Dass das Renteneintrittsalter steigen wird, gilt bis jetzt als gesetzt. Doch die genaue Höhe und Dauer der Einzahlung durch die Versicherten sind offen. Die gleiche Unschärfe umgibt die Zukunft der Sondersysteme. Das Duo Macron-Philippe zeigt sich entschlossen, ihnen ein Ende zu setzen und das gesamte Rentensystem zu vereinheitlichen. Aber auch hier ist offen, wann dies in Kraft treten wird. Die Reform könnte bald alle Versicherten betreffen oder erst zukünftige Beitragszahler, falls sich die Regierung für die sogenannte „Großvater-Klausel“ entscheiden sollte. Die Regierung setzt auf Zeit und möchte damit die Kritik der Reformgegner illegitim erscheinen lassen. In Macrons Worten: „Sie sagen mir, dass es eine massive Mobilisierung gegen eine Reform geben wird, deren genaue Bedingungen nicht bekannt sind“. Ob diese Strategie funktionieren wird, ist noch unklar. Bislang führt sie dazu, dass die Gewerkschaften der Regierung eine Verschleierungstaktik vorwerfen und in die Defensive gehen.
Kampf der Narrative
Das Stimmungsbild der Franzosen bezüglich der Reform und des Protests dagegen ist widersprüchlich. Rund zwei Drittel befürworten die Angleichung der verschiedenen Rentensysteme im öffentlichen und privaten Sektor. Gleichzeitig halten ebenfalls zwei Drittel die Protestbewegung gegen die Reform für gerechtfertigt. Dies deutet darauf hin, dass die Mobilisierung sich globaler gegen die Politik Macrons und seine Regierung richten könnte. In der Ungewissheit, welches Ausmaß die Proteste am 5. Dezember vorgeben werden, bemühen sich beide Seiten um die Delegitimierung des jeweils anderen.
In diesem Kampf der Narrative haben beide Seiten das gleiche Ziel: Sie wollen die stille Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger für sich gewinnen. Die Regierung setzt dabei auf zwei Argumente. Zum einen stellt sie das demokratische Verfahren und die dialogische Einbindung in den Vordergrund; zum anderen betont sie die egalitäre Ausrichtung der Rentenreform durch Abschaffung von Privilegien. Es gilt das Prinzip „teile und herrsche“: Im Regierungsnarrativ kommen die Reformgegner als Egoisten vor, die „Ungleichheiten erhalten“ wollen – wie der Präsident der Assemblée nationale es kürzlich sagte. Währenddessen kritisiert die Gegenseite den Verlust sozialer Errungenschaften und Intransparenz durch fehlende Informationen. Hier dreht sich das Narrativ um das Argument, dass die Reform zum Abbau des französischen Sozialmodells beiträgt – was implizit einer Bedrohung eines Pfeilers französischer Identität gleichkommt. Der vermeintlichen Unerlässlichkeit eines Anstiegs des Rentenalters setzen die Reformgegner den Stellenabbau in der öffentlichen Verwaltung als Faktor beim Anstieg des Defizits gegenüber.
In diesem unentschiedenen Kampf geht es um viel mehr, als nur um die Zukunft der Sondersysteme. Es geht darum, wie soziale Gerechtigkeit interpretiert und umgesetzt wird, um das zukünftige Machtverhältnis zwischen Protest und Politik und nicht zuletzt um die Handlungsfähigkeit der Regierung. Aufgrund der symbolischen Kraft der Rentenreform braucht Macron einen Erfolg, um sein Image als Macher und Reformer festigen zu können. Aufgeben ist daher keine Option. Auf der anderen Seite kann er es sich auch nicht erlauben, das Gesetz mit Zwang durchzusetzen und vor einer Blockade zu stehen. Was am Ende zählen wird ist, dass Macron überhaupt eine Reform auf den Weg gebracht hat, selbst wenn es bedeutet, dass diese hinter den ursprünglichen Ambitionen zurückbleibt.
Eine Reform mit europäischen Auswirkungen
Von einem Erfolg der Rentenreform hängt nicht nur die innenpolitische Glaubwürdigkeit Macrons ab, sondern auch seine Führungsrolle auf EU-Ebene. Der französische Präsident ist 2017 mit einer ehrgeizigen Reformagenda sowohl für sein eigenes Land, als auch für Europa angetreten.
Auf europäischer Ebene stärkt eine gelingende Rentenreform Macrons Überzeugungskraft
In europäischen Kreisen, wo die Idee eines unreformierbaren Frankreichs sich längst etabliert hatte, weckte insbesondere die Aussicht auf sozioökonomische Reformen innerhalb des Landes hohe Erwartungen. Auch und ausgerechnet deutsche Entscheidungsträger, die seit Jahren fehlende bzw. unzureichende Reformen im Nachbarland vermissen, haben mit Macrons Wahl die Hoffnung auf Veränderungen im französischen Sozial- und Wirtschaftssystem verbunden – und zwar parteiübergreifend. Umgekehrt wird nicht selten die deutsche Zurückhaltung gegenüber weiteren Integrationsschritten in der EU, wie Paris sie fordert, mit dem Mangel an Ernsthaftigkeit des französischen Partners in Bezug auf Reformen begründet.
Die Rentenreform ist für Macron deshalb eine Chance, sein Image als Reformer in Brüssel, Berlin und in anderen europäischen Hauptstädten zu polieren und sich somit wieder Vertrauenskapital zu verschaffen. Nach seinen Äußerungen, die Nato sei „hirntot“, und der angekündigten Annäherung mit Russland, könnte er dies gut gebrauchen. Außerdem ist die Amtseinführung der neuen Europäischen Kommission für Macron ein passender Zeitpunkt, um erneut für seine europäische Reformagenda zu werben. Sollte die Rentenreform gelingen, und zwar in einer ausreichend ambitionierten Form, würde dies Macrons Überzeugungskraft auf der europäischen Bühne stärken. So fordert vor allem Deutschland immer wieder erst Reformen in Frankreich als Bedingung für weitere Reformen in der EU. Doch die Rentenreform ist umgekehrt auch eine Gefahr: Ein Scheitern würde Macrons Glaubwürdigkeit unterminieren und somit seine europapolitische Handlungsfähigkeit beeinträchtigen. Eine weitere Polarisierung und Vertiefung sozialer Konflikte in Frankreich stärken zudem das Potential für rechtsextreme Wahlerfolge mit Auswirkungen auf die Demokratie auch über Frankreich hinaus. Beim Kampf um Narrative geht es also um weit mehr als eine Detailfrage französischer Innenpolitik.