Die Rede von Bundespräsident Joachim Gauck war eine Rede an und für die Bürger. Er hat damit Europa dorthin zurückgeholt, wo es seine Wurzeln hat – und haben muss.
Viele Europäer haben Europa in den vergangenen Jahren als Sache von Regierungen, von komplizierten vertraglichen Anpassungen, von Zahlenkolonnen und Akronymen à la „EFSF“ und „ESM“ erlebt und Europas Politiker unter Dauerstress und als Getriebene. „Es gibt Klärungsbedarf in Europa.“ Selbstkritisch hinterfragt er im nächsten Atemzug den von ihm geprägten Satz „Mehr Europa wagen“.
Kritiker werden ihm vorwerfen, dass er insgesamt zu wenig auf die Details der Reform der Eurozone eingegangen ist, auf die Schwächung der Parlamente, auf die Krise, die noch nicht überwunden ist. Gauck wird dies bewusst vermieden haben: Er zeichnet kein Bild von Europa, das sich in institutionellen Fragen und Krisendiplomatie erschöpft – und in einem Europa der Nationalstaaten. Ganz im Gegenteil stellt er die Bürger Europas in den Kontext eines republikanischen Verständnisses, das gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben ermöglicht: „Die europäischen Werte öffnen den Raum für unsere europäische res publica.“ Das ist ein neuer Akzent in der deutschen Europa-Debatte.
Junge Menschenerlebten bereits in ihrem heutigen Alltag mehr Europa als alle Generationen vor ihnen, sagte Gauck. An dieser Stelle hätte er noch stärker auch jene jungen Europäer ansprechen sollen, für die das europäische Versprechen von Wohlstand brüchig geworden ist.
Europa als ein Ort der Freiheit und des Friedens, der Demokratie und Rechtstaatlichkeit, der Gleichheit, der Menschenrechte und der Solidarität – dieser Wertekanon stehe auch heute nicht in Frage – der institutionelle Rahmen hingegen vielfach schon. Damit benennt Gauck Pole einer kontroversen Debatte, die noch in vollem Gange ist. Und er arbeitet sich implizit wohl auch am Mantra der „Alternativlosigkeit“ ab, das Bundeskanzlerin Merkel im Zuge der Krise mehrfach bemüht hat.
Den ersten Beifall erhält Gauck für seine klare Botschaft an die Bürger Großbritanniens: Wir respektieren, wenn ihr euch gegen Europa entscheidet. Aber wir wollen euch dabeihaben. Ihr habt den Frieden in Europa ermöglicht – „mehr Europa“ wollen wir daher nicht ohne euch bauen. Gauck sagt damit weit mehr, als von der Bundesregierung dazu bisher zu vernehmen war. Er öffnet die Debatte um „mehr Europa“ für all diejenigen, die „mehr Europa“ bisher als „mehr Brüssel“ oder „mehr Bürokratie“ abgelehnt haben. Mehr Europa – für Gauck heißt das mehr europäische Bürgergesellschaft.
Gauck will Angst nehmen – auch denjenigen, die sich heute noch, oder wieder, vor deutscher Dominanz fürchten. Er wählt eine Sprache, die Krisenrhetorik weitgehend ausblendet. Geduldig und umsichtig müssten die Schritte zur Stärkung Europas vermittelt werden. Hier klingt seine Mahnung an Bundeskanzlerin Angela Merkel aus dem vergangenen Jahr an: Wie kann ein demokratisches Europa aussehen, das den Bürgern die Ängste nimmt, auch, indem es ihnen Gestaltungsräume gibt?
Für Gauck ganz entscheidend: Europa kann nicht von oben dekretiert werden. Takt und Tiefe können allein vom europäischen Bürger bestimmt werden – damit liefert der Bundespräsident das klare Bekenntnis eines Demokraten, der die Bürger befähigen will, zu Bürgern Europas zu werden. Die Agora, der öffentliche Marktplatz, ist das Gegenbild zu Konferenztischen hinter verschlossenen Türen. Gauck sieht dabei eine wichtige Rolle für die Medien und fordert ein „Arte für alle“. Drei Botschaften hat er zuletzt für jeden einzelnen: Sei nicht gleichgültig. Sei nicht bequem. Erkenne Deine Gestaltungskraft.
Das ist keine übliche Europa-Rhetorik. An der Rede des Bundespräsidenten wird sich die Europa-Debatte über den Tag hinaus abarbeiten.
Almut Möller leitet das Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen im Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin.