Kommentar

11. Dez. 2015

Minimalkonsens in Nairobi

Ein Scheitern der Doha-Runde gefährdet die WTO

Nach vierzehn Jahren Verhandlungen im Rahmen der Doha-Runde ist auch auf der 10. Ministerkonferenz in Nairobi bei den grundlegenden Themen keine Einigung in Sicht. Um ihre handelspolitischen Interessen durchzusetzen, haben sich die großen Handelsnationen bereits mehr und mehr mega-regionalen Abkommen wie TTIP und TPP zugewandt. Doch scheitert die Doha-Runde endgültig, ist auch die WTO als Hüterin des Welthandels in Gefahr.

Zwischen Doha und Nairobi liegen, je nach Betrach­tungsweise, entweder rund 3 350 km Luftlinie oder aber vierzehn Jahre frustrierender Verhandlungen über die Doha-Entwicklungsrunde der Welthandelsorganisation (WTO). Die multilateralen Verhandlungen begannen im November 2001 und haben bislang nur minimale Ergebnisse gebracht. Und auch auf der 10. Ministerkonferenz in Nairobi im Dezember 2015 ist keine Änderung in Sicht. Die Uneinigkeit der zentralen Handelspartner führt dazu, dass sich ein mögliches Minimal-Abkommen auf drei Bereiche beschränken wird: strengere Bestimmungen zum Exportwettbewerb im Agrarhandel, ein Paket von Entwicklungsthemen, die vor allem die am wenigsten entwickelten Länder betreffen und verbesserte Transparenz bei staatlichen Regulierungen. Die entscheidenden Themen – Agrarhandel, Marktzugang von Industriegütern (NAMA) und Dienstleistungen – werden erneut nicht behandelt.

Warum fällt ein erfolgreicher Abschluss der Doha- Verhandlungen so schwer? Von höchster politischer Ebene wird immer wieder betont, die multilaterale Runde sei der Königsweg der Handelsliberalisierung. Zuletzt erklärte die Gruppe der 20 „systemisch wichtigen“ Indus­trie- und Schwellenländer (G20) auf ihrem Gipfeltreffen in Antalya im November 2015, dass sie sich verpflichtet, das Treffen in Nairobi zu einem Erfolg zu machen und zu ausgeglichenen Ergebnissen in der Doha-Runde zu kommen.[1] Die wesentlichen Akteure wie USA, EU, Japan, China, Indien und Brasilien sind allesamt Mitglieder der G20 und stehen hinter der Erklärung.

Sind dies alles nur Lippenbekenntnisse? Offensicht­lich ja. Seit Juli 2008 – nach Auseinandersetzungen zwi­schen Indien und den USA über Schutzmechanismen im Agrarbereich – sind die Verhandlungen über die zentralen Themen so gut wie blockiert. Die wenigen Fortschritte, die bislang erzielt wurden, waren nicht ambitioniert genug und betrafen nicht die zentralen handelspoliti­schen Interessen der Industrie- und Schwellenländer, um ausreichend politische Unterstützung zu erhalten. Aus diesem Grund schafften es die 162 WTO-Mitglieder im Rahmen der Doha-Runde bislang lediglich, sich auf Ent­wicklungsthemen zu einigen. Dies war auf Bali (2013) der Fall und wird sich voraussichtlich in Nairobi wiederholen.

Wo liegen die Ursachen für diese Lähmung? Kurz gesagt: Die Schwellenländer fordern weitreichende Zugeständnisse der Industrieländer im Agrarbereich – im Gegenzug für ihre eigenen Zusagen in den Verhandlun­gen der Uruguay-Runde. Dabei geht es um den Abbau von Zöllen und Subventionen der großen Industrieländer, allen voran die USA und EU. Erst danach wollen die Entwicklungs- und Schwellenländer ernsthaft über den Marktzugang von Industriegütern und Dienstleistungen verhandeln, bei denen die Industrieländer offensive Interessen haben.

Eine Einigung wird zusätzlich erschwert, weil sich der globale Handel seit Beginn der Runde 2001 grundlegend gewandelt hat: So haben die USA im Oktober 2015 die Transpazifische Partnerschaft (TPP) mit elf Asien-Pazifik-Staaten abgeschlossen. Dieses Abkommen behandelt eine Vielzahl von neuen Bereichen wie Wettbewerb und In­vestitionen (die sogenannten die Singapur-Themen), aber auch neue Themen wie öffentliches Auftragswesen, den Umgang mit Staatsunternehmen oder Arbeits- und Um­weltstandards, die (noch) nicht Teil des WTO-Regelwerks sind. TPP befriedigt somit viele handelspolitische Interes­sen der USA. Der amerikanische Botschafter bei der WTO, Michael Punke, betonte, dass die US-Politik pragmatisch sei: „Die USA nutzen alle Foren und auch das Wechsel­spiel zwischen ihnen, und schauen, wo sie am meisten erreichen können“.[2] Infolgedessen sind die USA sehr viel unnachgiebiger, was die Verhandlungen der Doha-Runde betrifft. Sie betonen immer wieder, dass die Vertragsent­würfe von 2008 nicht mehr Grundlage für ein Abkommen sein könnten. Dazu fordern sie, dass das Prinzip Sonder­behandlung (special and differential treatment) nicht mehr auf alle Entwicklungsländer in der WTO anwendbar sei, da es nicht den Aufstieg von Schwellenländern wie Indien und China berücksichtige.

Bei dem Tauziehen um Zugeständnisse im Rahmen der Doha-Runde denken die meisten Länder an China. Doch das Land hat bislang keine Führungsrolle in den Verhandlungen übernommen und verweist darauf, dass es für seinen Beitritt 2001 bereits viele Reformen akzep­tierte. Indiens Rolle in den Verhandlungen ist wiederum rein an nationalen Interessen orientiert. Im Namen der Nahrungsmittelsicherheit war Indien sogar bereit, den zarten Kompromiss von Bali und die Glaubwürdigkeit der WTO als Organisation aufs Spiel zu setzen. Und wo steht die EU? Sie verhandelt die Transatlantische Han­dels- und Investitionspartnerschaft mit den USA (TTIP) und ein Abkommen mit Japan. Beide gehören zu einer neuen Generation von Handelsabkommen, die weit über klassische Marktzugangsthemen hinausgehen und auch neue Themen außerhalb des WTO-Regelwerks umfassen. Die EU versucht jedoch, als Mittler aufzutreten und die Doha-Runde entgegen aller Erwartungen erfolgreich abzuschließen.

Doch es sieht nicht gut aus für Nairobi und die Doha-Runde. Trotz der immer näher rückenden Frist ist kein Kompromiss in Sicht. WTO-Generaldirektor Roberto Azevedo teilte daher im Oktober den G20-Ministern in Istanbul mit, dass es einen Konsens gebe, dass das Nairobi-Paket – wie auch immer es am Ende aussehe – nicht ausreiche, um es als Abschluss der Doha-Runde zu präsentieren. Die WTO-Mitgliedstaaten sind sich uneinig, was nach Nairobi passiert: Einige Länder sind der Ansicht, dass die Doha-Runde so lange verhandelt wird, bis es einen Konsens gibt. Andere sehen ein Scheitern von Nairobi als endgültiges Scheitern der Doha-Runde.

Wie soll es weitergehen? Aufgrund der veränderten geopolitischen Situation ist es nicht absehbar, dass sich die großen Handelspartner kompromissbereiter zeigen werden. Möglicherweise gibt es 2016 noch die Chance, dass China mit der Übernahme der G20-Präsidentschaft eine aktivere Haltung in den Verhandlungen einnehmen wird und den Abschluss der Runde als Erfolg verbu­chen will. Darauf kann man sich jedoch nicht verlassen. Wahrscheinlich wird man sich damit abfinden müssen, dass die Zeit (noch) nicht reif ist für eine weitere multi­laterale Liberalisierungsrunde. Daher wäre es sinnvoll, die Doha-Runde nach dem Minimalkonsens von Nairobi abzubrechen und darauf zu hoffen, dass die Entwicklung von großen regionalen Abkommen, an denen kein großes Schwellenland beteiligt ist – mit Ausnahme Chinas bei der Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) –, wieder Interesse an multilateralen Regeln weckt. Eine neue Runde wird dann wohl weniger umfas­send ausfallen und wird auch die neuen Handelsregeln berücksichtigen müssen, zum Beispiel den digitalen Handel oder Wertschöpfungsketten. Bis dahin werden weitergehende Liberalisierungen auf plurilateralem, bilateralem und unilateralem Weg erfolgen.


[1] Vgl. G20 Leaders’ Communiqué, Antalya, Turkey, 16.11.2015.

[2] Sherman Katz, Whither the World Trade Organi­sation? Perspective of Key WTO Ambassadors on Current Challenges in Global Trade Talks, ECIPE Policy Brief Nr. 4, 2015.

Bibliografische Angaben

Schmucker, Claudia. “Minimalkonsens in Nairobi.” December 2015.

DGAPstandpunkt 9, 11. Dezember 2015, 3 S.

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