Kommentar

03. Nov. 2022

Massive Angriffe auf die zivile Infrastruktur

Energieversorgung in Ukraine gefährdet
Firefighters conduct work after a Russian attack targeted energy infrastructure in Kyiv
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Die ukrainische Energieinfrastruktur ist strukturell geschädigt und die russischen Angriffe dürften weitergehen. Aber die Moral der Bevölkerung wird wahrscheinlich nicht brechen.

 

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Russland nimmt weiterhin die zivile kritische Infrastruktur der Ukraine unter Beschuss - vor allem Kraftwerke sowie Strom- und Heizungsnetze. Seit dem 10. Oktober finden fast täglich Luft- und Raketenangriffe sowie Angriffe durch Drohnen aus iranischer Produktion statt.

Ukraine verzeichnet große Schäden durch russische Angriffe

Nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj haben die russischen Angriffe bereits rund 40 Prozent der ukrainischen Energieinfrastruktur beschädigt. Neben Kiew sind auch mehrere Großstädte im ganzen Land betroffen: unter anderen Odessa, Tscherkassy, Riwne, Czernowitz, Lutsk, Charkiw.

Mit den Angriffen auf die Umspannwerke scheinen die Russen das Ziel zu verfolgen, das ukrainische Energiesystem zu zerstören, sodass eine Region der anderen nicht mehr helfen kann und die unterschiedlichen Belastungen des Systems nicht mehr ausgeglichen werden können.

Die Schäden in der Region Kiew und in vielen anderen Teilen des Landes sind so groß, dass die einzige Möglichkeit, das Stromnetz zumindest auf einem Mindestniveau funktionsfähig zu halten, in der Einführung geplanter, rotierender Stromausfälle besteht. Die künstliche Senkung des Verbrauchs trägt zum Gleichgewicht des Netzes bei und erleichtert die Wartung. Ein erheblicher Kollateralschaden ist, dass ohne Strom auch die Wasserversorgung nicht funktioniert, ebenso wenig wie Heizsysteme.

Reparaturen sind schwierig und gefährlich

Besonders schwerwiegende Probleme bereiten die Angriffe auf Transformatoren und Umspannwerke. Diese Anlagen sind meist individuell für die örtlichen Gegebenheiten ausgelegt und ihr Austausch ist sowohl kostspielig als auch zeitaufwändig. Außerdem war der ukrainische Energiesektor noch nie zuvor mit derart umfangreichen Schäden konfrontiert: Die personellen Ressourcen sind begrenzt, Ersatzteile sind knapp, und die Arbeit an den beschädigten Netzen ist gefährlich, da das Risiko neuer Attacken weiterhin besteht.

Litauen und Frankreich haben bereits Hilfe bei der Wiederherstellung der beschädigten Energieinfrastruktur zugesagt, ebenso wie die Europäische Union. Energiekommissar Kadri Simson besuchte Kiew am 1. November und sagte Hilfe auf EU-Ebene zu. Da die russischen Angriffe jedoch weitergehen, braucht die Ukraine mehr Hilfe als bisher zugesagt und dies schnell, denn der Winter steht vor der Tür.

Unverhohlener Versuch russischer Erpressung

Die russische Strategie ist klar und unverhohlen: Moskau will die ukrainische Regierung zwingen, sich den russischen Forderungen zu beugen und die "Annexion" der vier Regionen durch Moskau Anfang Oktober anzuerkennen. Der frühere Präsident Dmitri Medwedew scheute sich nicht, offen zu erklären, dass sich die Situation der Energieversorgung verbessern wird, wenn die Ukraine die Ansprüche Russlands anerkennt.

Russland hofft auf mehr Waffen aus dem Iran

Moskau scheint über einen ständigen Nachschub an Drohnen aus iranischer Produktion zu verfügen, auch wenn Russlands eigene Bestände an Präzisionswaffen immer kleiner werden. Darüber hinaus werden sich die Angriffe höchstwahrscheinlich verschärfen, sobald auch ballistische Raketen aus iranischer Produktion in den Krieg eintreten werden.

Da diese Raketen viel schneller sind als die bisher eingesetzten Drohnen und Marschflugkörper, kann die ukrainische Luftabwehr sie kaum aufhalten. Der Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, Jurij Ihnat, gab am 1. November offen zu, dass die Ukraine gegen die iranischen Raketen über keine Mittel zur Verteidigung verfügt.

Russische Bombardements dürften strategisches Ziel verfehlen

Trotz all des Leids, das der ukrainischen Zivilbevölkerung bevorsteht, ist es höchst fraglich, ob die russische Strategie, die Ukraine im Wesentlichen aus dem Krieg herauszubomben, funktionieren wird. Die Militärgeschichte zeigt, dass es unwahrscheinlich ist, dass das Leiden der Zivilbevölkerung die jeweilige Regierung zur Kapitulation zwingt, egal wie hart eine Bevölkerung mit konventionellen Mitteln angegriffen wird.

Weder die Angriffe Nazi-Deutschlands auf das Vereinigte Königreich im Zweiten Weltkrieg noch die Massenbombardierungen deutscher Städte durch die Alliierten oder die verheerenden US-Luftangriffe auf japanische Städte führten zu einem unmittelbaren politischen Wandel. Auch die US-Angriffe auf die vietnamesische Zivilbevölkerung waren unter diesem Gesichtspunkt erfolglos.

In Anbetracht der extrem hohen Moral der ukrainischen Bevölkerung - jüngsten Umfragen zufolge sind etwa 86 Prozent der Ukrainer der Meinung, dass sich die Dinge im Allgemeinen in die richtige Richtung entwickeln - ist es wahrscheinlicher, dass die Verschlechterung der Energieinfrastruktur zu einer neuen Migrationswelle in Gebiete führen wird, in denen der Winter überlebt werden kann, aber nicht zu einem Zusammenbruch der Kampfbereitschaft. Die Bevölkerung wird sicherlich leiden, aber höchstwahrscheinlich wird sie diese Härteprüfung bestehen.

Bibliografische Angaben

Rácz, András, and Christian Mölling. “Massive Angriffe auf die zivile Infrastruktur.” German Council on Foreign Relations. November 2022.

Dieser Artikel ist zunächst auf ZDF heute am 2. November 2022 erschienen.

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