Kernpunkte
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Emmanuel Macrons Partei La République en Marche (LREM) mag zwar die Mehrheit in der Nationalversammlung (Assemblée nationale) stellen und zweitstärkste französische Partei im Europaparlament sein, ist bislang aber noch nicht bei Kommunal- und Regionalwahlen angetreten. Gerade diese sind aber notwendig, um sich in der politischen Landschaft des Landes zu verankern. Eine Wahlniederlage muss Macron vermeiden, um seine Dynamik als Reformer wieder zurückzuerlangen: Immer noch lehnt eine Mehrheit der Franzosen die aktuell debattierte Rentenreform als Herzstück von Macrons Reformagenda ab; seine Zustimmungswerte sind niedrig.
Seit Macrons Sieg im Mai 2017 ist die Kommunalwahl die erste landesweite Abstimmung in Frankreich – klammert man die einer anderen Logik folgende Europawahl aus. Mithilfe ihrer Verankerung auf der lokalen Ebene setzen Sozialisten und Konservative auf ein Comeback, während Marine Le Pens rechtspopulistisches Rassemblement national (RN) versucht, mit einem starken Abschneiden ihre Rolle als einziger echter Konkurrent zu Macrons LREM zu verfestigen. Die Kommunalwahl wird einen Hinweis darauf geben, ob die Verschiebungen in Frankreichs politischer Landschaft dauerhaft sind und Macrons politisches Kalkül aufgeht: Den Niedergang der traditionellen Linken und der Konservativen zu beschleunigen, um mit einer neuen Allianz gemäßigter Linker, Liberaler und Konservativer gegen die radikale Rechte anzukommen.
Davon hängt der politische Kurs der zweiten Hälfte von Macrons Amtszeit ab: Ein Erfolg bei der Kommunalwahl würde seine Legitimität und die seiner Regierung stärken; er würde sie ermutigen, auf Kontinuität zu setzen und den Reformkurs trotz Protesten fortzusetzen. Eine Wahlniederlage würde das Reformtempo bremsen und Macron könnte versuchen, mit Themen wie Migration und Umwelt sein Profil als Beschützer der Nation zu schärfen.
VERTRAUENSKRISE UND DEMOKRATIEKRITIK
Beinahe drei Jahre nach seinem Amtsantritt fällt Macrons bisherige Bilanz für ihn erfreulich aus: Die Konkurrenz der traditionellen Parteien scheint kaum noch eine ernsthafte Frage zu sein, nachdem die Konservativen und Sozialisten bei den letzten Europawahlen teils deutlich unter zehn Prozent lagen. Wirtschaftlich hat sich der Aufwärtstrend Frankreichs bestätigt. Die Arbeitslosenquote von 8,1 Prozent ist so niedrig wie zuletzt vor elf Jahren und das Land belegt den zweiten Rang in Europa für internationale Investitionen (vor Deutschland).
Trotzdem finden die Kommunalwahlen in einem für Macron schwierigen gesellschaftlichem Klima statt. So assoziieren viele Franzosen den Aufschwung nicht mit dem Präsidenten: Nur 37 Prozent bewerten seine Wirtschaftspolitik positiv; 77 Prozent finden, Macrons Politik gehe an den Sorgen der Franzosen vorbei. Zahlreiche Protestbewegungen von den Gelbwesten über die Mobilisierung gegen die Rentenreform und große Kontroversen über Themen wie Polizeigewalt prägen die öffentlichen Debatten.
Macron nutzte 2017 die Vertrauenskrise der traditionellen Parteien und besetzte als Quereinsteiger eine sich öffnende Lücke im politischen Angebot: Die Linke hatte sich unter François Hollande (2012 bis 2017) so sehr zerstritten, dass sie nicht als geeinte Kraft anzutreten vermochte. Stattdessen fand eine heimatlose linke Mitte in Macron ihren neuen Hoffnungsträger. Hinzu kamen all jene, die auf einen politischen Neustart jenseits „des Systems“ hofften. Als ehemaliger Regierungsberater und Minister war er zwar schon damals Teil davon, aber er gehörte zu keiner Partei und erreichte dadurch sehr unterschiedliche Wählergruppen.
Nach Macrons Wahl ereilten die Républicains ein ähnliches Schicksal wie zuvor die Sozialisten: Mit Édouard Philippe besetzte Macron nicht nur den Posten seines Premierministers mit einem Konservativen. Auch die politische Agenda folgte eher einer konservativen als sozialdemokratischen Programmatik, beispielsweise in den Bereichen Steuerpolitik, innere Sicherheit oder bei der Rentenreform. Das Ergebnis einer Oppositionspolitik ohne Angriffsfläche sind Spaltungen und Lähmungen der Républicains.
Viele Franzosen assoziieren den Aufschwung nicht mit Macron: Nur 37 Prozent bewerten seine Wirtschaftspolitik positiv.
Inzwischen hat Macron seinen Status als Newcomer verloren und ist selbst zum Hauptziel der Elitenkritik geworden. Schließlich versprach er nicht nur ein bestimmtes politisches Angebot, sondern auch flache Hierarchien und Mitgestaltung an der Basis, die dem Wunsch vieler Franzosen nach mehr demokratischer Beteiligung entsprachen. Macrons tatsächlicher Führungsstil ließ aber keinen Raum für Basisdemokratie, sei es innerhalb der Bewegung selbst oder im Dialog mit Sozialpartnern.
Wie massiv Macron die Erwartungen der französischen Gesellschaft unterschätzt hatte, zeigt die Gelbwesten-Bewegung und ihre Nachwirkungen. Ein Großteil der Protestierenden war bisher unsichtbar im politischen Leben: oft Nichtwähler, selten Partei- oder Gewerkschaftsanhänger, kaum protesterfahren. Diese plötzliche Eruption erschütterte Frankreich. Das Sofortprogramm von sozialen Investitionen und ein Gesprächsangebot über Bürgerdialoge konnte sie nur höchst provisorisch einhegen.
Die aktuellen Proteste gegen die Rentenreform entsprechen zwar wieder einer für Frankreich klassischen sozialen Bewegung mit einer zentralen Rolle der Gewerkschaften, doch sind die Abgrenzungen fluide: Viele Teilnehmer berufen sich auf eine generelle Unzufriedenheit, Angst vor sozialem Abstieg und Kritik am Regierungsstil Macrons, die auch die Gelbwesten so stark gemacht haben. In Zukunft werden sich Wahlenthaltung und das Votum für radikale Parteien wahrscheinlich weiter verstärken und das demokratische Gefüge noch instabiler machen sowie die Basis für gesellschaftlichen Konsens noch kleiner.
Zwischen 2007 und 2017 stieg die Enthaltung beim zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen von 16 auf 25,4 Prozent; bei Parlamentswahlen im gleichen Zeitraum von 40 auf 57,3 Prozent. Ungültig abgegebene Stimmen sowie als Ausdruck des Protests leer abgegebene Wahlumschläge („vote blanc“) stiegen im selben Zeitraum von 4,2 auf 11,5 Prozent.
Die Kommunalwahlen könnten aufgrund ihrer lokalen Verankerung die Demokratie von unten wieder stärken. Zum einen, da lokale gewählte Vertreter, insbesondere Bürgermeister, immer noch diejenigen politischen Amtsträger sind, denen die Franzosen das meiste Vertrauen entgegenbringen. Zum anderen, da auf kommunaler Ebene demokratische Experimentierräume entstehen können. So verbreiteten sich in den vergangenen Monaten im ganzen Land sogenannte „listes citoyennes“ (Bürgerlisten). Dabei handelt es sich nicht nur um parteiunabhängige Wahllisten, sondern um Zusammenschlüsse, die in unterschiedlichem Maße direktdemokratische Instrumente umsetzen wollen, zum Beispiel, indem die Kandidaten per Losverfahren ausgewählt werden. Auch wenn sich diese Entwicklung zunächst lokal abspielt, wird Macron nicht umhinkommen, entsprechend darauf zu reagieren und die Forderung nach mehr Mitbestimmung ernstzunehmen.
DREI SZENARIEN FÜR MACRON
Verlässliche landesweite Wahlprognosen sind bei Kommunalwahlen schwierig. Zum einen variieren die Bedingungen von Stadt zu Stadt stark. In Paris ist die sozialistische Bürgermeisterin seit Wochen die Favoritin. In Marseille hingegen ist die Stimmung rechtsgeprägt, denn die beiden aussichtsreichsten Kandidaten sind von LR und RN. Macrons Partei ist wiederum in Städten wie Lyon oder Le Havre gut aufgestellt, wo – derzeitige oder ehemalige – Regierungsmitglieder auf den Bürgermeisterposten hoffen. Die Grünen haben in Städten wie Straßburg und Bordeaux Erfolgschancen. Zum anderen hängt das Gesamtergebnis von den Allianzen ab, die die Parteien zwischen beiden Wahlgängen schmieden werden. Diese Unbekannte zusammen mit der Zersplitterung der politischen Landschaft macht eine Prognose für das ganze Land schwierig. In Hinblick auf die gegenwärtigen politischen Machtverhältnisse sind drei Szenarien möglich.
Macrons Kalkül geht auf und LREM gewinnt lokale Mandate
Mit der Kommunalwahl könnte die République en marche die lokalen Mandate gewinnen, die ihr bis jetzt fehlen, um als etablierte Partei zu gelten und ihrem Anspruch auf eine Regierungsarbeit jenseits der aktuellen Legislaturperiode gerecht zu werden. Die LREM muss einige Großstädte erobern und zusätzlich genügend lokale Mandate in kleineren und mittleren Städten gewinnen. Die Partei hat sich zum Ziel gesetzt, 10.000 (von ca. 500.000) Mandate für Gemeinderäte zu erlangen und eine Ausweitung des RN im ländlichen Raum zu verhindern. Sollte es ihr gelingen, einen großen Teil der anvisierten Mandate zu gewinnen und somit ihre Präsenz außerhalb von wohlhabenden urbanen Regionen zu verankern, würde sie einen Erfolg feiern.
Sozialisten und Konservative erleben ein Comeback
Sozialisten und Konservative waren die großen Verlierer der letzten Wahlen, insbesondere für die Parti socialiste (PS) geht es nach der Krise um nichts weniger als um das Überleben. Die Kommunalwahl könnte beiden Parteien ermöglichen, gute Ergebnisse zu erzielen und somit diese negative Dynamik zu durchbrechen. Nachdem Macron 2017 einen Großteil der sozialistischen Wähler für sich vereinnahmen konnte, zählen diese zu den großen Enttäuschten 2020. Der PS könnte das helfen, gerade auf kommunaler Ebene wieder Präsenz zu zeigen. Noch stellen die Sozialisten Bürgermeister in etwa 200 Städten mit mehr als 10.000 Einwohnern und in zehn Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern sowie in Paris. Die Konservativen wiederum würden schon gewinnen, wenn sie ihre Hochburgen von Marseille, Bordeaux und Toulouse verteidigen sowie viele der 70 Städte mit mehr als 30.000 Einwohnern, die sie 2014 der PS weggenommen hatten. Verwirklicht sich dieses Szenario, würde das Macrons Strategie entkräften, die von Anfang an darin bestand, die Links-Rechts-Spaltung in Frage zu stellen. Macrons politische Autorität würde in den nächsten Jahren darunter leiden, dass sein Kalkül nicht aufgeht: Die Parteien, deren Niedergang er beschleunigt hat, würden wieder erstarken und als ernstzunehmende Opposition auftreten.
Der Rassemblement national gewinnt weitere Städte und etabliert sich als politische Alternative
Schon bei der letzten Kommunalwahl 2014 gelang der rechtsextremen Partei der Durchbruch: Die (damals noch) Front national, die seit 1995 in keiner Stadt mehr regiert hatte, siegte in zehn Kommunen, davon zwei mit über 50.000 Einwohnern. Bei der kommenden Wahl könnte der RN weitere Kommunen erobern, insbesondere im Norden und im Südosten des Landes, wo er seit Jahren kontinuierlich gute Wahlergebnisse erhält. Offiziell gibt sich Parteichefin Le Pen zwar bescheiden und setzt in erster Linie auf die Wiederwahl der amtierenden RN-Bürgermeister. Doch auch dies wäre mehr als nur Kontinuität. Zum einen würde der RN dadurch seine Vernetzung auf der lokalen Ebene festigen – eine Grundvoraussetzung für weitere Wahlerfolge. Zum anderen soll eine breite Wiederwahl die Partei als seriös und respektabel darstellen. Dazu gehört auch der ungewöhnlich sanfte Ton der Partei, die in diesem Wahlkampf versucht, Provokationen zu vermeiden und sich stattdessen verständnisvoll für den sozialen Unmut zeigt. Ob Kontinuität oder Zuwachs: Für Macrons Partei wäre dies ein Rückschlag, weil sie sich bei der Kommunalwahl zum Ziel gesetzt hat, den RN zu besiegen. Zudem nutzt der Präsident die Konfrontation mit Le Pen, um sich als Vertreter der liberalen Ordnung darzustellen.
Aufgrund der Vielfalt lokaler Situationen ist zu erwarten, dass sich die Szenarien miteinander vermischen. Das Traumszenario für Macron und seine Partei ist gleichzeitig das unwahrscheinlichste, so sehr wie seine Popularität unter der Rentenreform und der Verfestigung des Konflikts leidet. Zudem werden die Siegeschancen der LREM durch interne Spaltungen, Gegenkandidaturen aus den eigenen Reihen und eine Konkurrenzsituation mit dem Koalitionspartner MoDem in mehreren Städten gefährdet. Die Lektion der Kommunalwahl könnte heißen, dass die „alte Welt“, die Macron und sein Team auf dem Weg zur Macht verspotteten, nicht völlig verschwunden ist.
Ein gutes Ergebnis der beiden traditionellen Parteien PS und LR, die vermehrte Präsenz der Grünen sowie ein starker RN würden die dauerhafte zweifache Spaltung der französischen Parteienlandschaft festigen: Zum einen eine klassische Links-Rechts-Spaltung, die durch die Diskussion über die Rentenreform eine neue Kraft gefunden hat. Zum anderen die Spaltung zwischen Liberalismus und nationalem Rückzug, die die Auseinandersetzung zwischen Macron und Le Pen verkörpert. Das Ergebnis ist ein extrem kompetitives System mit unberechenbaren Wahlergebnissen.
PARIS IST EINE TROPHÄE
In einem zentralisierten Staat wie Frankreich hat die Hauptstadt einen symbolischen Wert: Ein Wahlsieg in Paris ist so viel wert wie mehrere mittelgroße Städte – und kann sogar schwache Ergebnisse in der Fläche kaschieren. Für LREM ist die Stadt umso wichtiger, da sie sich bis jetzt als zuverlässiges Wahlreservoir erwiesen hat. Dort erreichte Macron im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl eines seiner besten Ergebnisse (38 Prozent der Stimmen im Vergleich zu 24 Prozent im nationalen Durchschnitt). Auch bei der Europawahl 2019 erhielt seine Partei dort ein beachtliches Ergebnis (33 Prozent, 22 Prozent im nationalen Durchschnitt). Ein Sieg in Paris würde Macrons politische Autorität stärken.
Doch seit mehreren Monaten geht seine Partei in Paris von einem Misserfolg zum nächsten. Nicht nur die Dissidentenkandidatur vom Star-Abgeordneten Cédric Villani schadete die Glaubwürdigkeit der Partei. Auch der Verzicht von Benjamin Griveaux nach dem „Sextape“-Skandal und seine plötzliche Ablösung durch die Gesundheitsministerin Agnès Buzyn vermittelten das Bild einer destabilisierten Partei. In beiden Fällen mischte sich der Präsident in den Wahlkampf ein, sodass das Ergebnis zwangsläufig auf ihn abfärben wird.