Führungsloses Europa
Deutschland und Frankreich wurden von der Wiederwahl Donald Trumps kalt erwischt. Beide EU-Führungsmächte sind mit sich selbst beschäftigt. Olaf Scholz fehlt nach dem Aus seiner Regierungskoalition das Mandat, um zukunftsweisende Gespräche mit Trump zu führen. Der dürfte ohnehin wenig Sympathien für den Bundeskanzler haben, der im Wahlkampf Joe Biden unterstützte. Dass sich das Auswärtige Amt nach dem TV-Duell zwischen Kamala Harris und Trump über letzteren lustig machte, wird kaum helfen.
Emmanuel Macron ist auf den ersten Blick in einer deutlich besseren Ausgangsposition. Der französische Präsident kennt Trump, lud ihn 2017 als Ehrengast zu den Feierlichkeiten des 14. Juli ein. Macron war gewillt und geschickt darin, Trump zu schmeicheln, anders als Angela Merkel. Doch während Macron 2017, vor dem Hintergrund der ersten Trump-Wahl, selbstbewusst „europäische Souveränität“ forderte, blickt er heute pessimistisch auf die EU. Als „Vegetarier unter Fleischfressern“ fürchtet er um die Zukunft der Union, warnt vor dem „Tod“ des Projekts. Innenpolitisch ist er ähnlich schwach wie Scholz, eine Haushaltskrise droht und die Rechtspopulistin Marine Le Pen sitzt ihm im Nacken.
Selbstverzwergung und Scheinriesen
Innenpolitische Probleme verschärfen die außenpolitische Identitätskrise beider Länder. Deutschlands Zeitenwende, 2022 als Generationenaufgabe ausgerufen, wird mittlerweile vielfach wieder als exklusives Problem der Bundeswehr behandelt. Deutschland übt sich zudem in politischer Selbstverzwergung. Die Bundesrepublik ist, daran sei trotz aktueller Probleme erinnert, die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Für Wolfgang Ischinger, der als Architekt der Münchener Sicherheitskonferenz bis heute eine wichtige Stimme der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik bleibt, ist Deutschland trotzdem – wie alle EU-Staaten auf der Weltbühne – ein „Zwergstaat“.
Dem würde Emmanuel Macron vehement widersprechen. Er versteht sich als Präsident eines P-5 Staates, also eines permanenten Mitglieds des UN-Sicherheitsrats, mit eigener nuklearer Bewaffnung. Macron hat seit 2017 alles getan, um Frankreich wieder zu alter Größe zu führen. Eine neue europäische Sicherheitsarchitektur mit Russland sollte das unterstreichen, genauso wie die unabhängige Position zwischen China und den USA im Pazifik oder Frankreichs Einfluss als Regionalmacht in Westafrika und im Nahen Osten. All diese Initiativen sind gescheitert. Frankreich, so deutlich muss man es sagen, ist heute vielerorts ein nuklear bewaffneter Scheinriese.
Europäische Kompromisse finden
Berliner Selbstverzwergung und Pariser Selbstüberschätzung, zwischen diesen Extremen muss die EU nun in den kommenden Wochen eine Antwort auf Trump finden. Soll darüber hinaus langfristig die Vertiefung der EU-Integration gelingen, muss Frankreich mit Blick auf die missliche Lage Deutschlands seine Schadenfreude unterdrücken. In Deutschland wiederum muss der Mut gefunden werden, endlich das eigene geopolitische Gewicht zu mobilisieren. Weder Macron noch Scholz werden diese Entwicklungen zwar vollenden. Sie können aber heute eine Grundlage schaffen.
Der anstehende Bundestagswahlkampf sollte genutzt werden, um den Bürgern den Ernst der Lage deutlich zu machen. Dass europäische Lösungen auf absehbare Zeit über Paris führen, bevor sie andernorts Wirkung entfalten, bleibt dabei außenpolitische Faustregel. Friedrich Merz scheint das als aussichtsreicher Anwärter auf die Kanzlerschaft erkannt zu haben, das zeigen seine Kommentare der vergangenen Wochen. In Paris verknüpfen sich mit der CDU-Kandidatur deshalb viele Hoffnungen.
Alternative Transatlantiker
Gelingt es Deutschland und Frankreich nicht, eine gemeinsame europäische Antwort auf Trump zu formulieren, gibt es Alternativen – darin liegt ein großer Unterschied zu 2016. Andere europäische Staaten haben sich längst positioniert und über Botschaften, Think Tanks und informelle Netzwerke Kontakte zu Trump geknüpft. Neben dem traditionellen special relationsship der Briten und Polen, das dank sehr hoher Verteidigungsausgaben in Washington punktet, hat im europäischen Wettbewerb um die Aufmerksamkeit Trumps derzeit Victor Orban die Nase vorn. Ausgerechnet er, der als ungarischer Premier und aktueller EU-Ratspräsident in Europa als „völlig isoliert“ gilt, dürfte Trumps Blick auf den alten Kontinent prägen.
Abseits etablierter Gesprächskanäle und Institutionen sind alternative transatlantische Beziehungen im Entstehen begriffen. Sie haben nicht mehr die Verteidigung der „liberalen Demokratien“ und „regelbasierten Weltordnung“ zum Ziel, sondern die Rückkehr zu einer zivilisatorischen Definition des Westens. Die Vision ist nach innen gekehrt, will bewahren. Sie passt zum Zeitgeist und erfreut sich deshalb gerade bei jungen Wählern wachsender Beliebtheit.
Auch in Deutschland und Frankreich erstarken diese Kräfte zusehends. Die Zeit drängt.