Die Enthauptung des Lehrers Samuel Paty durch einen Tschetschenen am 16. Oktober in Paris ist eine dramatische Erinnerung an die fortdauernde Gefahr durch islamistisch motivierten Terrorismus in Europa. Zugleich wirft dieser Mord Licht auf einen weiteren und oft vernachlässigten Aspekt: die besondere Herausforderung, vor die nordkaukasische Islamisten Europa stellen.
Oftmals sind Islamisten aus dem Nordkaukasus und vor allem Tschetschenien besonders stark radikalisiert. Viele von ihnen haben in der Zeit beim Islamischen Staats (IS) in Syrien und dem Irak oder während der beiden Tschetschenienkriege (1994 bis 1996 und 1999 bis 2009) den Umgang mit Waffen gelernt. Aus Russland schlossen sich bis 2017 mindestens 4.000 Personen dem IS an, wofür auch russische Sicherheitsbehörden Verantwortung tragen. Sie hatten 2014 die Ausreise von Islamisten nach Syrien unterstützt und teils sogar gefördert, um dem durch islamistische und separatistische Aufstände und Anschläge gebeutelten Nordkaukasus „innenpolitische Erleichterung“ zu verschaffen.
Zur gleichen Zeit reisten auch aus Europa laut einer Europol-Studie viele Kämpfer mit tschetschenischen Wurzeln in das Kalifat. Fast alle sprechen ebenfalls russisch. Die 2.400 europäischen Ausreisenden tschetschenischer Herkunft vermögen sogar die starke Präsenz russischsprachiger Kämpfer im Gebiet des IS zu erklären. Der Global Terrorism Index beschreibt diese als die größte Gruppe ausländischer Unterstützer aus Ländern mit einer muslimischen Minderheit.
Durch das gemeinsame Engagement im Kampfgebiet des IS haben sich Netzwerke zwischen Nordkaukasiern aus Russland und Europa gebildet, welche vor allem seit dem territorialen Ende des IS die Sicherheitsbehörden beunruhigen. Für Kämpfer aus dem Nordkaukasus ist die Rückkehr nach Russland wenig attraktiv. Das harte Vorgehen der russischen Behörden gegenüber Rückkehrern und die verschärften Strafen für die Beteiligung an islamistischen Aufständen führen dazu, dass sich die früheren Kämpfer nach anderen Rückzugsorten umschauen.
Aufgrund von Verbindungen zu Nordkaukasiern, die schon während der Tschetschenienkriege als Flüchtlinge nach Europa kamen, sind Länder wie Belgien, Deutschland, Frankreich und Österreich zu bevorzugten Reisezielen nordkaukasischer Rückkehrer aus dem Irak und Syrien geworden. Über die Gesamtzahl der nach Europa eingereisten nordkaukasischen Islamisten existieren bisher keine Statistiken. Es gibt aber Beispiele eingereister Tschetschenen nach Europa, die sich von hier weiterhin an internationalen dschihadistischen Aktivitäten beteiligen, zum Beispiel durch das Rekrutieren von Kämpfern.
Die hohe Anzahl tschetschenischer Islamisten, ihre militärische Kampferfahrungen sowie eine in der europäischen Diaspora zu beobachtende weitere Radikalisierung und Abschottung von der übrigen Gesellschaft rechtfertigen einen eigenen Schwerpunkt in der Deradikalisierungsarbeit. Gerade der Nordkaukasus ist Westeuropäern wenig vertraut; das gilt für die Sprachen, die Kulturen aber auch die Geschichte der Region. Deswegen ist in den Bemühungen um Deradikalisierung und Resozialisierung eine speziell auf den Nordkaukasus ausgerichtete interkulturelle Weiterbildung der Berater unerlässlich. Diese muss über islamwissenschaftliche Expertise hinausgehen.
Es ist wichtig, den historischen Hintergrund, den Ursprung und die daraus resultierenden Motivationen dschihadistischer Extremisten aus dem Nordkaukasus zu verstehen, vor allem auch, was ihre Einstellung zum russischen Staatsapparat betrifft. Dschihadistische Aktivitäten im Nordkaukasus sind nicht nur mit islamistischer Motivation zu erklären, sondern vor allem als Kampf gegen die russische Regierung und ihre Unterstützer.
Inwieweit für Europa in Zukunft eine Zusammenarbeit mit den russischen Behörden zur Deradikalisierung von Rückkehrern möglich ist, bleibt angesichts der russischen Einstellung zu Ausreisenden und Rückkehrenden fraglich. Die Vermutung liegt nahe, dass Russlands Hauptinteresse auch weiterhin darin liegen wird, die Bedrohung aus dem eigenen Land herauszuhalten und so zu kontrollieren.
Auch wenn die Kooperation auf politischer Ebene schwierig ist, sollten Akteure in der europäischen Deradikalisierungsarbeit mit der nordkaukasischen Zivilgesellschaft zusammenarbeiten. Auf regionaler Ebene haben sich zivilgesellschaftliche Projekte herausgebildet, die europäischen Akteuren als Inspiration und Beispiel dienen können. Solche Projekte in Kaukasusrepubliken wie Dagestan oder Tschetschenien berücksichtigen die spezifischen Charakteristika nordkaukasischer Islamisten und können dem europäischen Umgang mit radikalisierten Personen aus Tschetschenien neue Impulse geben. Als hilfreich kann es sich auch erweisen, Tschetschenen – beispielsweise Imame oder auch bereits deradikalisierte ehemalige Kämpfer – an der Beratungsarbeit zu beteiligen.
Neben den Bemühungen um Deradikalisierung bleibt die Verfolgung von straffällig gewordenen Nordkaukasiern unerlässlich. Forderungen nach Ausweisung radikalisierter Islamisten, wie sie nach dem Mord an Samuel Paty von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erhoben wurden, sind dagegen kritischer zu sehen: Im besten Fall wird das Problem dadurch geografisch verschoben; im schlimmsten Fall vergrößert sich sogar die Bedrohung durch islamistischen Terrorismus für Europa. Bei Nordkaukasiern ist dank ihrer überdurchschnittlich guten Vernetzung mit internationalen Dschihad-Schauplätzen sowie ihrem hohes Ansehen unter Dschihadisten diese Gefahr besonders hoch. Europa muss das richtige Gleichgewicht zwischen strafrechtlichen Sanktionen und Deradikalisierungsarbeit finden. Dies ist der einzige Weg, die Gefahren dauerhaft zu verringern.