Analyse

13. Okt. 2021

Grenzenlose Mobilität in Europa

Die deutsch-französischen Grenzregionen sind am Zug
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Sie ist Grundlage für den grenzüberschreitenden Austausch ­zwischen Deutschland und hat durch die coronabedingten Einschränkung erneut an Bedeutung gewonnen: die Mobilität der Menschen in den Grenzregionen. Über die Notwendigkeit des Ausbaus bestehender Angebote herrscht zwar Einigkeit zwischen den Verantwortlichen. Gestritten wird allerdings über die Prioritätensetzung und Finanzierung. Entsprechende Verhandlungen werden zunehmend durch Institutionen der bilateralen Zusammenarbeit beeinflusst, die während der Pandemie ihren Platz in den deutsch-französischen Beziehungen gefunden haben.     

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Inhalt

#Einführung

#Grenzüberschreitende Kooperation als „kleine Außenpolitik“

#GRÜZ als Herzstück des Aachener Vertrags

#Grenzüberschreitende Mobilität zwischen Europas Hauptstädten und in den Grenzregionen

#Fazit

 

Executive Summary

  • Akteure aus den Grenzregionen sollten betreffende nationale politische Entscheidungen nicht mehr nur rückwirkend kommentieren, sondern sich aktiv in Entscheidungsfindungen einbringen können.
  • Deutschland und Frankreich sollten stärker für den Ausbau grenzüberschreitender Verbindungen mit europaweiten Infrastrukturplänen eintreten.
  • Beide Regierungen sollten sich gemeinsam für die Wiederbelebung europäischer Initiativen wie des „European Cross Border Mechanism“ (ECBM) einsetzen.

In den Diskussionen um den Bahnverkehr zwischen Deutschland und Frankreich spiegeln sich ­Konflikte wider, die die grenzüberschreitende Zusammen­arbeit beider Länder betreffen. Der Wille, Streckennetze und Angebote sowohl zwischen den Hauptstädten als auch zwischen grenznahen Kommunen auszubauen, wird seit Jahrzehnten auf allen E­­benen betont: von den Gebietskörperschaften in unmittelbarer Grenznähe  über die regionalen Hauptstädte bis in die nationalen Hauptstädte. Zuletzt hat auch der Ausbau des Schienennetzes zwischen den Mitgliedsstaaten der EU große politische und mediale Aufmerksamkeit erzeugt. Im Kampf gegen den Klimawandel und dank politischer Prioritäten wie der Verkehrswende sind bessere Zugverbindungen eine Voraussetzung, um Bürgerinnen und ­Bürger zum Umstieg zu bewegen und das Konzept „von der Straße auf die Schiene“ auch und gerade in der Grenzregion umzusetzen.

Die Reaktivierung von Europas Nachtzug­verbindungen, etwa zwischen Berlin und Paris, trifft dabei einen Nerv. Angesichts der Begeisterung für Verbindungen zwischen den europäischen Hauptstädten hoffen auch die Befürworterinnen und Befürworter kleinerer Streckenabschnitte im Grenzgebiet auf mehr politische Aufmerksamkeit. Diese Hoffnung speist sich auch aus den Erfahrungen, die deutsche und französische Bewohnerinnen und Bewohner der Grenzregion im vergangenen Jahr gemacht haben, als die Pandemie die Mobilität und den Austausch über Grenzen hinweg kurzzeitig fast vollkommen zum Erliegen brachte. Akteure grenznaher Gebietskörperschaften argumentieren, dass bereits Bruchteile der Investitionen für große Infra­strukturprojekte zum Ausbau des europäischen Schienennetzes – wie beispielsweise des Eisenbahntunnels zwischen Lyon und Turin – reichten, um viele grenzüberschreitende Strecken zu ­reaktivieren, zu ergänzen oder neu zu bauen. Die nationalen Regierungen wiederum verweisen auf ihre Verant­wortung für das gesamte Staatsgebiet, Mehrkosten für spezifische Anliegen der Grenzregionen müssten gerechtfertigt sein.

Im Ringen um politische Aufmerksamkeit und den Zugang zu finanziellen Ressourcen könnten zunehmend zwei neue Institutionen eine Rolle spielen, die im Zuge der Unterzeichnung des Aachener Vertrags geschaffen wurden: die Deutsch-F­ranzösische parla­mentarische Versammlung (DFPV) und der Ausschuss für grenzüberschreitende Zusammenarbeit (AGZ). Beide haben während der Covid-19-Pan­demie die Gelegenheit bekommen, ihr Profil zu schärfen und ihren Mehrwert für die Grenzregionen und die Hauptstädte unter Beweis zu stellen. Für den Bedarf einer besseren Abstimmung bieten die Mobilität in den Grenzregionen sowie der grenzüberschreitende Schienenverkehr zahlreiche Beispiele. Gelingt es, die sogenannten Missing Links zwischen den Grenzregionen sinnvoll mit Zugverbindungen zwischen den Hauptstädten und den Infrastrukturvorhaben auf europäischer Ebene zu verbinden, wäre viel gewonnen: für die grenzüberschreitende Mobilität, die Vernetzung Europas und den Kampf gegen den Klimawandel. Gelingt das nicht, droht Enttäuschung dort, wo der europäische Einigungsprozess lange am sichtbarsten war.

 

Einführung

Deutschland und Frankreich gelten als engste Partner in Europa. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit (im Folgenden „GRÜZ“) zwischen den Grenzregionen beider Länder ist eine fundamentale Säule dieser Beziehungen. Anlässlich der Bedeutung dieser Partnerschaft widmet sich die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. (DGAP) in einer dreiteiligen Publikationsreihe in Form von Fallstudien den aktuellen Entwicklungen an der deutsch-französischen Grenze. Den Rahmen dafür bildet das DGAP-Projekt „Monitoring der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in der deutsch-französischen Grenzregion“. Im vorliegenden ersten Beitrag der Reihe steht das Thema Mobilität im Vordergrund.

Verglichen mit ihrer Bedeutung muss festgestellt werden, dass die GRÜZ abseits der großen Gipfeltreffen nur selten eine breite mediale Aufmerksamkeit bekommt. Schafft sie es doch, geht es nicht selten um schlechte Nachrichten. Dies war während der Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 der Fall, als die Schlagbäume an vielen Stellen entlang der Grenze wieder fielen. Bilder einer schwer bewaffneten Bundespolizei, empörter Pendlerinnen und Pendler und getrennter binationaler Paare und Familien wurden in der überregionalen Presse thema­tisiert. Die Pandemie hat folglich an vielen Stellen noch einmal die wichtige Rolle deutlich gemacht, die Städte, Kommunen und Vertreter anderer lokaler und regionaler Gebietskörperschaften heute für die bilateralen Beziehungen spielen. Es wurde klar: Die GRÜZ hat im Alltag vieler Menschen auf beiden Rheinseiten konkretere Auswirkungen als viele deutsch-französische Gipfeltreffen.

Unser Monitoring der GRÜZ seit der Unterzeichnung des Aachener Vertrags beginnen wir mit einem Überblick zum Stand der grenzüberschreitenden Mobilität, genauer des Schienenpersonenverkehrs. Für 2021 hat die EU das „europäische Jahr der Schiene“ ausgerufen. Seit Jahren hält die Union die Mitgliedsstaaten zum Ausbau der grenzüberschreitenden Fernzugverbindungen an und unterstützt den Ausbau beziehungsweise Neubau sogenannter „Flaggschiff-Verkehrsinfrastrukturen“ . Auch die Regierungen Frankreichs und Deutschlands widmeten dem Ausbau grenzüberschreitender Schienennetzte zuletzt viel Aufmerksamkeit: Die Nachtzugverbindung zwischen Berlin und Paris ist als „europäisches Leuchtturmprojekt“ auch im Vertrag von Aachen festgeschrieben.

Über Flaggschiff-Infrastrukturen und Leuchtturmprojekte hinaus hoffen viele Bürgerinnen und Bürger in Europas Grenzregionen auf den Ausbau grenzüberschreitender Zugverbindungen. Vertreterinnen und Vertreter lokaler und regionaler Gebietskörperschaften bemühen sich um politische Aufmerksamkeit und finanzielle Mittel für den Bau neuer Infrastruktur, die Verbesserung bestehender Verbindungen und die Angleichung von technischen Standards und Dienstleistungen für eine reibungslosere grenzüberschreitende Mobilität.

Grenzüberschreitende Zugverbindungen haben es auch dank dieses Engagements auf die Liste prioritärer Vorhaben geschafft, die dem Aachener Vertrag angehängt wurde: So verspricht Punkt acht verbesserte grenzüberschreitende Bahnverbindungen. Dabei ist oft auf den ersten Blick nur schwer verständlich, warum diese Verbindungen technisch, wirtschaftlich und politisch so herausfordernd sind. Die vorliegende Analyse wird deshalb auf Fortschritte und weiter bestehende Hindernisse eingehen und dabei insbesondere die Rolle der Institutionen in den Blick nehmen, die der Aachener Vertrag 2019 neu geschaffen hat.

Grenzüberschreitende Bahnverbindungen und die sie betreffenden Diskussionen zeigen im Kleinen viele Probleme, die die GRÜZ insgesamt betreffen. Zwar hat der Ausbau des Schienennetzes zwischen den Mitgliedsstaaten der EU zuletzt viel Aufmerksamkeit aus Politik und Medien bekommen. Die Reaktivierung von Nachtzugverbindungen zwischen Europas Hauptstädten trifft in Verbindung mit dem Kampf gegen den Klimawandel einen Nerv. Doch droht angesichts der Begeisterung für die großen Verbindungen, zwischen Berlin und Paris oder Wien und Paris, in Vergessenheit zu geraten, dass in den Grenz­regionen Europas oft mit einem Bruchteil der Investitionen, die für die großen Korridore aufgewendet werden, Verbesserungen für die grenzüberschreitende Mobilität der Bewohnerinnen und Bewohner auf beiden Seiten der Grenze möglich wären.

Diskrepanzen zwischen EU-Infrastrukturvorhaben und politischen Leuchtturmprojekten auf der einen und dem Neubau oder der Reaktivierung grenzüberschreitender Streckenabschnitte auf der anderen Seite sind somit auch Ausdruck der unterschiedlichen Gewichtung, die zwischenstaatliche und grenzüberschreitende Initiativen in den Hauptstädten haben.

Die folgende Auseinandersetzung basiert auf Hintergrundgesprächen mit Politikerinnen und Politikern, Beamtinnen und Beamten sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die zwischen Juni und August 2021 geführt wurden. Informationen aus diesen Gesprächen sind in anonymer Form in die Analyse eingeflossen.

 

Grenzüberschreitende Kooperation als „kleine Außenpolitik“

Zum Auftakt der dreiteiligen Serie und zur Einordnung der folgenden Analyse wird eingangs auf die Entstehungsgeschichte der deutsch-französischen GRÜZ eingegangen sowie der wissenschaftliche Zugang zum Thema erläutert.

Geschichte der GRÜZ in der deutsch-­französischen Grenzregion

Das vierte Kapitel des Aachener Vertrags baut auf der langen Geschichte europäischer GRÜZ auf. In der Bundesrepublik entstanden erste grenzüberschreitende Kooperationsformate 1958 an der deutsch-niederländischen Grenze. Kurz darauf folgten ähnliche Initiativen auch an der deutsch-französischen Grenze, wo die GRÜZ bis heute in zwei großen Räumen stattfindet – der Oberrheinregion und der Großregion im Saar- und Moselbecken. In beiden Regionen sind neben Deutschen und Franzosen auch Vertreter von Drittstaaten involviert: am Oberrhein Schweizer Kantone, in der Großregion wiederum Luxemburg sowie belgische (wallonische) Bezirke.

Neben den entsprechenden Kooperationsformaten „Großregion“ und „Oberrheinkonferenz“ gibt es eine Vielzahl weiterer deutsch-französischer Vernetzungen: etwa den Eurodistrikt PAMINA, ein Kooperationsformat zwischen Südpfalz, mittlerem Oberrhein und nördlichem Elsass, sowie drei grenzüberschreitende Ballungsräume, den trinationalen Eurodistrikt Basel, den Eurodistrikt Straßburg-Ortenau und den Eurodistrikt Saar-Mosel.

Historiker heben im Rückblick die Bedeutung der GRÜZ für die Versöhnungspolitik der jungen Bonner Republik mit Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg hervor. Die Zusammenarbeit entlang der deutsch-französischen Grenze entsprang in den 1960er Jahren unterschiedlichen Motiven, abhängig von den jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten. In der Großregion etwa sahen sich Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft des Saarlandes, der französischen Region Lorraine und des Staates Luxemburg im Rahmen des Strukturwandels der Kohle- und Stahlindustrie mit ähnlichen Problemen konfrontiert. In der Oberrheinregion wurde die GRÜZ ursprünglich von der Schweizer Politik und Vertreterinnen und Vertretern lokaler Wirtschaftsinteressen vorangetrieben und folgte lange vor allem ökonomischen Interessen.

Dass die Gründung der privatrechtlichen „Regio ­Basiliensis“ 1963 im gleichen Jahr erfolgte wie die Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags („Élysée-Vertrag“) weist anekdotisch auf das Zusammenspiel zwischen GRÜZ und nationaler Außenpolitik hin. Die Kontakte, die Vertreter grenznaher Gebietskörperschaften entlang der Grenze in die Nachbarländer knüpften, kamen der bundesrepublikanischen Versöhnungspolitik, später auch europapolitischen Zielsetzungen zugute. Die Verknüpfung von Europapolitik, bilateralen Außenbeziehungen und zahllosen kleineren Kooperationsformaten entlang der rund 450 Kilometer langen Grenze spricht auch aus der „Hambacher Erklärung“. Diese wurde 2017 von Vertretern des deutschen und französischen Außenministeriums sowie der drei deutschen Bundesländer und der Region Grand Est verabschiedet und unterstreicht das historisch gewachsene Selbstbewusstsein in den ­Grenzregionen: „Die deutsch-französische Grenzregion ist ein ­Europa im Kleinen, ein konkretes, handlungsfähiges, innovatives und solidarisches Europa“.

GRÜZ ergänzt als „kleine Außenpolitik“ die bilateralen Beziehungen

Für die deutsche Diskussion hat die Historikerin Birte Wassenberg im Zusammenhang mit der GRÜZ das Konzept der „kleinen Außenpolitik“ geprägt. Wassenberg, die zwischen Straßburg und Kehl zur deutsch-französischen Zusammenarbeit forscht, grenzt ihr Konzept ausdrücklich von anderen, meist politikwissenschaftlichen Konzepten, ab. Ihr Ansatz ist auch von der „Nebenaußenpolitik“ zu unterscheiden. Diese beschreibt beispielsweise die außenpolitischen Aktivitäten deutscher Minister­präsidentinnen und Ministerpräsidenten, die zwar nicht mit der nationalen Außenpolitik konkurrieren, aber doch nach Möglichkeiten suchen, unabhängige Beziehungen ins Ausland zu pflegen. Im Jahr 2020 wurde diese Nebenaußenpolitik deutlich, als der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet sich in Berlin dafür einsetzte, die Grenzen zu den Niederlanden und Belgien trotz der Corona-Pandemie offen zu halten. Auch der bayerischen Staatsregierung sagten Berliner Regierungsbeamte im Zuge der Pandemiebekämpfung bessere Kontakte zur tschechischen Regierung nach als der Bundesregierung.

Trotz gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten und unterschiedlichen Prioritäten wurde der Mehrwert der GRÜZ in den nationalen Hauptstädten schnell erkannt. Die offizielle Integration der „kleinen Außenpolitik“ in die deutsch-französischen Beziehungen erfolgte 1975 mit der Unterzeichnung des Bonner Abkommens. Ausgehandelt von Diplomaten aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz, definierte das Abkommen den Geltungsbereich für die GRÜZ im Oberrheingebiet. Die Initiative war 1972 vom französischen Außenministerium ausgegangen, das angesichts sich häufender Anfragen zur GRÜZ eine zu große Unabhängigkeit grenznaher Gebietskörperschaften fürchtete. Die folgenden Delegations­treffen machten schon zu Beginn die großen ­Unterschiede im Umgang der nationalen Regierungen  mit der „kleinen Außenpolitik“ deutlich: Während Deutschland und die Schweiz auch durch Vertreter der Gebietskörperschaften im Oberrheingebiet repräsentiert  wurden, saßen auf französischer Seite zunächst ausschließlich Pariser Beamtinnen und Beamte am Verhandlungstisch.   

Hierzulande bringen sich subnationale Einheiten immer aktiver in die Außenbeziehungen ein. 2013 schrieb der damalige Oberbürgermeister der baden-württembergischen Grenzstadt Kehl Günther Petry anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Élysée-Vertrags über die Bedeutung, aber auch Schwierigkeiten der „kommunalen Außenpolitik“ für die GRÜZ. Das in vielen Gebietskörperschaften pandemiebedingt geschärfte Bewusstsein für die Rolle der grenzüberschreitenden Kooperation führt beispielsweise dazu, dass auf deutscher Seite vielfach von kommunalen Vertretern zu hören ist, dass dank eigener Gesprächskanäle und persönlicher Kontakte ins Nachbarland der Schaden für die deutsch-französischen Beziehungen begrenzt worden sei.

Wissenschaftliche Zugänge zur GRÜZ   

Entsprechend der unterschiedlichen Motive deutsch-französischer GRÜZ gibt es vielfältige wissenschaftliche Zugänge zum Thema. Eine kürzlich im Namen des Bundesministeriums des Inneren (BMI) veröffentlichte Studie unterscheidet drei wesentliche Forschungsinteressen:

1. Grenzregionen werden oft als „nationale Peripherien“ betrachtet, die auf Unterstützung aus den Zentren der Nationalstaaten angewiesen sind. Die Wissenschaft interessiert sich für die Bemühungen lokaler oder regionaler Mandatsträgerinnen und -träger, mehr Aufmerksamkeit in den nationalen Hauptstädten zu bekommen.

2. Die Literatur zur sogenannten „Mehrebenen-Governance“ betrachtet Grenzregionen nicht vordergründig als periphere Räume von

Nationalstaaten. Sie interessiert sich im Gegenteil für politische, wirtschaftliche oder kulturelle Gemeinsamkeiten, die Regionen auf beiden Seiten der Grenze verbinden sowie für die Frage, welche Konsequenzen sich daraus für die nationale Politik ableiten lassen.

3. Ergebnisse dieser beiden Forschungsansätze fließen in die Diskussion um „sekundäre Außenpolitik“ ein, die das Spannungsverhältnis zwischen grenzüberschreitender Kooperation und bilateralen diplomatischen Beziehungen in den Blick nimmt.

Tatsächlich ist die „periphere Lage“ in den Grenzregionen zwischen Deutschland und Frankreich ein häufiges Motiv für die GRÜZ. Durch die geographische Distanz zu den wirtschaftlichen und politischen Zentren des eigenen Landes nehmen sich Grenzregionen häufig als benachteiligt wahr. Gesprächspartner auf beiden Seiten der Grenze kritisieren, dass oft der Sitz der regionalen Regierung zu weit entfernt ist, um spezifische Anliegen der Grenzregionen zu verstehen. Vertreter lokaler und regionaler Gebietskörperschaften in deutschen Bundesländern beklagen, bereits in Stuttgart oder Mainz sei „die Distanz für Belange der GRÜZ spürbar“. Die detaillierte Kenntnis und ein echtes Verständnis für die spezifischen Probleme in den Grenzregionen fehlen somit. Abhilfe soll Vernetzung über die Grenze hinweg schaffen.

Ein konkretes Beispiel unterstreicht den Mehrwert der GRÜZ im Verhältnis der Grenzregionen zu nationalen Hauptstädten. Die nordöstlichen französischen Départements Meuse, Meurthe-et-Moselle und Moselle sind spärlich besiedelt und kämpfen seit Jahrzehnten mit den Folgen einer schwachen regionalen Wirtschaft. Zusammenarbeit mit deutschen Bundesländern ist für diese Regionen aber nicht nur aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten interessant. Sie bietet außerdem Gelegenheit, sich über Bezeichnungen wie „Eurodépartement“ oder Slogans wie „im Herzen Europas“ im nationalen Kontext neu zu positionieren – wenn auch nicht geographisch, so doch in der Debatte.

Für die Aktualität der Forschung zur Mehrebenen-Governance ist die Schaffung des Ausschusses für grenzüberschreitende Zusammenarbeit (AGZ) das beste Beispiel. Der Ausschuss bringt Vertreter grenznaher Gebietskörperschaften und grenzüberschreitender Kooperationsformate wie der Oberrheinkonferenz oder der Großregion mit Parlamentariern und Regierungsvertretern aus Deutschland und Frankreich an einen Tisch. Der Mehrwert des Formats wurde 2020 im Zuge der coronabedingten Einschränkungen des Grenzverkehrs zwischen Deutschland und Frankreich deutlich. Zuletzt hat der AGZ im Mai 2021 in Vorbereitung des Deutsch-Französischen Ministerrats (DFMR) Vertretern der Regierungen beider Länder Empfehlungen vorgelegt.

Ein weiteres Beispiel für die steigende Bedeutung grenzüberschreitender Governance ist die Raumplanung in der deutsch-französischen Grenzregion. Politische Entscheider werden von nationalen Raumplanern über wichtige Kennzahlen für das Staatsgebiet informiert. Raumplanung zählt zu den wichtigsten Hoheits­rechten moderner Nationalstaaten und findet ebenenübergreifend Anwendung, in Deutschland etwa in Bundesländern und Kommunen. Mit der zunehmenden Intensivierung der GRÜZ an den deutschen Außengrenzen hat der Bedarf nach grenzüberschreitender Abstimmung in den vergangenen Jahrzehnten massiv zugenommen. Häufig ergibt sich aber das Problem, dass die aktuellen Instrumente der Raumplanung, deren wichtigster Bezugsrahmen nationale Grenzen sind, den Realitäten grenzüberschreitender Planungsräume nicht mehr gerecht werden.

Grenzüberschreitende Zugverbindungen sind ein gutes Beispiel. Deren Nutzbarkeit hängt für die Bürgerinnen und Bürger in den Grenzregionen von politischen Entscheidungen beidseits der Grenze ab. Eine Gesprächspartnerin bedauerte etwa, Bewohnerinnen und Bewohner der Grenzregionen seien deutlich häufiger mit dem Auto unterwegs als anderswo. Oft fehlten Bus- oder Zugverbindungen als Alternative, da grenzüberschreitenden Strecken in den nationalen Planungen nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt werde. Die Raumplanung scheint auf diese Veränderungen nun zu reagieren. Das Aktionsprogramm „Modellvorhaben der Raumordnung“ (MORO) des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) untersucht aktuell die „Erprobung und Umsetzung innovativer, raumordnerischer Handlungsansätze […] mit Akteuren in den Regionen vor Ort“. Zwei Modellvorhaben gehen an der deutsch-französischen Grenze der Frage nach, „inwiefern eine Harmonisierung und Annäherung von verbindlichen Normen in der Planungspraxis der beiden Länder möglich und erforderlich ist“.

Das BBSR legt in der Projektbeschreibung großen Wert auf den Beitrag, den entsprechende Modellvorhaben für außenpolitische Ziele leisten. Experimente mit grenzüberschreitender Raumplanung trügen, so die dem Bundesinnenministerium (BMI) unterstellte Behörde, auch zur „Umsetzung des Aachener Vertrags“ bei. Die Zielsetzung des BBSR entspricht damit dem Vertragstext von Aachen, der zur Verbesserung der GRÜZ die Möglichkeit für „angepasste Rechts- und Verwaltungsvorschriften und Ausnahmeregelungen“ vorsieht. Tatsächlich könnte grenzüberschreitende Raumplanung in vielen Bereichen eine wichtige Rolle spielen, indem sie eine gemeinsame Datengrundlage schafft. Entsprechende Initiativen des BBSR reagieren auch auf Kritiker, die der GRÜZ lange die fehlende Datengrundlage und den „Mangel an konkreten Informationen zu Stärken, Schwächen und Potenzialen in den Grenzräumen“ vorwarfen.

 

GRÜZ als Herzstück des Aachener Vertrags

Der Aachener Vertrag trägt der historischen Bedeutung der GRÜZ für die bilateralen deutsch-französischen Beziehungen Rechnung und verspricht, GRÜZ in Zukunft weiter auszubauen. Im zweiten Teil der Analyse werden die wichtigsten institutionellen Neuerungen vorgestellt und erklärt, welchen Einfluss die Pandemie langfristig für die Grenzregionen haben könnte.

Die Pandemie als Stresstest für die neuen Institutionen des Aachener Vertrags

Der Wille, die GRÜZ zwischen Deutschland und Frankreich zu vertiefen, wird im vierten Kapitel des Aachener Vertrags zur „grenzüberschreitenden und regionalen Zusammenarbeit“ betont. Dort wird das langfristige politische Ziel formuliert, Gebietskörperschaften in der deutsch-französischen Grenzregion mit „angemessenen Kompetenzen, zweckgerichteten Mitteln und beschleunigten Verfahren“ auszustatten. Damit sollen „Hindernisse bei der Umsetzung grenzüberschreitender Vorhaben“ überwunden werden (Art 13., Abs. 2). Neben der Stärkung der Zweisprachigkeit ist die Verbesserung grenzüberschreitender Mobilität als prioritäre Zielvorgabe im Vertrag hervorgehoben. Der aktuelle Europastaatsminister des Auswärtigen Amts (AA) und Beauftragte der Bundesregierung für deutsch-französische Zusammenarbeit Michael Roth (SPD) sieht die GRÜZ als „Herzstück des Vertrags“.

Zwei Neuerungen sollen bei der zukünftigen Vertiefung der GRÜZ eine entscheidende Rolle spielen: Der AGZ und die sogenannten „Experimentierklauseln“. Laut Vertragstext soll der AGZ „nationale, regionale und lokale Gebietskörperschaften, Parlamente und grenzüberschreitende Einheiten wie Eurodistrikte […]“ um einen Tisch versammeln, um die grenzüberschreitende Raumbeobachtung zu koordinieren, Hindernisse in die Hauptstädte zu melden und Strategien zur Lösung bestehender Probleme zu erarbeiten. Der Ausschuss feierte im Januar 2020 seine konstituierende Sitzung. Schon kurz darauf musste er sich in der COVID-Pandemie als neue Plattform für deutsch-französisches Krisenmanagement beweisen. Die Experimentierklauseln sind seit der Unterzeichnung des Vertrags noch nicht angewendet worden. Mit beiden Instrumenten ist in der Grenzregion die Hoffnung verknüpft, in Berlin und Paris langfristig mehr Aufmerksamkeit für die spezifischen Bedürfnisse zu generieren, die sich aus der Nähe zu einer nationalen Außengrenze ergeben.

Ähnlich wie die deutsch-französische parlamentarische Versammlung (DFPV) hat der AGZ während der Covid-Pandemie schnell an Profil und politischem Gewicht gewonnen. Das AA, das den Ausschuss von deutscher Seite im Namen der Bundesregierung finanziert, urteilt selbst, der Ausschuss habe sich während der Pandemie als „sehr wertvolles Forum“ erwiesen, das „Akteure aller staatlichen Ebenen auf beiden Seiten der Grenze zusammenbringt“. Beschlüsse, bei den ebenenübergreifenden Treffen erarbeitet, werden anschließend an die jeweiligen Fachministerien in den Hauptstädten gemeldet. Ende Mai 2021 informierte der AGZ erstmals den deutsch-französischen Ministerrat. In Vorbereitung des Treffens der Regierungsvertreter beider Länder formulierte der Ausschuss eine Reihe von Empfehlungen für die GRÜZ, unter anderem auch zur grenzüberschreitenden Mobilität.

Aufmerksamkeit für die Grenzregionen – über die Ausnahmesituation hinaus

In den Grenzregionen wird größtenteils eine positive Bilanz zur bisherigen Arbeit des AGZ gezogen. Der Ausschuss ermögliche es, eine „direktere Stimme“ von der Grenze an die Regierungsvertreter in den Hauptstädten zu tragen. Konkret wird die Arbeit im AGZ, etwa für den grenzüberschreitenden Bahnverkehr, als „Anerkennung für kleine Verbindungen“ wahrgenommen, so der Vertreter einer deutschen Gebietskörperschaft. Mit diesem Urteil geht die Hoffnung einher, dass die „Praktiker vor Ort mehr Gewicht bekommen“. Oft erinnern die Einschätzungen zur Arbeit des AGZ in Pandemiezeiten an ähnliche Einschätzungen zur DFPV: Ein Forum, um der Stimme von Bürgerinnen und Bürgern aus den Grenzregionen mehr Gewicht zu verleihen und politischen Druck auf Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in den Hauptstädten aufzubauen.

Die Freude über das gestiegene Interesse an der GRÜZ in Pandemiezeiten weicht zunehmend Forderungen nach verbindlichen Rückmeldungen auf die eingereichten Vorschläge. Dass Vertreter grenznaher Gebietskörperschaften  in direktem Kontakt mit den zuständigen Europa-Staatssekretären der Außenministerien Deutschlands und Frankreichs stehen, findet in der Grenzregion große Zustimmung. Ein Gesprächspartner berichtet, es habe „eine ganz andere Wirkung“, wenn Probleme mit Grenzschließungen im direkten Gespräch mit Vertreterinnen und Vertretern der Ministerien in Berlin besprochen würden und diese nicht über ein bürokratisches Verfahren erreichten. Der direkte Gesprächskanal wird als Wertschätzung für lokale und regionale Perspektiven empfunden. Nun sei allerdings entscheidend, was über Bekundungen und Absichtserklärungen der Regierungen zum hohen Stellenwert der GRÜZ hinaus konkret passiere: Nur echte Fortschritte könnten den tatsächlichen Mehrwert des AGZ deutlich machen.

Unsicherheit herrscht in der Grenzregion darüber, wie es nach dem Ende der coronabedingten Ausnahmesituation mit dem AGZ weitergeht. Ähnlich wie bei der DFPV ist unklar, ob die Grenzregionen die Aufmerksamkeit aus Berlin und Paris auch über die Pandemie hinaus erhalten werden können. Die Rückkehr des AGZ, von seiner Rolle im akuten Krisenmanagement zu den ursprünglich im Aachener Vertrag festgeschriebenen Aufgaben, wird genau beobachtet. Nationale Regierungen werben in diesem Zusammenhang für Geduld für die neue Institution, die immer noch in der Findungsphase sei.

In die Erwartungshaltung mischen sich nach anfänglicher Euphorie vereinzelt auch Zweifel, wie nachhaltig der Mehrwert des AGZ sei. Zwischen vielen bereits existierenden Foren bestehe die Gefahr von Parallelstrukturen. Einige Gesprächspartner befürchten die zusätzliche Verkomplizierung der ohnehin schon wenig übersichtlichen institutionellen Landschaft der deutsch-französischen GRÜZ. Kritisiert wird, es sei noch immer nicht erkennbar, wie der AGZ mit anderen bestehenden Strukturen zusammenarbeiten wolle. Zuständigkeiten und Kompetenzen seien oft noch nicht klar definiert und müssten ad hoc verhandelt werden. Bei Fragen der grenzüberschreitenden Mobilität sei beispielsweise unklar, wie der AGZ mit entsprechenden Gremien der Oberrheinkonferenz zusammenarbeiten werde.

Die politische Aufmerksamkeit für Grenzregionen während der Pandemie war begrüßenswert – da sind sich alle Gesprächspartner einig. Langfristig gebe es aber einen großen Bedarf für die organisatorische Straffung der GRÜZ.

Europäische Experimente in der deutsch-­französischen Grenzregion

Die „Experimentierklauseln“ sind – neben dem AGZ – die zweite Neuerung des Aachener Vertrags in Bezug auf die GRÜZ. Dank der Klauseln soll es für bestimmte Projekte möglich sein, Ausnahmeregelungen von nationalem Recht zu erlassen. Artikel 13 des Vertrags sieht vor, dass, sofern kein bestehendes Rechtsinstrument die Überwindung von Hindernissen in der GRÜZ ermöglicht, auch „angepasste Rechts- und Verwaltungsvorschriften einschließlich Ausnahmeregelungen“ vorgesehen werden können.

Ähnlich wie beim AGZ verbinden sich auch mit den Experimentierklauseln große Erwartungen in den Grenzregionen. Juristinnen und Juristen sowie Beamtinnen und Beamte in den Landesverwaltungen melden allerdings Zweifel an, wie schnell der innovative Mechanismus tatsächlich zur Anwendung kommen wird. Dass die Experimentierklauseln bisher noch nicht genutzt wurden, liege an erster Stelle daran, dass Ausnahmeregelungen für die GRÜZ juristisches Neuland seien: Die Klauseln seien „kein klares Rechtskonzept“. Ein Vertreter einer Gebietskörperschaft aus der Grenzregion bedauert das „bislang ungenutzte Instrument“. Eine andere Gesprächspartnerin verweist auf die Sorgen von Verfassungsrechtlern vor den Auswirkungen der Klauseln über die Grenzregionen hinaus. Mit Blick auf mögliche Ausnahmeregelungen für grenznahe Betriebe berichtet sie von Sorge in den Ministerien auf Bundesebene, vor allem im Bundeswirtschaftsministerium (BMWi), dass in der deutsch-französischen Grenzregion „Sonderwirtschaftszonen“ geschaffen werden könnten.

Ein zweites Hindernis für Ausnahmeregelungen ist die bereits angesprochene „periphere Lage“ der Grenzregionen. In den Hauptstädten misst man vielen Projekten offenbar nicht genug Bedeutung bei, um das politische Risiko einer Ausnahmeregelung in Kauf zu nehmen. Ein konkretes Beispiel: Seit Langem engagieren sich Einwohnerinnen und Einwohner in der deutsch-französischen Grenzregion für die Organisation grenzüberschreitender Sportwettkämpfe. Für die Teilnahme an einem Marathon etwa muss in Frankreich ein ärztliches Attest vorgelegt werden, das die Unbedenklichkeit bescheinigt. Eine Entsprechung dieses Attests gibt es auf deutscher Seite nicht. Hier könnte eine Ausnahmeregelung scheinbar unkompliziert konkrete Fortschritte in der GRÜZ ermöglichen. Bisher sieht das zuständige französische Sportministerium aber offenbar keinen Anlass, den Anfragen aus der Grenzregion, die vom französischen Außenministerium unterstützt werden, stattzugeben.

Probleme, die sich aus den unterschiedlichen Rechtsvorschriften entlang der Grenze ergeben, gibt es zudem nicht nur an der deutsch-französischen Grenze. Entlang der europäischen Binnengrenzen entsteht regelmäßig die paradoxe Situation, dass Unionsrecht, das gemeinsam auf europäischer Ebene ausgearbeitet wurde, von den Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich in nationales Recht überführt wird. Diesen Umstand kritisiert die EU schon seit einiger Zeit. Ein Bericht der Kommission zu den Grenzregionen von Juli 2021 bemängelte die „anhaltenden Schwierigkeiten“, die für Bewohnerinnen und Bewohner der Grenzregionen durch den Mangel an öffentlichen grenzübergreifenden Verkehrsdiensten entstünden. Lösungsansätze würden häufig durch „voneinander abweichende nationale Vorschriften behindert“. Auch dieser Bericht führt viele Blockaden in den Grenz­regionen auf Unterschiede bei der Umsetzung von EU-Recht auf beiden Seiten der Grenze zurück.

Entsprechend werden alle Fortschritte in der Arbeit des AGZ und mögliche Anwendungen der Experimentierklauseln von den EU-Institutionen aufmerksam verfolgt. Ein Papier des Institut Français des Relations Internationales (IFRI) von Juni 2020 kommt zu dem Schluss, beide Neuerungen hätten den Vorschlag der EU-Kommission für einen „European Cross Border Mechanism“ (ECBM) „im Kern […] vorweggenommen“. Der ECBM-Vorschlag war 2015 unter luxemburgischer EU-Ratspräsidentschaft vorgeschlagen und 2018 von der Kommission als Legislativvorschlag eingebracht worden. Der Mechanismus sieht Ausnahmeregelungen von nationalem Recht vor, um Hindernisse in der GRÜZ zu beseitigen. Die 2019 von der Kommission geschaffene Plattform „B-Solutions“ zur Befragung und Beratung von Behörden in Grenzregionen bescheinigt dem ECBM großes Potenzial: In 30 Prozent der untersuchten Fälle betonten Gesprächspartner in den Grenzregionen, ein Rechtsinstrument wie der ECBM wäre hilfreich gewesen, um „wiederkehrende Grenzhindernisse zu beseitigen“.

Das ECBM-Konzept wurde im Juli 2021 von der slowenischen EU-Ratspräsidentschaft jedoch vorerst fallengelassen. Im Gesetzgebungsverfahren zeichnete sich keine Einigung zwischen EU-Parlament und EU-Rat ab. Mit dem vorläufigen Scheitern des ECBM auf europäischer Ebene wächst nun die Aufmerksamkeit für entsprechende Experimente in der deutsch-französischen Grenzregion. Der AGZ und die Experimentierklauseln werden als bilaterale Umsetzung der ECBM-Ideen gesehen. Philippe Voiry, französischer Botschafter für GRÜZ, sieht die „ECBM-Philosophie“ im Aachener Vertrag verwirklicht. Voiry war maßgeblich an der Ausarbeitung des Aachener Vertrags beteiligt und wurde Anfang 2021 von seinem Posten als diplomatischer Berater der Region Grand Est ins Außenministerium nach Paris berufen. Dort setzt er sich nicht nur für die Wiederbelebung des ECBM-Konzepts ein, sondern prüft auch die Übertragung der Lektionen des Aachener Vertrags für die bilaterale Zusammenarbeit mit Italien und Spanien.



Grenzüberschreitende Mobilität zwischen Europas Hauptstädten und in den Grenzregionen

Die Verbesserung grenzüberschreitender Mobilität ist eines der Kernanliegen des Aachener Vertrags. Die Ausgestaltung dieses politischen Ziels auf der europäischen, nationalen und regionalen Ebene eröffnet viele Möglichkeiten zur sinnvollen Ergänzung und Zusammenarbeit, schafft aber auch eine Reihe von Konflikten. Letztere werden in den kommenden Jahren auch Herausforderungen für die neuen Institutionen und Instrumente sein, die der Aachener Vertrag geschaffen hat.

 

Grünere Mobilität für mehr Integration und Klimaschutz

Grenzüberschreitende Verkehrsinfrastruktur ist Grundlage für die Mobilität von Personen und Gütern in der EU.  Artikel 170 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU („Lissabon-Vertrag“) hebt die Bedeutung transeuropäischer Verkehrsnetze (TEN-V) „für die Verwirklichung des Binnenmarktes […]“ hervor. Die aktuelle Verkehrspolitik der Kommission zielt darauf ab, „Lücken zu schließen, Flaschenhälse zu beseitigen und technische Barrieren abzubauen“, um die „soziale, ökonomische und territoriale Kohäsion der EU zu stärken“. Bis 2030 soll ein Kernnetz vollendet sein, das die wichtigsten Verkehrsknotenpunkte des europäischen Kontinents miteinander verbindet. Neun Verkehrskorridore, von der Kommission definiert, bilden das „Rückgrat“ dieses Netzes. Einer dieser Korridore, Rheingebiet-Alpen, verläuft in weiten Teilen entlang der deutsch-französischen Grenze.

Neben seiner grundsätzlichen Bedeutung für den Binnenmarkt hat das grenzüberschreitende europäische Schienennetz jüngst dank ambitionierter Klimaschutzziele an Aufmerksamkeit gewonnen. Die Regierungen Deutschlands und Frankreichs betonen regelmäßig ihre Unterstützung des Kommissionsziels, die EU bis 2050 klimaneutral zu machen. Auf deutscher Seite ist die „Wende zur klimafreundlichen Mobilität“ mit dem Ziel einer Reduktion der CO2-Emissionen im Verkehrssektor um 42 Prozent im Bundes-Klimaschutzgesetz verankert. Unter dem Slogan „von der Straße auf die Schiene“ werden entlang dieser gesetzlichen Rahmenbedingungen Maßnahmen gefördert, um zunächst den Güterverkehr vermehrt auf die Schiene zu bringen.

Neben dem Güterverkehr soll in den kommenden Jahren aber auch der Personenverkehr von der Straße auf die Schiene verlagert werden. Die Strategie „Trans-Europe-Express“ (TEE) wurde unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Semester 2020 maßgeblich vorangetrieben. Auf einem „EU-Schienengipfel“ hatte Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) im September 2020 seine Ideen zur „Ausweitung der grenzüberschreitenden Kooperation“ präsentiert. So soll unter anderem schon ab Dezember 2021 eine Nachtzuglinie Wien via München mit Paris verbinden. Zwei Jahre später soll eine ähnliche Verbindung dann Berlin mit Brüssel und Paris verbinden:

 

Die Nachtzugverbindung zwischen Berlin und Paris ist ein Leuchtturmprojekt der deutsch-französischen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. 2016 erst hatte die Deutsche Bahn (DB) angekündigt, ihr eigenes Nachtzugangebot aus wirtschaftlichen Gründen aufzugeben. Umso mehr begrüßten Ende 2020 die Ko-Vorsitzenden des Büros der DFPV die Ankündigung einer Reaktivierung der Nachtzugverbindung zwischen den beiden Hauptstädten. Die Abgeordneten forderten darüber hinaus, den Ausbau regulärer Verbindungen schneller voranzutreiben – auch im Rahmen des EU-Wiederaufbaufonds.

Ähnliche Forderungen wie die der DFPV berufen sich auf eine Reihe deutsch-französischer Abkommen und Erklärungen. Der Vertrag von La Rochelle von 1992 etwa hält beide Länder zum schnellen Ausbau der Direktverbindung zwischen ihren Hauptstädten an. Eine jüngere Referenz für die grenzüberschreitende Kooperation im Schienenverkehr ist die deutsch-französische Erklärung von Meseberg von 2018. Das in Meseberg vereinbarte „Mainstreaming des Klimaschutzes“ hat dank Konzepten wie der „grünen Mobilität“ und Slogans wie „von der Straße auf die Schiene“ auch für den grenzüberschreitenden Schienenverkehr zunehmend Bedeutung. In einem Papier der „Meseberger Klima-Arbeitsgruppe“ von 2019 heißt es zum Beispiel, das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) und das französische Umweltministerium, das Ministère de la Transition écologique et solidaire (MTES) (dt. „Ministerium des ökologischen und solidarischen Übergangs“), wollten „grenzüberschreitende Mobilität und den Aufbau von Infrastruktur […] stärken“, ein besonderer Fokus liege auf dem „Klimaschutz im Verkehr“.

Den wichtigsten Bezugspunkt bildet aber der Aachener Vertrag. Die dem Vertrag angehängte Liste prioritärer Vorhaben erwähnt unter Punkt acht die „Verbesserung grenzüberschreitender Bahnverbindungen“. Seit der Unterzeichnung des Vertrags wird der Wille zum weiteren Ausbau grenzüberschreitender Bahnverbindungen regelmäßig betont. In einer Pressemitteilung des AA zum DFMR von Mai 2021 ist neben der Einrichtung von Nachtzugverbindungen „im Rahmen der TransEuropeExpress-Strategie“ ebenfalls von kleineren Verbindungen die Rede. Auch die französische Botschaft in Berlin betonte nach dem DFMR ausdrücklich, neben der Verbindung zwischen den Hauptstädten müsse auch der grenzüberschreitende öffentliche Verkehr „auf regionaler und lokaler Ebene“ gestärkt werden“.

Viele Gesprächspartner in Deutschland heben allerdings hervor, dass die „große Symbolkraft“ der Nachtzugverbindung Berlin-Paris für die Fortschritte eine wichtige Rolle spiele. Erst diese Symbolkraft, so scheint es, hat dem Projekt auch außerhalb der ohnehin zugeneigten Außenministerien in den Fachministerien die nötige Aufmerksamkeit verschafft. Projekte auf regionaler und lokaler Ebene, das schwingt in den Gesprächen oft mit, profitieren weniger oder gar nicht von dieser Aufmerksamkeit.

Zwischen den Ankündigungen aus den Hauptstädten und dem Urteil zum Ausbau kleinerer Strecken entlang der deutsch-französischen Grenze klafft deshalb oft eine große Lücke. Auf diese Lücke wurde während einer öffentlichen Anhörung des deutschen Verkehrsministers in der DFPV im Januar 2021 hingewiesen. Verkehrsminister Scheuer betonte zwar auch im Namen seines Amtskollegen Jean-Baptise Djebbari die Zusammenarbeit bei grenzüberschreitenden Projekten. Über thematische Gremien wie die deutsch-französischen Arbeitsgruppe (AG) zur Eisenbahn sei die grenzüberschreitende Mobilität während der deutschen Ratspräsidentschaft auch auf europäischer Ebene ein Schwerpunktthema gewesen. Mehrere Abgeordnete machten während der Anhörung deutlich, dass sie sich beim Ausbau grenzüberschreitender Strecken mehr Unterstützung aus den Hauptstädten wünschen. Beispielhaft wurde der Investitionsbedarf in bestimmte Streckenabschnitte genannt: Zugreisende bräuchten heute aus Saarbrücken zwar nur knapp zwei Stunden nach Paris, dafür aber siebeneinhalb Stunden nach Berlin – das zeige, wo der Handlungsbedarf bestehe. Im Anschluss an die Anhörung forderte die DFPV den Bundestag und die Nationalversammlung in einem gemeinsamen Beschluss auf, „die prioritären Vorhaben des Vertrags von Aachen zum Ausbau der grenzüberschreitenden Mobilität umzusetzen“.

Grenzüberschreitender Schienenverkehr an der deutsch-französischen Grenze

Kleinere grenzüberschreitende Zugverbindungen werden sowohl im Aachener Vertrag als auch in offiziellen Kommuniqués seit der Unterzeichnung regelmäßig explizit genannt. Der bereits erwähnte Punkt acht der dem Vertrag angehängten Prioritätenliste zur „Verbesserung grenzüberschreitender Bahnverbindungen“ nennt die Linie Colmar-Freiburg, Verbindungen zwischen Straßburg und dem Flughafen Frankfurt sowie der Pfalz und die Verbindung zwischen Saarbrücken und Paris. Nach den Regierungskonsultationen im Mai 2021 wurde zudem angekündigt, auch eine Reaktivierung der Eisenbahnverbindung zwischen Rastatt und Hagenau zu prüfen.

Die direkte Zugverbindung zwischen Freiburg und Colmar ist im deutsch-französischen Kontext die bekannteste dieser Strecken. 1878 wurde die Verbindung gemeinsam mit zwei weiteren zwischen Mühlhausen und Müllheim und Saint-Louis und Weil-am-Rhein, eröffnet. Alle drei Strecken sind heute grenzübergreifend, im Jahr ihrer Eröffnung verbanden sie Elsass-Lothringen, das 1871 vom Deutschen Reich annektiert worden war, mit dem Rest des Reichsgebietes. Die Rheinbrücke, die bei Breisach die direkte Zugverbindung zwischen Freiburg und Colmar ermöglichte, wurde während des Zweiten Weltkriegs gleich zweimal zerstört: 1939 von französischen Truppen, um die deutsche Offensive zu bremsen, dann 1945 von deutschen Truppen auf dem Rückzug, die den amerikanischen Vormarsch verlangsamen wollten. Oliver Rein, Bürgermeister der Stadt Breisach am Rhein, kommentierte die geplante Reaktivierung der Strecke Anfang 2021 mit den Worten: „Mehr Symbolkraft kann man ja kaum bringen“.

Tatsächlich profitiert die Verbindung Freiburg-Colmar, ähnlich wie die Nachtzugverbindung Berlin-Paris, von genau dieser Symbolkraft. Ein Gesprächspartner betont, die Planungen zur Reaktivierung der Strecke seien zwar schon jahrzehntealt. Sie hätten aber dank des Aachener Vertrags und durch die Diskussionen in Gremien wie dem AGZ „nochmal Dampf bekommen“. 2019 wurde der Strecke durch eine gemeinsame deutsch-französische Machbarkeitsstudie hohes wirtschaftliches Potenzial bescheinigt, aktuell läuft die erste von mehreren Planungsphasen. Neben dem hohen symbolischen Wert weist das Verkehrsministerium Baden-Württemberg (BW) als einer der Träger der Studien auf den „erheblichen Beitrag zu Umwelt- und Klimaschutz“ hin, den die Schienenverbindung leisten könne, indem Pendlerinnen und Pendler und andere Grenzgänger von der Straße auf die Schiene gebracht würden. Das Ministerium hat eine eigene Abteilung für nachhaltige Mobilität geschaffen und sieht sich als Vorreiter für die Bundesebene.

Trotz der großen Einigkeit hinsichtlich des Potenzials der Strecke  bleibt die Finanzierung der Streckenreaktivierung ein Streitthema. Das Verkehrsministerium BW habe der französischen Seite bereits Zugeständnisse gemacht, erklärt eine deutsche Gesprächspartnerin. Départements und Kommunen auf der französischen Rheinseite hätten kaum finanziellen Spielraum. Langfristig sei der Nutzen aber beidseitig, deshalb seien die Zugeständnisse „ein schöner europäischer Gedanke“. Das Verkehrsministerium selbst verweist auf die Ko-Finanzierung der Studien durch die Bundesregierung, die französische Regierung und das INTERREG-Programm der EU. Letzteres reichte aber schon für die Finanzierung der verschiedenen Studienphasen nicht aus. Sowohl die nationalen Regierungen als auch die EU, so heißt in Baden-Württemberg, hätten aber „den europäischen Mehrwehrt“ der Strecke erkannt.

Die zähen Verhandlungen um die Studienphasen drohen im weiteren Verlauf des Projekts noch schwieriger zu werden. Schon die Finanzierung der Machbarkeitsstudie, so wird berichtet, sei ein „knallhartes Geschacher“ gewesen. Einblicke in die Prozesse gab auch die Anhörung des Bundesverkehrsministers in der DFPV. Der Minister betonte, man werde sich für Freiburg-Colmar einsetzen, „obwohl der Bund an dieser Stelle nicht zuständig ist“. Man helfe gerne, am Ende sei es aber „natürlich auch eine regionale Ausgestaltung“. Die Kosten für die Studien fallen im Vergleich zu den Kosten für Aus- beziehungsweise Neubau der Strecke, insbesondere für den Bau einer neuen Rheinbrücke, kaum ins Gewicht. Da die Verhandlungen zur Finanzierung der Studien aber schon kontrovers waren, sind harte Verhandlungen auch in Zukunft zu erwarten. Ein Experte rechnet bereits für die Reaktivierung einer ungenutzten Eisenbahnstrecke mit Kosten zwischen drei und 30 Millionen Euro pro Kilometer. Für Streckenabschnitte mit Tunneln oder Brücken steigen diese Kosten noch einmal deutlich.

Solche Summen sind für Gebietskörperschaften aus der Grenzregion nicht stemmbar. Grenzüberschreitende Bahnverbindungen sitzen aber, bildlich gesprochen, zwischen allen Förderstühlen: Für „makro-regionale“ EU-Fördergelder kommen sie bisher als lokale oder regionale Verbindungen nicht in Frage. Die INTERREG-Mittel reichen für mehr als die Studien nicht aus. Die Suche nach Alternativen führt die Vertreter der Grenzregionen in die nationalen Hauptstädte. Vertreter der Gebietskörperschaften und der Landesregierungen drängen das BMVI, sich für die Aufnahme ausgewählter grenzüberschreitender Schienenverbindungen in das transeuropäische Netzwerk TEN-V einzusetzen. Die Aufnahme würde neue Fördermöglichkeiten eröffnen: Ist eine Strecke Teil eines der neun Korridore im TEN-V Netz, ermöglicht das den Zugang zu Mitteln aus der Connecting Europe Facility (CEF), da es sich nicht mehr nur um grenzüberschreitende, sondern um sogenannte „makro-regionale“ Projekte handelt.

Ein zentraler Referenzpunkt für entsprechende Bemühungen ist die sogenannte „Missing Links-Studie“ . Im Auftrag der EU-Kommission verfasst, wurde die Studie 2018 veröffentlicht. Sie ermittelt aus über 350 grenzüberschreitenden Strecken die für einen Aus- oder Neubau vielversprechendsten, darunter auch Freiburg-Colmar. Mehrere Gesprächspartner merken mit Blick auf die Grenzregionen an, die Studie zeige, wie viel Potenzial für das europäische Schienennetz im Bau beziehungsweise der Reaktivierung kleiner Strecken liege. Hier müssten mehr Mittel fließen, statt Ressourcen auf europäische Mega-Projekte wie den Zugtunnel zwischen Lyon und Turin oder nationale Infrastrukturprojekte wie Stuttgart 21 zu konzentrieren.

Vertreter der Gebietskörperschaften tragen regelmäßig diese Anliegen sowohl bei den Ministerien in den Hauptstädten als auch bei den EU-Institutionen vor. Im Mai 2021 etwa veröffentlichte der Oberrheinrat, der Abgeordnete aus dem Oberrheingebiet versammelt, kurz vor den deutsch-französischen Regierungskonsultationen im DFMR einen entsprechenden Brief an Verkehrsminister Andreas Scheuer und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Grenzüberschreitende Mobilität zwischen Missing Links und Leuchtturmprojekten

Angesichts der Versprechungen zum Ausbau des europäischen Schienennetzes sind auch in den Grenzregionen die Erwartungen gewachsen. Teilweise schlagen sie angesichts langer Planungsprozesse und wiederholter Vertröstungen aus den Hauptstädten in Ungeduld um. Viel „Pathos und Idealismus“ gebe es in den bundespolitischen Zielsetzungen, so ein deutscher Gesprächspartner aus der Grenzregion, aber schon die Abstimmung zwischen den verschiedenen Ressorts der Bundesregierung, zwischen BMVI, BMI und AA, funktioniere oft nur mangelhaft. Im Zusammenhang mit dem grenzüberschreitenden Schienenverkehr steht das BMVI im Zentrum der Kritik aus den Grenzregionen. Das Ministerium, so der Vorwurf, lehne alles ab, es gebe „kaum konstruktive Zusammenarbeit“.

Die vermeintliche Ablehnung aus den ­Fachministerien hat meist wirtschaftliche Gründe. Viele „Missing Links“ und grenzüberschreitende Zugverbindungen sind aus nationaler Sicht unwirtschaftlich, zumindest in der nahen Zukunft. Das macht es für ­Zuständige in den Hauptstadtministerien schwer, die Anliegen aus den Grenzregionen in ihren Budgetplanungen zu berücksichtigen. Beim BMVI gilt das zum Beispiel für den nationalen Verkehrswegeplan. Das Papier weist zwar auf die wachsende Bedeutung des grenzüberschreitenden Schienenverkehrs hin, bis 2030 werden 42 Prozent Wachstum erwartet. Dabei geht es aber um den Güter- und nicht um den Personenverkehr. Ein Experte erklärt, nur wenige grenzüberschreitende Verbindungen funktionierten eigenwirtschaftlich und wenn doch, sei es ein „sehr schweres Geschäft“. Viele Verbindungen sind auf staatliche Zuschüsse angewiesen, allein die Anpassung des Wagenmaterials für den grenzüberschreitenden Verkehr bedeutet oft Mehrkosten in Millionenhöhe.

Die Diskussion zwischen den Grenzregionen und den Hauptstädten bewegt sich deshalb häufig auf zwei verschiedenen Ebenen: Auf der einen Seite wird der symbolischen Dimension der ­Verbindungen großer Wert beigemessen, der durch finanzielle Mittel kaum aufgewogen werden kann. Grenzüberschreitende Bahnverbindungen stehen für die Völkerverständigung, europäische Integration und den Wandel zu einer nachhaltigeren, grüneren Mobilität. Auf der anderen Seite wird mit Hinweis auf die mangelnde Wirtschaftlichkeit entgegnet, man könne keine zusätzlichen Ressourcen verwenden. Die Mehrkosten grenzüberschreitender Verbindungen müssten schließlich gegenüber ­regionalen oder ­nationalen Kontrollinstanzen wie den Parlamenten oder Landes­rechnungshöfen ­gerechtfertigt werden.

Befürworterinnen und Befürworter der Mehrinvestitionen und viele Akteure der Grenzregionen bemängeln, der Diskussion fehle die Datengrundlage: Um die Wirtschaftlichkeit grenzüberschreitender Verbindungen zu bewerten, brauche es belastbare Erhebungen auf beiden Seiten der Grenze. Gemeinsame Erhebungen sind aber noch immer die Ausnahme. Wichtige Indikatoren und Kennzahlen, etwa zum Verkehrsaufkommen und den Auswirkungen auf den Straßenverkehr, seien zudem oft nicht mit den gleichen Verfahren erhoben und können deshalb nur eingeschränkt verglichen werden. Entsprechende grenzüberschreitende Erhebungen spielen eine zunehmend wichtige Rolle. Die bereits ­erwähnten MORO-Raumordnungs-Planspiele der BBSR zur deutsch-französischen Zusammenarbeit sind hier genauso zu nennen wie die Missing Links-­Studie auf europäischer Ebene. Ein Sonderbericht des ­Europäischen Rechnungshofs von 2021 konstatiert die „mangelnde Verfügbarkeit grenzübergreifender […] Statistiken“ und empfiehlt die Förderung von Projekten, die diesen Mangel beheben.

Anlässlich des Europäischen Jahrs der Schiene 2021 arbeitet die EU-Kommission aktuell an einem ­„Konnektivität-Index“. Der Index soll Schlüsselindikatoren grenzüberschreitender ­Bahnverbindungen erheben und zwischen den Mitgliedsstaaten vergleichbar machen: Wie viele Bürgerinnen und Bürger würden von einer bestimmten Bahn­strecke direkt profitieren? Wie viele Pendlerinnen und Pendler würden langfristig vielleicht vom Auto auf den Zug umsteigen? Die Kommission verspricht sich von den Kennzahlen eine faktenbasierte Diskussion. Das Instrument soll eine ehrliche Abwägung zwischen kurzfristigen Mehrkosten für den Streckenausbau und langfristigen Nutzen der Zugverbindungen für die Mobilität in den Grenz­regionen, aber auch für politische Ziele wie die Verkehrswende und dem Klimaschutz ermöglichen.

Fazit

Ironischerweise hat der Schock der monatelangen massiven Einschränkungen grenzüberschreitender Mobilität den Wert offener Grenzen so eindrucksvoll verdeutlicht wie jahrzehntelange Partnerschaften und der routinierte Austausch es nie vermocht hätten. Ähnlich anderer europäischer Krisen ist die Corona-Pandemie für die GRÜZ zwischen ­Deutschland und Frankreich politische Herausforderung und Chance zugleich. In vielen lokalen, nationalen und grenzüberschreitenden Verwaltungen haben die Grenzschließungen zu Verwerfungen geführt. Vertrauen in das Gegenüber ist verloren gegangen, viele engagierte Bürgerinnen und Bürger in den Grenz­regionen haben sich aus Entscheidungsprozessen ausgeschlossen gefühlt. Gleichzeitig ist der GRÜZ während der Pandemie so viel Aufmerksamkeit aus den nationalen Hauptstädten zuteilgeworden wie nie zuvor.

Die vorangehende Beschäftigung mit dem grenzüberschreitenden Schienenverkehr zwischen Deutschland und Frankreich hat einige dieser Herausforderungen und Chancen verdeutlicht. Die Klagen über das mangelnde Interesse für kleine Bahnverbindungen entlang der deutsch-französischen Grenze sind in Berlin und Paris nicht neu. Abwägungen zwischen wirtschaftlichen Zwängen auf nationaler Ebene und spezifischen Problemstellungen in den Grenzregionen haben die Ministerien beider Länder im vergangenen Pandemiejahr genauso beschäftigt, wie in den Jahren zuvor. Allerdings tragen neu geschaffene Institutionen wie die DFPV und der AGZ, beschleunigt durch die Ausnahmesituation der Corona-Pandemie, die Stimmen aus den Grenzregionen heute deutlich prominenter an die Regierungen heran als noch 2019. Dass die Umsetzung der Ankündigungen aus dem Aachener Vertrag bezüglich der Zugverbindungen zwischen Berlin und Paris oder Freiburg und Colmar heute selbstbewusster eingefordert wird als vor der Unterzeichnung des Vertrags, hat viel mit den Entwicklungen der vergangenen Monate während der Pandemie zu tun.

Dieser positive Trend für die Grenzregionen wird mit dem Ende der Pandemie auf die Probe gestellt ­werden: Schaffen es die Vertreterinnen und Vertreter lokaler, regionaler und ­grenzüberschreitender Gebietskörperschaften auch ohne den ­Verweis auf geschlossene Grenzen und dramatische Ausnahme­situationen in den Hauptstädten weiter Gehör zu finden? Werden DFPV und AGZ die Lehren aus dem Krisenmanagement in Pandemiezeiten in den post-pandemischen Normalzustand der GRÜZ über­tragen können? Gelingt es in Zukunft, die Perspektiven aus der Grenzregion nicht nur rückblickend und zu Verfehlungen anzuhören, sondern vorausschauend in Gesetzgebungsprozesse und politische ­Verhandlungen einzubinden? Die Beantwortung dieser Fragen wird in den kommenden Monaten maßgeblich auch davon abhängen, ob es Entscheidungsträger­­innen und Entscheidungsträgern in den Grenzregionen gelingt, ihre Anliegen besser zu koordinieren und gebündelt an die ­Hauptstädte heranzutragen. Hier gilt für die GRÜZ, was auch in der nationalen Diplomatie gilt: Klare Verantwortlich­keiten und langfristige Abstimmung stärken die Position deutsch-­französischer Grenz­regionen gegenüber den Hauptstädten.

 

Über das Projekt „Monitoring der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in der deutsch-französischen Grenzregion“

Europas Grenzregionen sind für die nachbarschaftlichen bilateralen Beziehungen wie auch für die Europa­politik der Mitgliedstaaten von ­zentraler Bedeutung. Sie wirken als Brennglas für ­Erfolge und Herausforderungen der europäischen ­Integration und machen Fortschritte oder Stagnation tagtäglich für die Bürgerinnen und Bürger vor Ort greifbar. Der deutsch-französischen Grenz­region kommt dabei als einer der am stärksten integrierten grenzüberschreitenden Regionen Europas und wichtigem Schauplatz des europäischen Einigungsprozesses eine zusätzliche Bedeutung zu. Sie steht als Labor für Errungenschaften, Chancen und Defizite der europäischen ­Einigung unter besonderer Beobachtung.

Der 2019 unterzeichnete Vertrag von Aachen erkennt diese besondere Bedeutung der Grenz­regionen an. Die Regierungen verpflichten sich, die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich weiter zu stärken, indem die Gebietskörperschaften in den Grenzregionen mit „angemessenen Kompetenzen, zweckgerichteten Mitteln und beschleunigten Verfahren“ ausgestattet werden. Dort, wo deutsche und französische Interessen schon heute eng verflochten sind, könnte in den kommenden Jahren ein Experimentierfeld für Europas Zukunft entstehen. Dabei betreffen die Erwartungen vieler Bürgerinnen und Bürger – auch mit Blick auf die Erfahrungen im Frühjahr 2020 – die Vertiefung der Zusammenarbeit, etwa im Mobilitätsbereich, in der Gesundheitspolitik oder der Frage nach grenzüberschreitenden Arbeitsverhältnissen.

In den Hauptstädten wurde das Potenzial grenzüberschreitender Zusammenarbeit – für die regionale Entwicklung, aber auch für die bilateralen Beziehungen und den europäischen Einigungsprozess – lange unterschätzt. Umso wichtiger ist es nun, die richtigen Lehren aus den Verwerfungen der vergangenen Monate zu ziehen.

Zu dieser Aufgabe möchte unser Projekt einen ­Beitrag leisten. Aufbauend auf Hintergrundgesprächen mit Politikerinnen und Politkern, Beamten, Fach­leuten aus der Wissenschaft sowie engagierten Bürgerinnen und Bürgern aus der deutsch-­französischen Grenzregion sollen zunächst ­Einblicke in diesen Lernprozess ermöglicht werden. Im zweiten Schritt folgen Handlungsempfehlungen für ­nationale Verantwortliche.   

Das Projekt wird mit freundlicher Unterstützung des Auswärtigen Amts durchgeführt.



 

Bibliografische Angaben

Ross, Jacob. “Grenzenlose Mobilität in Europa.” October 2021.

DGAP Analyse Nr. 03 vom 04.10.2021: "Grenzenlose Mobilität in Europa", 24 Seiten.

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