Mit den aktuellen Massendemonstrationen gegen ein inzwischen zurückgezogenes Gesetz, das Nichtregierungsorganisationen und unabhängige Medien als ausländische Agenten diskreditieren könnte, steht Georgien erneut an einem Scheidepunkt seiner Geschichte. Nach der Rosenrevolution im Jahr 2003 wurde das Land zu einem zentralen Partner der EU und der USA im Südkaukasus und im gesamten postsowjetischen Raum. Trotz vieler Unzulänglichkeiten der Regierung unter Michail Saakaschwili (2004–2013) und zunehmend autoritärer Tendenzen am Ende seiner Regierungszeit lieferte er ein erfolgreiches Beispiel für Reformen, Korruptionsbekämpfung sowie eine Öffnung und Modernisierung des Landes. Georgiens Weg nach Europa und Richtung transatlantische Integration war das wichtigste politische Narrativ, das der Gesellschaft nach Jahren des Bürgerkriegs und schwacher Regierungsführung eine Orientierung gab.
Während die EU Georgien keine Beitrittsperspektive anbot, als es sich auf dem Reformweg befand, tut sie dies nun (angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine), während die georgische Regierung einen autoritären Kurs eingeschlagen hat. Die derzeitige Regierungspartei Georgischer Traum (GT) mit ihrem inoffiziellen Führer und reichsten Mann des Landes, Bidsina Iwanischwili, befindet sich in ihrer dritten Amtszeit. Sie hat beschlossen, jegliche Konkurrenz oder Kritik auszuschalten, um dauerhaft an der Macht zu bleiben. Das jetzt im Parlament eilig eingeführte und diskutierte Gesetz über ausländische Agenten wäre ein entscheidender Zwischenschritt auf dem Weg zu einem autoritären Staat, denn es würde das Land und seine aktive Zivilgesellschaft verändern. Dass die Regierung das Gesetz nach zwei Tagen von Demonstrationen in der Hauptstadt Tbilissi vorerst zurückgezogen hat, ist zwar ein großer Erfolg. Aber es ist nur ein taktischer Schachzug der Regierung, um Zeit zu gewinnen. Diese Zeit sollten auch die europäischen Partner Georgiens nutzen, um den Druck zu erhöhen und zu verhindern, dass dieses Gesetz tatsächlich verabschiedet wird.
Systematische Schwächung der Zivilgesellschaft
Für die Regierungspartei sind es nicht mehr die wichtigste Oppositionspartei UNM oder ihre Abspaltungen, die ihre Machtposition infrage stellen können, sondern die proeuropäische, organisierte Zivilgesellschaft und unabhängige Medien. Sie sind das letzte Hindernis auf dem Weg zu einer grenzenlosen Kontrolle. Beide sind als Watchdogs gegen autoritäre Tendenzen im Land und als wichtige Verbindung zu Georgiens westlichen Partnern von entscheidender Bedeutung.
Die derzeitige Regierung versucht bereits seit Jahren, die Zivilgesellschaft und unabhängige Medien zu schwächen und zu diskreditieren. Die Gewalt rechter Gruppen in Tbilissi um den 5. Juli 2021 gegen die geplante Tbilisi Pride und ihre Unterstützer, aus Zivilgesellschaft, Medien und Opposition war ein wichtiges Ereignis der Zusammenarbeit zwischen der Regierungspartei, der konservativen georgisch-orthodoxen Kirche und rechten Gruppen wie Alt-Info. Für GT war dieses Ereignis ein wichtiger Test für die Reaktion der westlichen Partner, die eben nicht konsequent genug reagierten, um den autoritären Kurs zu kritisieren. Das Hauptziel der Gewalt im Rahmen dieses Ereignisses bestand darin, die Zivilgesellschaft zu bedrohen und die Kluft zwischen dem progressiven Teil der Gesellschaft und dem eher traditionellen, unpolitischen Teil, der mehrheitlich noch in Armut lebt, zu vergrößern.
Das Agentengesetz würde Partei und Regierung ein juristisches Instrument an die Hand geben, um die Zivilgesellschaft zu diskreditieren, rechtlich zu verfolgen und letztlich zu zerschlagen. Der Gesetzesentwurf – "Über die Transparenz ausländischer Einflussnahme" – zielte darauf ab, alle gemeinnützigen Organisationen, die mindestens 20 Prozent ihrer Mittel aus dem Ausland beziehen, als ausländische Agenten zu bezeichnen. Infolgedessen würde das gesamte Spektrum der Demokratie-, Wahl-, Antikorruptions- und Rechtsstaatlichkeitsorganisationen sowie der unabhängigen Medien von dem Gesetz erfasst.
Für die Mehrheit der Organisationen gibt es keine Alternative zur externen Finanzierung, da es in Georgien kaum Mittel für die Zivilgesellschaft gibt. Erstens würde die organisierte Zivilgesellschaft durch das Gesetz gegenüber dem Staat und der Justiz, die bereits unter der Kontrolle des GT stehen, angreifbar. Zweitens würde es dazu beitragen, die Glaubwürdigkeit dieser Organisationen in der Gesellschaft weiter zu schwächen, drittens würde es sie von ausländischer Finanzierung abschneiden. Und schließlich könnte es zur Auflösung der Organisationen führen.
Gesellschaft steht hinter EU-Integration
Das Gesetz muss im Zusammenhang mit den Zielen des GT gesehen werden, Georgien von seinem transatlantischen und insbesondere europäischen Integrationskurs abzuschneiden. Würde Georgien die Kriterien für den Kandidatenstatus gemäß dem Maastrichter Vertrag wirklich erfüllen, so wären demokratische Kriterien wie Transparenz, politischer Wettbewerb, unabhängige Medien und Justiz die Grundlage der Beziehungen. All dies sind Elemente, die die Hauptziele der Regierung untergraben könnten, mit allen Mitteln an der Macht zu bleiben, die besten Teile der Wirtschaft und die natürlichen Ressourcen des Landes unter ihren Verbündeten aufzuteilen und eine autoritäre Regierungsführung durch Abschaffung des politischen Wettbewerbs einzuführen.
Die EU-Integration liegt nicht im Interesse der politischen Führung des Landes und aufgrund der plötzlichen Möglichkeit, einen Kandidatenstatus für den EU-Beitritt als Reaktion der EU auf den russischen Krieg in der Ukraine zu bekommen, stand die Regierung unter Druck, zu handeln. Da die Gesellschaft mehrheitlich für eine Integration in die EU eintritt, laut einer Umfrage des International Republican Institute 85 Prozent Ende 2022, kann sich die Regierung diesem Weg nicht direkt widersetzen, sondern versucht systematisch, die Glaubwürdigkeit der wichtigsten Befürworter der EU-Integration zu untergraben. Gleichzeitig nutzt die Regierung den russischen Angriffskrieg, um die westlichen Partner Georgiens zu diskreditieren. Die Desinformationskampagne der Regierungspartei, der Westen wolle Georgien in den Krieg hineinziehen, spielt mit Ängsten in der georgischen Gesellschaft, die eng mit dem Bürgerkrieg in den Neunzigerjahren und dem russisch-georgischen Krieg im Jahr 2008 verbunden sind.
Letztlich will die Regierungspartei die proeuropäische Ausrichtung der georgischen Gesellschaft untergraben, den Westen diskreditieren und die EU so provozieren, dass sie den Kandidatenstatus zurückzieht. Das Ziel ist, dass nicht die georgische Regierung für den Verlust der Beitrittsperspektive verantwortlich gemacht wird, sondern die EU. Die Desorientierung der Gesellschaft würde es der georgischen Führung leichter machen, die Gesellschaft zu manipulieren und die nächsten Schritte bei der Annäherung an Russland zu gehen, was für einige georgische Akteure auch wirtschaftlich von Vorteil sein kann. Dabei spielt die Zusammenarbeit mit der orthodoxen Kirche und rechtsgerichteten Gruppen eine entscheidende Rolle, die wichtige Akteure bei der Mobilisierung der Gesellschaft gegen sexuelle und ethnische Minderheiten sind.
Was kann die EU tun?
Für die EU und ihre Mitgliedstaaten ist es ein Lackmustest dafür, wie ernst sie es mit ihrer Nachbarschaftspolitik angesichts der russischen Aggression in der Ukraine meinen. Dabei geht es nicht "nur" um Georgien, sondern um den Erfolg der transformativen und normativen Politik der EU in ihrer Nachbarschaft. Georgien war über 15 Jahre lang ein freier und offener Raum für diejenigen, die in den postsowjetischen Ländern mit autoritärer Herrschaft nicht einverstanden sind. Es bietet jetzt sogar Exil für Russen, die die russische Invasion in der Ukraine nicht unterstützen. Und es ist nach wie vor ein zentraler Austauschort zwischen Armeniern und Aserbaidschanern, die nach dem zweiten Bergkarabach-Krieg auf der Suche nach Frieden zwischen beiden Ländern sind.
Georgien war die Erfolgsgeschichte für Reformen und Korruptionsbekämpfung in der gesamten postsowjetischen Region. Daher ist es unverständlich, warum die EU und ihre Mitgliedstaaten seit Jahren so nachsichtig mit der georgischen Regierung sind. Sicher, laut EU-Fortschrittsbericht ist Georgien technisch immer noch ein guter Performer bei den Reformen im Rahmen des Assoziierungsabkommens und bei der Vorbereitung auf den Kandidatenstatus. Aber seine Regierung hat schon vor Jahren den demokratischen und rechtsstaatlichen Boden verlassen und ist auf normativer Basis nicht reif für den Kandidatenstatus.
Klare Botschaften gefragt
Bereits ein Fehler der EU waren die zwölf Punkte für Georgien, um den Kandidatenstatus für den Beitrittsprozess mit der EU zu erhalten. Geforderte Veränderungen in Bereichen wie Deoligarchisierung und Depolarisierung eröffneten Interpretationsspielräume, die der georgischen Regierung in die Hände spielen. Diese Begriffe sind so unscharf, dass jede Seite sie in ihrem Sinne interpretieren kann. Die EU muss Kriterien für einen Kandidatenstatus definieren, die auch messbar sind. Die Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, haben sich gegenüber der georgischen Regierung zu lange nicht deutlich genug geäußert. Es braucht klare Botschaften, was in Georgien mit Blick auf eine Integration mit Europa falsch läuft.
Es braucht eindeutige Konsequenzen für Fehlverhalten in Form von Kürzungen der finanziellen Unterstützung durch westliche Partnerstaaten für die Regierung sowie Sanktionen gegen das Vermögen und die Reisefreiheit derjenigen, die antidemokratische Gesetze ins Parlament einbringen oder unterstützen. Diese Kommunikation muss besser zwischen den EU-Mitgliedstaaten, der EU-Delegation und der US-Botschaft koordiniert werden. Georgien sollte immer eine Beitrittsperspektive haben, aber solange die Regierung nicht dazu bereit ist, muss deutlich werden, warum dieser Prozess auf Eis liegt. Wenn die EU das nicht klar zu verstehen gibt, könnte Russland zwar den Krieg in der Ukraine verlieren, aber seinen Einfluss in anderen postsowjetischen Ländern durch sein Beispiel schlechter Regierungsführung behalten.