Bisher haben die EU und Deutschland hierzu keine strategischen Ansätze gefunden und verzetteln sich in EU-internen Uneinigkeiten. Doch Deutschland muss den Westbalkan und die ÖP höher priorisieren und sich dafür auch auf EU-Ebene einsetzen sowie Auswege aus den Engpässen der Erweiterungspolitik finden. Es sollte zudem in strategische Kommunikation und glaubhafte Kooperation investieren, um dem Treiben illiberaler Akteure vor Ort entgegenzuwirken.
Die Länder des westlichen Balkans (Albanien, Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien, Kosovo, Montenegro, Serbien) und die Partnerländer der ÖP (Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldau, Ukraine) unterscheiden sich zwar stark, nicht zuletzt in ihrer institutionellen Beziehung zur EU. Dennoch ähneln sich die Herausforderungen für die deutsche und EU-Außenpolitik in beiden Nachbarregionen.
Besorgniserregend ist die zunehmende Abwendung von europäischen Werten. So wurden 2020 die Beitrittskandidaten Serbien und Montenegro von der NGO Freedom House unter anderem aufgrund von Korruption, Machtmissbrauch und Angriffen auf die Unabhängigkeit von Medien und Justiz von halb-konsolidierten Demokratien zu hybriden Regimen herabgestuft. Zur fortwährenden Missachtung von Menschenrechten in Aserbaidschan und Belarus kommen Beispiele aus vermeintlichen ÖP-Vorreiterländern wie Georgien hinzu, wo es im Juli 2021 zu massiver Gewalt gegen Medienvertreterinnen und Medienvertreter im Rahmen der letztlich abgesagten Parade Tbilisi Pride kam.
Doch auch die geopolitische Situation lässt eine Weiterführung der bisherigen Politik nicht zu. Sowohl Russland als auch China sind in der Region aktiver geworden. Die verschleppte Erweiterungspolitik der EU im Westlichen Balkan, aber auch die wenigen neuen Angebote für die ÖP, erweisen sich als Hürden für weitere wichtige Reformen. So zeigt der aktuell durch Vetos gebremste EU-Erweiterungsprozess Trennlinien zwischen einerseits skeptischen und andererseits integrationsfreundlichen Mitgliedstaaten sowie ein mangelndes Dringlichkeitsbewusstsein. Aber Uneinigkeit sollte keinen Stillstand bedeuten, da illiberale Akteure dieses Vakuum nutzen. Der Westbalkan und die ÖP gelten als Erfolgsgeschichten der europäischen Außenpolitik, können aber auch zum Prüfstein werden: Sollte die EU in Regionen in ihrer Nachbarschaft, mit denen sie wirtschaftlich wie gesellschaftlich – über große Diasporagemeinden und oft pro-europäische Bevölkerungen – eng verknüpft ist, nicht handlungsfähig sein, dann steht ihre Identität als glaubwürdige außenpolitische Akteurin auf dem Spiel. Somit liegt es auch im Interesse Deutschlands, aktiver und innovativer zu werden. Dafür bestehen 2021 verschiedene Gelegenheiten. Im Oktober findet etwa der nächste EU-Westbalkan-Gipfel statt und im Dezember werden beim ÖP-Gipfel die Weichen für die Politik der nächsten fünf Jahre gestellt. Chancen, die genutzt werden sollten!
Rahmenbedingungen
Westbalkan
Deutschlands Westbalkan-Politik ist fest in den EU-Erweiterungsprozess eingebunden – doch dieser stagniert. Je länger der Prozess dauert, desto weniger greift die Konditionalität, mit der EU-Normen verbreitet werden sollen. Für die Handlungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit der EU nach außen ist dies dramatisch: Die Region gilt eigentlich als Paradebeispiel für ihre Transformationskraft.
Von den Westbalkan-Sechs befinden sich Montenegro und Serbien in Beitrittsverhandlungen. Für Nordmazedonien und Albanien erschien die Aufnahme von Verhandlungen greifbar, liegt aber aufgrund von Vetos seit 2019 auf Eis. Die ausgebliebene Gegenleistung für Reformen und Zugeständnisse sendet ein negatives Signal an die Region. Gleichzeitig nimmt dort die Reformwilligkeit weiter ab – auch in Serbien und Montenegro. Für Bosnien und Herzegowina sowie Kosovo bleibt der Kandidatenstatus aufgrund ungeklärter Status- und Sicherheitsfragen fern.
Deutschland hat in den letzten Jahren mit dem von Bundeskanzlerin Merkel initiierten „Berliner Prozess“ versucht, wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Kooperation innerhalb der Region zu stärken und so indirekt zum Erweiterungsprozess beizutragen. Trotz Teilerfolgen fällt die Bilanz gemischt aus: Intraregionale Zusammenarbeit ersetzt nicht den Anreiz der EU-Integration; Reformwilligkeit bleibt an eine glaubhafte Beitrittsperspektive gekoppelt.
Östliche Partnerschaft
Obwohl die ÖP-Politik ebenso den Export des sogenannten Acquis Communautaire (des „gemeinsamen Besitzstands“) anstrebt, gibt es keine Beitrittsperspektiven für die Partnerstaaten. Die Ukraine, Georgien und die Republik Moldau haben Assoziierungsabkommen mit der EU geschlossen und suchen eine stärkere Anbindung. Die Beziehung zu Armenien wurde 2013 durch das De-facto-Veto Russlands zur Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zurückgeworfen. Mit Aserbaidschan wird seit 2017 eine neue Rahmenvereinbarung verhandelt. Das Verhältnis zum belarussischen Regime um Alexander Lukaschenko ist seit dessen illegitimer Wiederwahl 2020, die von der EU nicht anerkannt wird, und den Menschenrechtsverstößen in diesem Kontext zerrüttet.
In der deutschen Politik stellt die ÖP keine Priorität dar. Statt eines strategischen Ansatzes gegenüber der Region dominieren zwei Denkmuster: Erstens wird die Region primär durch die Perspektive der Russlandpolitik verstanden. Dies ist aufgrund russischer Aggressionen in der Ukraine und Georgien zwar verständlich und angesichts der Untergrabung ukrainischer Sicherheitspolitik durch Nord Stream 2 sogar wünschenswert, greift aber im Verständnis lokaler Kontexte zu kurz. Zweitens ist Aufmerksamkeit oft an Krisen gebunden und temporär. Die Krisen in Belarus und Bergkarabach fanden zwar begrenzt Eingang in die mediale Berichterstattung und politischen Diskurse, doch dies führte dennoch nicht zu neuen strategischen Ansätzen.
Herausforderungen
Intra-EU Blockaden
Eine grundlegende Herausforderung in der Politik gegenüber dem Westbalkan und der ÖP sind EU-interne Blockaden. Die Politik gegenüber den Regionen hängt in einem Teufelskreis fest: Wenn die EU keine Gegenleistung für die Umsetzungen ihrer Normen liefert, sinkt dort die Bereitschaft für Reformen; dadurch sinkt wiederum das Engagement der EU.
Der Umgang mit den ÖP-Partnerländern war stets kontrovers, angesichts anfänglicher Forderungen, Angebote der EU-Nachbarschaftspolitik sowohl an östliche als auch südliche Nachbarn zu richten. Derzeit besteht Uneinigkeit über zusätzliche Angebote an die Vorreiter der ÖP. Während die baltischen Staaten und Polen einer Beitrittsperspektive offen gegenüberstehen, bleibt dies für andere Mitgliedstaaten, inklusive Deutschland, ausgeschlossen.
Die Stagnation der EU-Erweiterungspolitik spiegelt wider, wie das Einstimmigkeitsprinzip die Unterminierung gemeinsamer Ziele durch Mitgliedstaaten in der EU-(Außen)Politik ermöglicht. So blockierten sukzessive Vetos im Ministerrat die geplante Aufnahme der Beitrittsverhandlungen für Nordmazedonien und Albanien: Zunächst verlangte Frankreich eine Revision der Erweiterungsmethodologie, nun fordert Bulgarien bilaterale Zugeständnisse von Nordmazedonien und blockiert damit die Aufnahme beider Staaten. Doch die unter anderem von Deutschland kritisierten Vetos kommen auch anderen Mitgliedstaaten gelegen. Die Niederlande und Dänemark sind etwa aufgrund von Problemen in puncto Rechtsstaatlichkeit, Korruption und organisiertem Verbrechen skeptisch gegenüber der Aufnahme einiger Länder aus dieser Region. Ob eine kaum durchzusetzende Reform des Einstimmigkeitsprinzips dieses Problem lösen kann, ist fraglich.
Geopolitische Herausforderungen: Russland und China
Geopolitische Akteure wie Russland und China verfolgen in beiden Regionen Interessen. Diese traten während der Coronavirus-Pandemie durch gezielte Desinformationskampagnen, öffentlichkeitswirksame Hilfslieferungen und Impfdiplomatie zutage.
Russland ist weiterhin einer der wichtigsten Akteure in der Region und sieht besonders die Partnerländer der ÖP als natürlichen Einflussbereich an. Neben militärischer Aggression übt es beispielsweise Druck durch Energie-, Migrations- oder Handelspolitik aus. Es beeinflusst Wahlkampagnen, beispielsweise durch die Finanzierung von illiberalen Parteien, kooperiert mit sezessionistischen Akteuren und verbreitet Desinformationen. Von Russland befeuerte Anti-EU-Propaganda wie etwa zu LGBTQ+-Rechten hält sich vehement, etwa in Georgien oder der Ukraine. Trotzdem gelingt es der destruktiven Politik Russlands nicht, die Länder der Region freiwillig und nachhaltig an sich zu binden. Dies bietet eine Chance für die EU und Deutschland, Präferenzen der Zivilbevölkerung anzuerkennen und die Zukunft der Staaten mitzugestalten.
China hat in den letzten Jahren verstärkt in Infrastrukturprojekte investiert. Großprojekte im Westbalkan sollen unter anderem die Transportverbindung vom chinesisch verwalteten, griechischen Hafen von Piräus in die EU stärken. Bis auf Kosovo sind alle Westbalkan-Staaten Teil der Seidenstraßen-Initiative und des „17+1“-Formats. Die Projekte stellen häufig eine große Schuldenlast für Staaten dar. So schuldet Montenegro, das für das Bar-Boljare-Autobahnprojekt rund 900 Millionen Euro von der chinesischen Investitionsbank geliehen hat, mittlerweile rund ein Viertel seiner Staatsschulden nach China. Zudem investieren chinesische Firmen in Projekte, die angestrebten EU-Umweltstandards widersprechen – wie Kohlekraftwerke in Bosnien und Serbien. Die oft intransparenten Investitionsflüsse können das Problem der Korruption weiter befeuern, und Technologiekooperation mit China könnte zur Stärkung autoritärer Tendenzen genutzt werden. So schloss Serbien zwar auf Druck der USA die chinesische Technologiefirma Huawei aus seinem 5G-Netzwerk aus. Doch seit 2019 werden in Belgrad Tausende Kameras mit Huawei-Gesichtserkennungssoftware installiert.
Trotz dieser zumeist kreditbasierten Investitionen bleibt die EU die wichtigste wirtschaftliche Partnerin des Westbalkans – mit Blick auf Handel und Investitionen.
Empfehlungen
Kooperation und Kommunikation
Deutschland sollte die Regionen stärker priorisieren. Dies setzt voraus, dass der Westliche Balkan über EU-Erweiterungspolitik hinaus und die Östliche Partnerschaft eigenständig in den Koalitionsvertrag aufgenommen werden.
EU-interne Unstimmigkeiten können umgangen werden, indem Kooperation auch abseits von Erweiterungsstrukturen angestrebt wird. Dies kann zusätzliche politische Dialoge – insbesondere zu hybriden Bedrohungen und externer Einflussnahme beinhalten. Blockaden im Erweiterungsprozess und der ÖP-Politik sollten zudem vor Ort anerkannt werden, ohne ‚Blame-Shifting‘ zu betreiben, um die Glaubwürdigkeit der EU zurückzugewinnen. Zusätzliche Instrumente und Formate sollen allerdings klar um übergeordneten Ziel beitragen, den EU-Beitritt des Westbalkans zu beschleunigen.
Zudem sollte Deutschland in strategische Kommunikation investieren. Dies beinhaltet offensivere Kommunikation darüber, dass Deutschland und die EU im Vergleich zu anderen geopolitischen Akteuren nachhaltige und zuverlässige Partner sind. Zudem sollte sich Deutschland für einen Ausbau der EU East StratCom Task Force des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) einsetzen, um Desinformation in der Nachbarschaft sichtbar zu machen und zu bekämpfen. Dazu bedarf es finanzieller und personeller Ressourcen, um mindestens eine Verdopplung der aktuellen Kapazitäten zu erreichen.
Während andere geopolitische Akteure einseitig Interessen verfolgen, können Deutschland und die EU an Glaubwürdigkeit gewinnen, indem sie ernsthafte Kooperation vor Ort betreiben. EU-Politikkonzepte wie „Local Ownership“ können allerdings nur dann in die Tat umgesetzt werden, wenn eine weniger an EU-Blaupausen ausgerichtete und dafür kooperativere Außenpolitik verfolgt wird.