Zum 50. Jahrestag des Waffenstillstands zwischen Frankreich und Algerien im März 2012 verzichteten der französische und der algerische Präsident auf eine gemeinsame Erinnerungszeremonie. Was offiziell mit dem Wahlkalender in beiden Ländern begründet wurde, belegt das nach wie vor schwierige Verhältnis, das Frankreich und Algerien zu ihrer gemeinsamen, leidvollen Vergangenheit haben. Nach einer langen Phase der Verdrängung verläuft der Aufarbeitungsprozess in Frankreich bis heute stockend. Der Algerienkrieg, der bis zu einer gesetzlichen Anerkennung des Begriffs im Jahr 1999 offiziell lediglich als die "Ereignisse von Algerien" bezeichnet wurde, prägt das kollektive Gedächtnis der Franzosen und beeinflusst bis heute die französische Politik.
Algeriens Sonderrolle im französischen Kolonialreich
Algerien nimmt in der französischen Kolonialgeschichte eine Sonderstellung ein. Mit der Besetzung Algiers wurde im Jahr 1830 das zweite Kolonialreich Frankreichs begründet. Anders als Tunesien und ein Großteil Marokkos, die als französische Protektorate verwaltet wurden, erfuhr Algerien eine Aufteilung in die drei Départements Algier, Constantine und Oran und wurde im Jahr 1848 zu einem integralen Bestandteil des französischen Mutterlands erklärt. Durch massive Siedlungsprogramme im Sinne einer "colonie de peuplement" (Siedlungskolonie) versuchte die Regierung in Paris den französischen Einfluss im Land zu stärken. Mitte des 20. Jahrhunderts lebten neben neun Millionen Algeriern etwa eine Million Europäer mit französischer Staatsbürgerschaft auf algerischem Gebiet.
Auch die algerische Bevölkerungsmehrheit besaß die Staatsangehörigkeit des Mutterlandes, doch blieben ihr die vollen französischen Bürgerrechte verwehrt, darunter insbesondere das aktive und passive Wahlrecht jenseits von Regionalgremien. Diese politische Ungleichheit und die wirtschaftliche Diskriminierung der algerischen Bevölkerung führten zu Spannungen in der Gesellschaft, die sich ab dem Jahr 1945 immer häufiger in Protesten und Aufständen entluden. Sie wurden von der französischen Armee gewaltsam niedergeschlagen, bis die Unruhen im November 1954 erstmals zeitgleich mehrere Landesteile erfassten. Eine Attentatsserie, die von der wenige Monate zuvor in Kairo gegründeten Nationalen Befreiungsfront Algeriens (FLN) koordiniert wurde, markierte den Beginn eines langen Befreiungskrieges, der erst mit der Unabhängigkeit Algeriens im Jahr 1962 ein Ende fand.
Der Algerienkrieg besiegelt das Ende der Vierten Republik
Um den wachsenden Unruhen in den drei algerischen Départements zu begegnen, verabschiedete die französische Regierung Sondergesetze und erhöhte die militärische Präsenz. Doch angesichts der Guerillataktik der FLN, der die französische Armee im bergigen Gelände wenig entgegenzusetzen hatte, griff die Regierung in Paris bald zunehmend auf Elemente der psychologischen Kriegsführung zurück. Die Strategie umfasste gesteuerte Informationskampagnen, Zensur- und Spitzelsysteme sowie eine Militärdoktrin, die 1957 in der "Schlacht um Algier" erstmals Anwendung fand. Sie übertrug der 10. Fallschirmspringerdivision der französischen Armee alle zivilen und militärischen Vollmachten zur Bekämpfung von Widerstandszellen in der algerischen Hauptstadt und legitimierte Methoden wie Massenfestnahmen und Folter.
Indem die Regierung in Paris den Algerienkrieg zu einem innerfranzösischen Konflikt erklärte, umging sie das seit 1949 geltende Abkommen der Genfer Konvention zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten, was heftige Kritik der internationalen Gemeinschaft und der Vereinten Nationen hervorrief. Die Schlacht um Algier endete im Oktober 1957 mit einem militärischen Sieg der französischen Armee. Die Methoden der Kriegsführung hatten das Land jedoch international diskreditiert und die Ablehnung des Krieges in der französischen Bevölkerung erhöht, die zudem weitere Verluste der französischen Armee befürchtete. 1956 war diese Stimmung zusätzlich verstärkt worden durch die Unabhängigkeit Tunesiens und Marokkos und durch das Scheitern der französischen Intervention in Ägypten im Rahmen der Suez-Krise, wo Frankreich mit Präsident Nasser einen Unterstützer der algerischen FLN zu stürzen versucht hatte.
Dennoch blieb trotz der wachsenden Zahl an Berichten zurückkehrender Soldaten und der Aufrufe einiger Intellektueller eine breite gesellschaftliche Debatte im französischen Mutterland aus. Erst ein gewaltsamer Aufstand der Algerienfranzosen im Frühjahr 1958 gegen die Ernennung Pierre Pflimlins zum Premierminister leitete eine Wende des Konflikts ein. Angesichts der Bereitschaft Pflimlins zum Dialog mit der FLN fürchteten die Algerienfranzosen eine schrittweise Loslösung Algeriens von Frankreich und forderten erfolgreich den Rücktritt des Premierministers und eine Rückkehr General De Gaulles an die Macht. Mit der Verabschiedung einer maßgeblich von De Gaulle geprägten neuen Verfassung durch ein Referendum im Oktober 1958 wurde wenig später die Fünfte Französische Republik begründet.
De Gaulles Aussage "Ich habe euch verstanden", die er kurze Zeit nach seinem Amtsantritt in Algier traf, wurde von vielen Algerienfranzosen als ein Versprechen zur Unterstützung ihrer Anliegen aufgenommen. Doch in der Folge vollzog De Gaulle, der erkannt hatte, dass ein Ende des blutigen und kostenintensiven Konflikts ohne eine Loslösung Algeriens nicht zu erreichen war, einen Wandel seiner Position, der von vielen Algerienfranzosen als Verrat empfunden wurde. Im September 1959 erhielt Algerien zunächst ein Selbstbestimmungsrecht und mit dem Abschluss der Abkommen von Evian im Jahr 1962 die Unabhängigkeit. Begleitet wurden die Unabhängigkeitsverhandlungen von einer Vielzahl von Anschlägen in Algerien und Frankreich durch die Untergrundbewegung OAS, die eine Loslösung Algeriens verhindern wollte und von Teilen der französischen Armee und Polizei Unterstützung erfuhr. Höhepunkt der Gewalt war ein Massaker an protestierenden Algeriern durch die französische Polizei in Paris am 17. Oktober 1961, das jedoch kaum Widerhall in der französischen Presse und Öffentlichkeit fand.
Pieds-noirs, Harkis und eine neue "politique arabe"
Nach der Unabhängigkeit Algeriens verließen hunderttausende Algerienfranzosen, so genannte "Pieds-noirs", das Land in Richtung Frankreich. Ihre (Re-)Integration in das ihnen oft unbekannte Heimatland gestaltete sich schwierig. Hinzu kamen mehrere Zehntausend algerische Flüchtlinge, die auf Grund ihrer Zusammenarbeit mit der französischen Armee in Algerien Verfolgung und Massakern ausgesetzt waren. Ohne Schutz durch das französische Militär fielen zehntausende dieser "Harkis" Racheakten ihrer Landsleute zum Opfer. Algerien verlor mit der Auswanderungswelle nicht zuletzt auch seine Bildungselite und den wirtschaftlichen Mittelstand, was die sozio-ökonomische Situation des Landes nach der Unabhängigkeit belastete. Die blutige Terrorwelle der OAS, durch die das verlorene "Algérie française", durch eine Taktik der "Verbrannten Erde" zerstört werden sollte, kostete mehreren Tausend muslimischen Algeriern das Leben. Sie erschütterte auch De Gaulles Strategie, mit den Abkommen von Evian den Grundstein für enge künftige Beziehungen zwischen Algerien und Frankreich zu legen.
Algerien sollte für Frankreich auch künftig die Brücke nach Nordafrika darstellen und den französischen Einfluss im Mittelmeerraum sichern. Im Gegenzug zu wirtschaftlichen Aufbauhilfen wurde Frankreich der privilegierte Zugang zu algerischem Erdöl und Gas sowie zu den Atomtestgebieten in der Sahara zugesichert. Trotz der verhärteten Fronten zwischen den Ländern, die sich beide einer Aufarbeitung der Ereignisse gegenüber verschlossen zeigten, verfolgte De Gaulle sein Ziel einer neuen französischen "politique arabe", die das bis heute herrschende französische Selbstverständnis als Mittelmeermacht prägt.
Zeit des Schweigens und beginnende Aufarbeitung
Auf die algerische Unabhängigkeitserklärung folgten in beiden Ländern drei Jahrzehnte der Verdrängung und Tabuisierung. Die Ereignisse der Jahre 1954 bis 1962 wurden entweder, wie in Frankreich, aus der offiziellen Erinnerungspolitik ausgeklammert oder, wie in Algerien, als Legitimationsmythos der Staatselite stilisiert. Doch nicht nur der französische Staat, auch die Gesellschaft breitete einen Mantel des Schweigens über die Geschichte. Exemplarisch hierfür steht der 1966 erschienene Film "Die Schlacht von Algier", der in Frankreich zwar nicht offiziell zensiert wurde, doch in Folge von Drohungen durch Veteranen- und Pieds-noirs-Verbände fast vierzig Jahre nur vereinzelt in Frankreich gezeigt werden konnte. Erst in den frühen 1990er Jahren begann das Schweigen aufzubrechen.
Unterschiedliche Faktoren trieben diese Entwicklung voran: Im Jahr 1991 entflammte in Algerien ein Bürgerkrieg zwischen der aus der Befreiungsbewegung hervorgegangenen Einparteienregierung und islamistischen Gruppen. Der Unabhängigkeitskrieg bildete dabei für beide Lager, wenn auch unter unterschiedlichen Vorzeichen, eine wichtige Referenz, was die Thematik ins Bewusstsein der französischen und internationalen Öffentlichkeit rückte. Zudem wurden durch die Öffnung der französischen Militärarchive im Jahr 1992 neue Details über den Militäreinsatz in Algerien bekannt und führten zu einer Welle geschichtswissenschaftlicher und künstlerischer Auseinandersetzungen mit dem Thema. Im November 2000 schockierten die Geständnisse über Folter und Exekutionen zweier führender Generäle des Algerienkrieges in der französischen Zeitung Le Monde die französische Öffentlichkeit. Die Debatte über den Algerienkrieg ist seither in Frankreich präsenter und offener geworden und hat Eingang in die offizielle Erinnerungskultur gefunden.
Auch der Stellenwert des Themas in den Schulbüchern und im Lehrplan hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren gewandelt, obgleich Form und Ausgewogenheit der Darstellung bis heute Gegenstand von Debatten sind. Und wenn auch inzwischen eine neue, von den Ereignissen unbelastete Politikergeneration die Regierungsverantwortung übernommen hat, so behält das Thema Algerien doch bis heute seine politische Brisanz. Das Verhältnis zwischen Frankreich und Algerien bleibt ambivalent. Obwohl Frankreich in Fortführung der gaullistischen "politique arabe" auf enge Beziehungen zu den ehemaligen Kolonien setzt, um seinen Einfluss im Mittelmeerraum zu festigen, verweigert die französische Politik das von Algerien geforderte umfangreiche Schuldeingeständnis.
Bereits kleine Gesten der Anerkennung, wie die erstmalige offizielle Benennung des Massakers vom Oktober 1961 durch François Hollande im Oktober 2012, stellen für französische Politiker einen Balanceakt zwischen unterschiedlichen Facetten der Erinnerungskultur, aber auch zwischen konkreten politischen Interessen dar. Insbesondere die Pieds-noirs-Verbände, in denen inzwischen eine neue Generation den politischen Kampf der Eltern um Anerkennung übernommen hat und die politisch mehrheitlich zum rechten und rechtsextremen politischen Lager tendieren, stellen eine nicht unbedeutende Lobbygruppe dar. Die Nachkommen der Algerienfranzosen und der Harkis bilden einen Anteil von etwa acht Prozent der Bevölkerung, was sie insbesondere im Wahlkampf zu einer viel umworbenen Zielgruppe macht.
Damit bleibt der Algerienkrieg auch mehr als 50 Jahre nach seinem Ende als Thema in der französischen Politik präsent. Seine Aufarbeitung wird die Gesellschaft und die Politik auch in der Zukunft weiter beschäftigen.
Literaturhinweise
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Stora, Benjamin: Guerre d’Algérie: 1999-2003, les accélérations de la mémoire, In: Hommes et migrations, Nr. 1244, Juli/August 2003, S. 83-95.
Stora, Benjamin: Le mystère De Gaulle : son choix pour l’Algérie, Paris 2009.