Der Zustrom öffentlicher und privater Fördermittel, der während der Covid-19-Pandemie in die deutsche Forschung und Entwicklung im Bereich digitale Technologien floss, neigt sich dem Ende zu. Dies ist unter anderem auf die Inflation, die Haushaltskonsolidierung und die durch die „Zeitenwende“ ausgelöste sicherheitspolitische Neuaufstellung zurückzuführen. |
Deutschlands Zukunft in einer EU, die zu den weltweit führenden Technologiemächten gehört, erfordert eine grundlegende und schnelle Verlagerung der Forschungs- und Entwicklungskapazitäten – und zwar auf datenintensive und systemzentrierte Bereiche des Internets der Dinge (IoT) und der Deep Technology, die mit der industriellen Basis Deutschlands zusammenspielen. Es bedarf neuer politischer Ansätze in den drei Bereichen Money, Markets, Minds, sprich Fördermitteln, Märkten und Fachkräften. |
Neue Technologien wie Robotik, künstliche Intelligenz (KI), fortschrittliche Materialwissenschaft sowie Biotechnologie und Quantencomputing sind vielfältig einsetzbar. Doch unkoordinierte Finanzierungsinstrumente, die Zivilklauseln von Universitäten und Hochschulen sowie restriktive Visa- und Einstellungsrichtlinien für ausländische Fachkräfte bremsen die Innovation in diesen Bereichen und schaden der techno-geopolitischen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. |
Mittelfristig könnte Deutschland eine Bündelung des Zukunftsfonds mit neuen institutionellen Investitionen in einer Art deutschen Staatsfonds in Erwägung ziehen, wobei ein Teil der Mittel speziell strategisch wichtigen Risikokapitalvorhaben vorbehalten sein sollte. |
Die Web-Version dieses Berichts enthält keine Fußnoten und Grafiken. Für die Quellenangabe laden Sie bitte die PDF-Version der Studie hier herunter.
Einleitung
Das Vertrauen in das deutsche Technologie-Ökosystem war bis vor Kurzem auf einem Allzeithoch. Durch den Aufbau einer soliden Grundlage für Forschung und Entwicklung (FuE), Investitionen und Start-ups war der digitale Sektor auf dem besten Weg, die Fertigungsindustrie bis 2030 bei der DAX-Marktkapitalisierung zu überholen. Die daraus resultierenden Vorteile hätten sich nicht nur in den Portfolios von Aktienhändlerinnen und Aktienhändlern niedergeschlagen. Ein florierender digitaler Sektor hätte einen zentralen Pfeiler der künftigen techno-geopolitischen Stellung Deutschlands dargestellt. Er wäre Ausgangspunkt für Deutschlands Bemühungen um digitale Souveränität in Europa gewesen – einer Souveränität, die auf Entscheidungs- und Wahlfreiheit, erhöhter Widerstandsfähigkeit und der Vermeidung technologischer Abhängigkeiten von geopolitischen Konkurrenten beruht. Inzwischen ist die Lage jedoch deutlich angespannter.
Die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, die steigenden Energiepreise und die Inflation reduzieren das weltweit verfügbare Kapital für den Technologiesektor. Privatanlegerinnen und -anleger ziehen sich in einem alarmierenden Tempo aus dem deutschen Digitalsektor zurück. Die Bundesregierung wendet sich der Haushaltskonsolidierung zu und strebt für 2023 einen ausgeglichenen Haushalt an. Da die Modernisierung der Bundeswehr und die Umstellung auf erneuerbare Energien ganz oben auf der Agenda der Regierung stehen, könnte die Unterstützung für den innovationsorientierten Industriestandort Deutschland deutlich abnehmen, wenn der Forschung und Entwicklung im Bereich der digitalen Technologien nicht genügend Mittel zur Verfügung stehen.
Die deutsche Wirtschaft ist hochgradig differenziert und wird von clusterorientierten Innovationen, politischem Föderalismus, einem von Familienunternehmen geprägten Mittelstand und diffusen nationalen Forschungsnetzwerken angetrieben. Diese dezentralisierte Struktur war in der Vergangenheit stets eine Stärke. Im Industriezeitalter erwiesen sich hochentwickelte Nischenfähigkeiten als weltweit wettbewerbsfähig. Doch dieses Zeitalter ist weitgehend vorbei. In der heutigen Welt sind Netzwerkeffekte der Schlüssel zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit auf dem Markt für datenintensive Plattformen, KI und Cloud Computing. Das bedeutet: Deutschland muss seine komparativen Vorteile im digitalen Sektor besser nutzen, um die Herausforderungen in den drei miteinander verknüpften Bereichen Fördermittel, Märkte und Fachkräfte anzugehen.
Hierbei geht es nicht „nur“ um die Stellung Deutschlands in der Welt. Innovation ist auch unerlässlich, um globale geostrategische Ziele zu erreichen. Die Entwicklung des deutschen Innovationsökosystems wird die sich verändernde Rolle Europas mitbestimmen – als Großmacht für strategische Technologien und als Verfechterin einer demokratischen Technologiepolitik.
Status quo
Innovation erfordert ein Ökosystem aus Fördermitteln, Märkten und Fachkräften, das in der Lage ist, die Stärken Deutschlands bei FuE in Vorteile bei datenintensiven, systemzentrierten Gebieten der IoT und Deep Technology zu verwandeln, die den nationalen Fertigungssektor stärken. Die Covid-19-Pandemie hat zu positiven Verschiebungen in der Struktur der deutschen und europäischen Innovationslandschaft geführt, insbesondere bei Fördermitteln. Europaweit stiegen die Start-up-Finanzierungen von rund 40 Milliarden Euro im Jahr 2020 auf 106 Milliarden Euro im Jahr 2021, was zu einer explosionsartigen Zunahme von europäischen Unicorns führte. Insgesamt erreichten 321 mit Risikokapital finanzierte Start-ups einen Unternehmenswert von mindestens einer Milliarde Dollar, von denen sich allein 55 in Deutschland befinden. Außerdem haben hierzulande 26 Decacorns mit einem Wert von mehr als 10 Milliarden Dollar ihren Sitz. Risikokapital-Investitionen in Deutschland erreichten 2021 17,4 Milliarden Euro und haben sich somit im Vergleich zum Vorjahr verdreifacht. In diesem Zeitraum verdoppelte sich auch die Finanzierung von Deep Technology, zu der Robotik, KI, Sensorik, fortschrittliche Materialien, Biotechnologie und Quantencomputing gehören. 2021 flossen in Europa 21 Prozent des gesamten Risikokapitals in diese Bereiche. Der Zustrom von Fördermitteln war so erheblich, dass sich die Quanten- und Post-Quanten-Kryptographie, VR-Gesundheitsversorgung, KI-basierte Arzneimittelforschung, Cognitive Computing und Silizium-Photonik zu Spitzentechnologien entwickelten. Arbeit von Unternehmen wie Q.ANT und Franka Emika ist Deutschland in der Robotik und Sensorik besonders gut aufgestellt. Es entwickelt derzeit seine Fähigkeiten bei Flugzeugen der nächsten Generation (bei Lilium), Biopharma (bei BioNTech) und KI für Verteidigung (bei Helsing.ai).
Obwohl Deutschland in bestimmten Sektoren europäischer Technologie-Innovator ist, fällt es auf anderen Gebieten hinter einige Nationen zurück. US-amerikanische und chinesische Tech-Unternehmen mögen zwar Marktführer sein, aber auch Unternehmen aus dem Vereinigten Königreich, Kanada, Südkorea und Israel wetteifern um die Schaffung, Kontrolle und Kommerzialisierung von Innovationen in einer breiten Spanne von Bereichen - von Social Media-Plattformen bis Deep Technology. Selbst Europas größtes Technologieunternehmen ASML (Marktwert 352 Milliarden Dollar) verblasst neben Microsoft (2,5 Billionen Dollar) oder dem chinesischen Unternehmen Tencent (601 Milliarden Dollar). Europa macht lediglich 7 Prozent der Kapitalisierung im weltweiten Technologiemarkt aus. Und obwohl hier jährlich etwa die gleiche Anzahl von Start-ups wie in den USA gegründet werden, lässt sich in Europa eine stärkere Stagnationsrate beobachten (45 Prozent gegenüber 37 Prozent). Dieser Unterschied – der zum Teil auf den leichteren Zugang zu Märkten, Later-Stage-Finanzierungen und Talenten außerhalb Europas zurückzuführen ist – hat zu einer „Scale-up“-Falle geführt, die die EU in den letzten zwei Jahrzehnten etwa eine Million Arbeitsplätze und 2 Billionen Euro an BIP gekostet hat.
Deutschland mangelt es zudem an Finanzierungen. Seine größten Risikokapitalfonds sind im Vergleich zu denen in den USA und China klein. Auch die Investitionsquote der Pensionsfonds ist nach wie vor gering. Dagegen ist mindestens ein US-Investor an 61 Prozent aller europäischen Later-Stage-Investitionen in Unternehmen beteiligt, die kurz vor dem Markterfolg stehen. US-amerikanische oder asiatische Investierende sind insgesamt an 95 Prozent aller europäischen Later-Stage-Finanzierungen von mehr als 250 Millionen Dollar beteiligt. Das US-Kapital macht mehr als die Hälfte der Gesamtinvestitionen in Deutschland aus und spielt besonders bei Late-Stage-Investitionen eine erhebliche Rolle. Bedenklich ist, dass diese Investitionen zunehmend versiegen, da die europäischen Zentralbanken auf die Inflation reagieren und die geopolitischen Risiken, die sich aus dem Einmarsch Russlands in die Ukraine ergeben, die Bereitschaft globaler institutioneller Investoren zur Finanzierung des digitalen Sektors verringern.
• DIE KONSORTIUM-BASIERTE QUANTENINITIATIVE BAYERNS bündelt unter anderem die Forschungsnetzwerke der Fraunhofer-Gesellschaft, der Max-Planck-Gesellschaft und der Technischen Universität München (TUM) in einem Zentrum für Quantencomputing und Quantentechnologien (ZQQ). Das Zentrum ist das Kernstück eines Münchner Technologieparks, zu dem auch privatwirtschaftliche Akteure wie IBM gehören, deren Q System One in Ehningen eingesetzt wird. Der Q System One ist ein Quantencomputer mit 27 Qubits, aber IBM hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2023 den ersten Quanten-Chip mit mehr als tausend Qubit fertigzustellen.
• CYBER VALLEY ist Europas größtes Forschungskonsortium für künstliche Intelligenz. Es vernetzt das Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, die Universitäten Stuttgart und Tübingen sowie privatwirtschaftliche Akteure wie Amazon, Daimler, Bosch, Amazon und BMW. Cyber Valley baut in Tübingen einen Campus mit einer 180-Millionen-Euro-Finanzierung auf.
• Dank der Kooperation des FORSCHUNGSZENTRUMS JÜLICH mit dem kanadischen Unternehmen D-Wave nimmt der fortschrittlichste Quantencomputer Europas die Arbeit auf. Der Rechner mit 5.000 Qubit soll in die Supercomputing-Infrastruktur am Forschungszentrum eingebunden werden und Mitte 2024 online gehen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt das Jülicher Verbundprojekt QSolid mit einem Budget von 76,3 Millionen Euro. 25 Unternehmen und Forschungseinrichtungen – darunter das Leibniz-Institut für Photonische Technologien, das Karlsruher Institut für Technologie, die Universität Ulm, die Freie Universität Berlin und die Universität zu Köln – arbeiten gemeinsam daran, einen Quantencomputer auf Basis modernster Technologie zu bauen.
• DAS DEUTSCHE FORSCHUNGSZENTRUM FÜR KÜNSTLICHE INTELLIGENZ (DFKI) ist eines der ältesten und größten KI-Forschungszentren der Welt. Es unterhält Standorte in sieben Städten, die auf den Gebieten der Bilderkennung, Simultanübersetzung, Robotik und kognitive Assistenten arbeiten.
Deutschlands angehende Technologie-Champions sind folglich gezwungen, sich um außereuropäische Finanzmittel zu bemühen, wenn sie sich vom Start-up zum reiferen Marktteilnehmer entwickeln. Sie sehen sich auch mit einem unangenehmen Paradoxon konfrontiert: Je größer ihr Erfolg, desto größer ist der Anteil amerikanischer und chinesischer Risikokapitalgeber und institutioneller Investoren. Gleichzeitig verfolgen deutsche und europäische Kapitalgeber nur eine begrenzte „Auswärtsstrategie“ mit ausländischen Direktinvestitionen, um außerhalb der Landesgrenzen oder der EU neue Möglichkeiten zu erkunden. Der Mangel an Kapital und Risikobereitschaft, regulatorische Unterschiede und Abhängigkeiten im Inland behindern die Entwicklung in diesem Bereich. In die USA fließt viel weniger europäisches Risikokapital als umgekehrt. Die Folge ist, dass Europa praktisch nicht an den weltweiten Technologieinvestitionen beteiligt ist und hinter anderen Ländern zurückbleibt.
Ein weiterer Nachteil Deutschlands ist, dass es nur begrenzt in der Lage ist, auf außereuropäische Talente zurückzugreifen, wodurch es im weltweiten Wettbewerb um die besten Fachkräfte ins Hintertreffen geraten ist. Der Anteil der Europäerinnen und Europäer in deutschen Start-ups ist mit 85,9 Prozent sehr hoch, während nur 6,6 Prozent der Beschäftigten aus Asien, 2,2 Prozent aus Nordamerika und 5,4 Prozent aus anderen Ländern stammen. Im Gegensatz dazu wurden zwei Drittel der Silicon-Valley-Beschäftigten aus den Bereichen Ingenieurwesen und Informatik außerhalb der Vereinigten Staaten geboren. Außerdem stammt bei der Hälfte der US-amerikanischen Unicorn-Unternehmen mindestens eine Gründerin oder ein Gründer aus dem Ausland. In Deutschland hat jede fünfte Gründerin oder jeder fünfte Gründer einen Migrationshintergrund; lediglich 15 Prozent sind Frauen. Ebenso auffällig ist, dass nur 1,3 Prozent der europäischen Fördermittel an Gründerinnen und Gründer gingen, die ethnischen Minderheiten angehören.
In den letzten Jahren hat sich die technische Forschung in Deutschland weiterentwickelt, was durch eine liberalisierte Zulassungspolitik für internationale MINT-Studierende (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) und eine starke Wirtschaft begünstigt wurde. Hier hat Deutschland von geopolitischem Rückenwind profitiert: von Entwicklungen, die IT-Talente aus den südlichen Ländern der Eurozone, dem Nahen Osten und zuletzt aus der kriegszerrütteten Ukraine und dem autoritären Russland vertrieben haben. Allerdings fehlt es in Deutschland noch an flexiblen Arbeitsbedingungen, angemessenen Gehältern, attraktiven Sozialleistungen und Forschungsressourcen, um Toptalente anzuziehen und zu binden. Die USA, Kanada und das Vereinigte Königreich liegen in diesem Wettlauf weiterhin vorne – in einer Zeit, in der weltweiter IT-Fachkräftemangel herrscht.
Der Fachkräftemangel in der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) ist eine große Herausforderung für Deutschlands technologische Leistungsfähigkeit und somit auch für die Sicherheit Europas. Die EU hat sich das Ziel gesetzt, bis 2030 20 Millionen IKT-Fachkräfte zu beschäftigen, doch in Deutschland werden jährlich nur 70.000 von ihnen ausgebildet. Im Halbleitersektor von Silicon Saxony fehlt es derzeit an nahezu 30.000 Arbeitskräften. Sachsen-Anhalt, der Standort der künftigen Halbleiterproduktion in Deutschland, steht vor den noch größeren Schwierigkeiten, europäische und globale Talente aus Regionen wie Süd- und Ostasien, dem Nahen Osten und Afrika anzuziehen. In beiden Regionen wird die Situation durch ein politisches und gesellschaftliches Umfeld verschärft, das teilweise noch immer Rechtsextremismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit duldet. Die unzureichende Mitarbeiterzahl in den deutschen Cyber-Behörden wie dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), dem Cyber Innovation Hub der Bundeswehr und der kürzlich gegründeten Agentur für Innovation in der Cybersicherheit in Halle bleibt ein weiteres wichtiges strategisches Hindernis, das zu schwierigen Entscheidungen bei der Festlegung und Verfolgung von Prioritäten führen kann.
Einige der erfolgreichsten digitalen Innovationsökosysteme haben sich in kleinen, offenen Volkswirtschaften entwickelt, die mit einer konstanten Sicherheitsbedrohung durch einen geopolitischen Konkurrenten konfrontiert sind. Diese existenzielle Bedrohung kann ein nationales Bewusstsein schaffen, das einen interdisziplinären Ansatz für staatlich geförderte Forschung und Entwicklung ermöglicht und die mit einem kleinen Binnenmarkt zusammenhängenden Herausforderungen meistert. Dies ist in Taiwan, Estland, Südkorea und Israel der Fall – in Ländern, die alle ein weltweit wettbewerbsfähiges Ökosystem für technologische Innovationen entwickelt haben, das oft eng mit dem Verteidigungssektor verwoben ist. Als eine Mittelmacht, die sich keiner unmittelbaren geostrategischen Gefahr ausgesetzt sieht, stützt sich Deutschland mehr auf den EU-Markt, um seine Ambitionen als Innovationszentrum zu verfolgen. Die Grenzen der regulatorischen Konvergenz innerhalb der EU sind jedoch deutlicher geworden, und Deutschland sollte seine Marktentwicklungsstrategie auf die Nutzung offener Standards und Open-Source-Software verlagern, um die Hürden für FuE bei digitalen Technologien auf der Angebotsseite zu verringern. Entsprechende Skalenvorteile können auch dazu beitragen, die Stärken der Technologiekonkurrenten Deutschlands in Bereichen wie Marktgröße (USA, China) oder geopolitisch bedingter Kohäsion (Israel, Taiwan, Südkorea) auszugleichen.
Aktueller politischer Ansatz
Die deutsche Innovationspolitik konzentriert sich am stärksten auf Grundlagenforschung. Das Land wendet bereits 3,13 Prozent des BIP dafür auf und die Ampelregierung hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, diesen Anteil auf 3,5 Prozent zu erhöhen. Deutschlands Ausgaben machen derzeit nahezu ein Drittel der gesamten europäischen FuE-Ausgaben aus.
Bei der Kommerzialisierung von Forschung besteht in Deutschland allerdings noch Nachholbedarf. Das Zentrale Innovationsprogramm (ZIM) fördert seit Jahrzehnten die Forschung und Entwicklung im Mittelstand. Das Zentrum ist jedoch unterfinanziert und kann die Nachfrage nach seinen Dienstleistungen nicht bewältigen. Seit Oktober 2021 hat es keine neuen Förderanträge angenommen. Um dieses Problem anzugehen, hat die Regierung 2017 das EXIST-Programm ins Leben gerufen, das die unternehmerische Initiative und die Kommerzialisierung der akademischen Forschung fördert. Eine weitere Maßnahme ist die Einrichtung der Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI), um die deutsche Forschung zu kommerzialisieren. Die DATI würde Möglichkeiten bieten, um Anreize für die Kommerzialisierung von Universitätsforschung zu testen, angehende akademische Unternehmerinnen und Unternehmer zu unterstützen und sie mit dem Privatsektor zu verbinden. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) koordiniert im Rahmen seiner Digital Hub Initiative zudem zwölf anerkannte und über Deutschland verteilte Innovationshubs. Jeder dieser Hubs ist auf einen Sektor spezialisiert, um die lokalen Stärken in Forschung und Entwicklung sowie in der kommerziellen Technologie für eine bundesweite Skalierbarkeit zu stärken.
Darüber hinaus stellt das Venture Tech Growth Financing-Programm – eine gemeinsame Prä-Covid-19- Initiative der Regierung und der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), der Investitions- und Entwicklungsbank Deutschlands – Darlehen in Höhe von 50 Millionen Euro pro Jahr für Start-ups bereit. Bereits in den ersten 100 Tagen ihrer Amtszeit hat die Ampelregierung mit ihrer regierungsweiten Start-up-Strategie einen ehrgeizigen Ansatz vorgestellt, mit einem Zehn-Punkte-Programm zu Themen von Kapital bis Datenzugang. Vor allem aber sieht die Start-up-Strategie vor, dass staatliche und private Pensionsfonds einen Teil ihrer Mittel als Risikokapital investieren. Zusammen mit dem Zukunftsfonds 2021 ist dies eine wichtige Überbrückungsmaßnahme für den Einbruch des Risikokapitals nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie, insbesondere in Bezug auf risikoreiche Deep Technology.
Paradoxerweise hat die Regierung auch damit begonnen, die Finanzierung von Projekten zurückzustellen, die Technologie-Ökosysteme durch Skalierbarkeit, Interoperabilität und Open Source-Entwicklung fördern. In einem Moment der Leichtfertigkeit – oder vielleicht auch absichtlich – strich die Koalition zunächst die Mittel für die DATI, die Digitalisierung der Bildung, die Gaia-X-Cloud-Architektur für Standards und den Sovereign Tech Fund zur Unterstützung der Entwicklung von Open-Source-Software für Sicherheit, Widerstandsfähigkeit und technologische Vielfalt. Doch diese Maßnahmen zu opfern, um die deutsche Haushaltskonsolidierung nach der Coronakrise umzusetzen, könnte sich als kurzsichtig erweisen und sich negativ auf die deutsche Innovationslandschaft und Cybersicherheit auswirken. Beschränkungen von FuE-Ökosystemen im Bereich der Güter mit doppeltem Verwendungszweck haben traditionell die Innovation im Verteidigungsbereich geschwächt, die eine der größten Quellen für technologische Entdeckungen weltweit ist. Das wirkt sich wiederum auf die wirtschaftliche und geopolitische Wettbewerbsfähigkeit aus.
Dieser Trend ist in Deutschland nichts Neues. Die Universitäten und Hochschulen des Landes, allen voran die Universität Bremen im Jahr 1986, haben sogenannte „Zivilklauseln“ eingeführt, um die Forschung auf zivile Zwecke zu beschränken. Mehr als 70 deutsche Einrichtungen des tertiären Bildungsbereichs, darunter die Technische Universität Berlin und die Universität Tübingen, die beide führende KI-Forschung betreiben, haben inzwischen Zivilklauseln. Die strikte Trennung von ziviler und militärischer Forschung erschwert Durchbrüche in kritischen und grundlegenden Technologien wie KI, Quantenverschlüsselung und fortschrittlichen Materialien. Wegen des doppelten Verwendungszwecks dieser neuen und grundlegenden Technologien ist es zunehmend unmöglich, eine künstliche Trennwand zwischen ziviler und militärischer Technologie zu ziehen. Darüber hinaus ist es auch aus geopolitischer Sicht nachteilig, da die Verteidigungstechnologie in Ländern wie den USA, China, Israel, dem Vereinigten Königreich und Frankreich eine immer größere Rolle spielt und ein Motor für allgemeine digitale Innovationsökosysteme ist.
Doch nicht alle Aussichten an der akademischen Front sind düster. Durch mehr Fördermittel für die öffentliche Verwaltung, Einstellungsverfahren und wettbewerbsfähige Gehälter wurde die Universitätsausbildung für ausländische Studierende und die Visumerteilung für qualifizierte Einwanderinnen und Einwanderer erleichtert. Beide Entwicklungen sind zu begrüßen, da sie den Einstieg in den Technologiesektor ermöglichen. Deutschland hat auch unbewusst von geopolitischen Entwicklungen profitiert, da die Krise in der Eurozone 2010–2012 und die Flüchtlingskrise 2015–2016 hochqualifizierte europäische und globale Talente ins Land brachten.
Handlungsempfehlungen
Will die Bundesregierung Deutschlands globale Stellung in der Technologieförderung stärken, muss sie sich auf drei Bereiche konzentrieren:
- Zusätzliche Finanzierungsquellen für die Kommerzialisierung der Grundlagenforschung schaffen, Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck ermöglichen und Tech-Unternehmen langfristig Fördermittel bereitstellen
- Die Skalierbarkeit innerhalb des deutschen föderalen Systems und in ganz Europa durch den digitalen Binnenmarkt angehen
- Hochqualifizierte IT-Fachleute ausbilden, anwerben und binden, die den künftigen innovationsorientierten Industriestandort Deutschland stärken
Konkrete Maßnahmen wären u.a.:
Anreize für die Koordination zwischen innovationsfördernden Einrichtungen schaffen. Es ist entscheidend, dass die deutschen Innovationsagenturen enger zusammenarbeiten. Die Cyber-Agentur und die Bundesagentur für Sprunginnovationen haben bereits ihre Bereitschaft dazu erklärt. Ein weiterer Schritt wäre die Schaffung eines nationalen strategischen Technologierats und eines offiziellen behördenübergreifenden Koordinationsprozesses, an dem die Zentrale Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich (ZITiS) sowie der Zukunftsfonds, die DATI und der Sovereign Tech Fund beteiligt sind. Die derzeitige Regierung sieht die Einrichtung der beiden letztgenannten Stellen vor. Diese Agenturen würden strategische Zielsetzungen vergleichen, potenzielle Kooperationen testen, größere Hindernisse ermitteln und die Erforschung von Technologien mit doppeltem Verwendungszweck und deren Anwendung prüfen. Die daraus resultierende größere Transparenz würde dazu beitragen, Doppelfinanzierungen zu vermeiden und gleichzeitig das Wissen über und den Zugang zu erfolgreichen Programmen zu verbessern. Die Bundesregierung sollte auch eine Übersicht über die Initiativen der Länder schaffen und asymmetrische FuE- und Industrieallianzen sowohl zwischen den Bundesländern als auch mit dem Privatsektor in verbündeten Ländern fördern.
Die Wechselwirkung zwischen Deutschlands sicherheitspolitischer Zeitenwende und Innovation in Dual-Use-Technologien betonen. Das im Rahmen der „Zeitenwende“ angekündigte Sondervermögen von 100 Milliarden Euro muss die Modernisierung des Verteidigungssektors mit grundlegenden Forschungs- und Entwicklungskapazitäten für Innovationen in Dual-Use-Technologien verbinden, einschließlich Verteidigungssoftware. Als Teil des Mentalitätswandels müssen Länder und Universitäten mit der Bundesregierung und dem Privatsektor an einer vernünftigen Nutzung der sogenannten Zivilklause arbeiten. Die Universitäten und Hochschulen, an denen Forschung betrieben wird, müssen die Breite der Nutzbarkeit solcher Technologien und ihrer Finanzierungsquellen anerkennen.
Anreize für verlässliche Kapitalinvestitionen mit Schwerpunkt auf industriellen Plattformen, IoT sowie Deep Technology und umweltfreundlichen digitalen Technologien schaffen. Trotz des Gegenwinds durch Sparmaßnahmen, Inflation und einen globalen Wirtschaftsabschwung sollte die deutsche Regierung Anreize für öffentliche Investitionen im Inland schaffen, um den innovationsorientierten Industriestandort Deutschland zu stärken. Die DATI, der Zukunftsfonds und der Sovereign Tech Fund zielen darauf ab, laufen jedoch gleichzeitig Gefahr, in der Haushaltskonsolidierung und im interministeriellen Machtkampf gefangen zu bleiben. Der Technologiesektor aber würde mehr staatliche Finanzierung begrüßen. Einer Umfrage zufolge bevorzugten Start-ups öffentliches Kapital als Finanzierungsquelle (49,7 Prozent), gefolgt von operativem Cashflow (43,4 Prozent), strategischen Investitionen (42,5 Prozent) und Risikokapital (42,2 Prozent). Die Regierung muss strategische Vorgaben machen, um eine langfristige Planung und mutige Innovationen in digitalen Schlüsselbereichen zu ermöglichen. Der Zukunftsfonds möchte Start-ups Fördermittel in Höhe von 10 Milliarden Euro bereitstellen. Mittelfristig könnte Deutschland eine Bündelung des Zukunftsfonds mit neuen institutionellen Investitionen in einer Art deutschen Staatsfonds in Erwägung ziehen, wobei ein Teil der Mittel speziell strategisch wichtigen Risikokapitalvorhaben vorbehalten sein sollte.
Sandboxes, sprich geschützte Forschungsräume in öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen und Agenturen schaffen, die freier von Vorschriften, Bürokratie und öffentlichen Beschaffungsanforderungen sind. Die Anforderungen des Bundes an die Auftragsvergabe schränken die Möglichkeiten Deutschlands ein, ein weltweit wettbewerbsfähiges Innovationsökosystem zu entwickeln. Bürokratische Hürden, Genehmigungsverzögerungen und willkürliche Fristen können Innovation beeinträchtigen, wenn nicht gar verhindern. Forschungseinrichtungen und Innovationsagenturen würden von entsprechenden Finanzierungsanforderungen des öffentlichen Sektors für die Auftragsvergabe und Ausschreibungen, Evaluierung und langfristige Planung profitieren, die mit der raschen globalen Innovation Schritt halten können. Beschleunigte Verfahren würden auch dabei helfen, festzustellen, ob staatliche Investitionen sinnvoll sind.
Das Engagements des Privatsektors in „Expeditionsinvestitionen“ und Übernahmen von Technologieführern und Start-ups außerhalb Europas fördern. Für die meisten US-amerikanischen und chinesischen Technologieunternehmen sind Fusionen und Übernahmen von zentraler Bedeutung, um ihre Marktposition zu stärken und Innovationen aus anderen Quellen zu integrieren. Deutschlands führende, von der Regierung unterstützte Unternehmen sollten das Instrument ausländischer Direktinvestitionen nutzen, um Zugang zu bahnbrechenden Innovationen, unterschiedlichen Organisations- und Managementphilosophien sowie wichtigen geistigen Eigentumsrechten zu erhalten.
Den Zugang zu Spitzenforschung und -entwicklung unter geostrategischen Gesichtspunkten betrachten. Die Bundesregierung sollte neben offensiven Maßnahmen wie der Bereitstellung von geistigem Eigentum, der Schaffung von Anreizen für deren Übernahme sowie für die Zusammenarbeit mit dem Privatsektor auch mögliche defensive Instrumente prüfen, mit denen sich die unerwünschte Weitergabe von geistigem Eigentum verhindern lässt, insbesondere im Bereich der Deep Technology.
Den digitalen Binnenmarkt zu einer geopolitischen Priorität machen. Die Zersplitterung des digitalen Marktes in Europa ist nach wie vor ein Hemmschuh für Skalierbarkeit und ein zentrales Problem bei der Ausschöpfung von Europas geopolitischem Potenzial im Technologiebereich. Deutschland sollte eine führende Rolle bei der Verwirklichung des digitalen Binnenmarkts spielen, einschließlich der Bemühungen, den freien Datenfluss und sektorspezifische Datenräume in der EU zu fördern, die Registrierung von Start-ups zu vereinfachen und einen einheitlichen Kapitalmarkt aufzubauen, der zu grenzüberschreitende Investitionen anregt. Diese Bemühungen werden besonders wichtig sein, um mehr europaweite offene Standards und Open-Source-Software zu schaffen und damit die FuE-Basis für widerstandsfähige europaweite Innovationen zu verbreitern.
Die Förderung von IKT-Talenten als kritische Infrastruktur betrachten. Die deutsche Einwanderungspolitik hat begonnen, das digitale Innovationsökosystem zu unterstützen. Dank eines Universitäts- und Hochschulsystems, das internationale Studierende aufnimmt, sowie liberalisierten Aufenthalts- und Arbeitsbedingungen und der Möglichkeit, Englisch als Arbeitssprache zu nutzen, konnte Deutschland Humankapital anziehen. Jetzt muss es jedoch auch die Anwerbung und Bindung von IT-Spitzentalenten zum nationalen strategischen Ziel erklären. Um dies zu erreichen, müssen die Forschungsinstitute auch für die Ausstattung, Ressourcen, Forschungsinfrastruktur sowie wettbewerbsfähigen Gehälter und nötige Flexibilität bei der Einstellung sorgen, die die US-amerikanische, britische und chinesische Konkurrenz bereits anbietet.
Über das Projekt
Der vorliegende Bericht stellt einen integrierten Politikansatz für Deutschlands digitale Kapazitäten und Zielsetzungen vor. Eine solche Strategie sollte die industriellen Stärken und Digital Governance-Prioritäten des Landes mit seinen geopolitischen Interessen verknüpfen.
Dieser Bericht skizziert einen integrierten Ansatz, welcher auf sieben miteinander verbundenen Teilen eines „Technologiepolitik-Stacks“ basiert. Für dieses Projekt hat die DGAP 38 Fachleute dazu eingeladen, einer Arbeitsgruppe beizutreten und zwischen Juli und Oktober 2021 an sieben vertraulichen Workshops über die entscheidenden strategischen Dimensionen von Deutschlands internationaler Digitalpolitik teilzunehmen. Zu den Mitgliedern der Arbeitsgruppe gehörten: politische Mandatsträgerinnen und -träger sowie Kandidatinnen und Kandidaten, hochrangige deutsche Regierungsvertreterinnen und -vertreter, Parteimitarbeiterinnen und -mitarbeiter, die für digitale Plattformen und die Ausarbeitung von Koalitionsverträgen zuständig sind, Expertinnen und Experten für Technologie und Außenpolitik, Vordenkerinnen und Vordenker im Digitalbereich, Managerinnen und Manager von Technologieunternehmen, Akademikerinnen und Akademiker aus den Technik-, Wirtschafts- und Politikwissenschaften sowie Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft und von Organisationen, die sich für digitale Rechte einsetzen. Außerdem luden wir weitere Expertinnen und Experten dazu ein, an einzelnen Workshops teilzunehmen. Jeder Workshop befasste sich mit jeweils einem Teil von Deutschlands „Technologiepolitik-Stack“. Darüber hinaus wurden während der Entstehung dieser Reihe von Berichten Mitglieder der Arbeitsgruppe periodisch konsultiert.
Wir bedanken uns bei der Open Society Initiative for Europe für ihre großzügige Unterstützung, die dieses Projekt ermöglicht hat.
Die Web-Version dieses Berichts enthält keine Fußnoten und Grafiken. Für die Quellenangabe laden Sie bitte die PDF-Version der Studie hier herunter.