Memo

18. Juni 2024

Die Zukunft der US-Ukrainehilfe ist ungewiss

Deutschland muss seine Unterstützung beschleunigen und ausbauen
Scholz schüttelt Selenskyj die Hand
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Die Unterstützung der USA ist seit Kriegsbeginn für die Ukraine unverzichtbar. Doch wie es nach der US-Wahl um sie steht, bleibt ungewiss. Deutschland und Europa müssen ihre Unterstützung dringend erweitern, beschleunigen und verstetigen, um der Ukraine künftig schneller und mehr militärische Ausrüstung zur Verfügung stellen zu können. Im Fall eines Wahlsiegs von Trump sollten sie auf seinen transaktionalen Politikstil eingehen, aber deutlich machen, dass sie keine Verhandlungslösungen akzeptieren, die auf Kosten der Ukraine gehen.

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Dieses Memo ist Teil der Reihe „Weichenstellung für die transatlantischen Beziehungen“. In dieser Reihe analysieren DGAP-Expertinnen und -Experten im Vorfeld der US-Präsidentschaftswahl 2024 verschiedene Szenarien und deren potenzielle Auswirkungen auf die transatlantischen Beziehungen. Weitere Informationen und Beiträge finden Sie hier.

Russlands Krieg ist nicht nur ein Angriff auf die Ukraine, sondern auch eine Bedrohung für ganz Europa. Mit ihrer Selbstverteidigung schützt die Ukraine somit auch Europas Sicherheit. Das Eintreten für die Unabhängigkeit, territoriale Integrität und euroatlantische Integration der Ukraine liegt deshalb im strategischen und sicherheitspolitischen Interesse Deutschlands und der EU. Für die umfassende militärische Unterstützung und langfristige Stärkung der ukrainischen Verteidigungsfähigkeit mangelt es vielen europäischen Staaten jedoch an ausreichenden Ressourcen und politischem Willen, sodass die US-Unterstützung bisher unverzichtbar ist.

USA als wichtigste Ukraine-Unterstützer

Die USA haben die Ukraine seit Kriegsbeginn politisch, militärisch, finanziell und humanitär umfassend unterstützt, die Koordinierung der westlichen Militärhilfe angeführt, und gemeinsam mit den G7-Partnern die Russland-Sanktionen erweitert. Die USA haben seit 2022 mehr als 69 Milliarden US-Dollar an Militärhilfe zugesagt und liegen damit immer noch über den Zusagen der europäischen Staaten. Gleichzeitig haben sie ihre NATO-Präsenz in Europa ausgebaut; ein „Pivot to Asia“, wie befürchtet, zulasten der Präsenz in Europa hat sich unter Präsident Joe Biden bisher nicht ergeben.

Im US-Kongress wurde die Ukraine-Unterstützung lange Zeit parteiübergreifend befürwortet, obwohl viele Republikaner und auch einige Demokraten kritisieren, dass Bidens Ukrainepolitik eine klare Strategie fehlt. Seit dem Wiedererstarken Donald Trumps spaltet das Thema die Republikaner zunehmend, sodass ein neues Hilfspaket monatelang im Kongress blockiert wurde – mit gravierenden Folgen für die Ukraine. Mithilfe des Hilfspakets von April, dem ungefähr die Hälfte der Republikaner im Kongress zugestimmt hat, ist die Ukraine-Unterstützung bis 2025 gesichert. Um die US-Hilfe zu verstetigen, hat die Biden-Regierung mit der Ukraine ein Sicherheitsabkommen vereinbart, das idealerweise auch vom Senat gebilligt wird („Article II treaty“).

Gleichzeitig mit dem Hilfspaket hat der Kongress ein Gesetz („REPO“ Act) verabschiedet, dass es der US-Regierung ermöglicht, in den USA eingefrorene russische Staatsvermögen in Höhe von circa 5 Milliarden Dollar zu beschlagnahmen und in einen Fonds zum Wiederaufbau der Ukraine zu übertragen. Das Gesetz fordert die Regierung auf, mit den internationalen Partnern einen Entschädigungsmechanismus für die Ukraine anzustreben. Es hat den politischen Druck weiter erhöht, Maßnahmen zum weiteren Umgang mit den eingefrorenen russischen Staatsreserven zu treffen. Da einige europäische Regierungen eine vollständige Konfiszierung der in Europa hinterlegten russischen Anlagen in Höhe von rund 210 Milliarden Euro ablehnen, wurde zuletzt im Rahmen der G7 eine Zwischenlösung erzielt. Demnach sollen die Zinserträge der eingefrorenen Konten genutzt werden, um ein 50 Milliarden Dollar-Darlehen für die Ukraine abzusichern (die Details werden noch verhandelt). Die Debatte zur Enteignung wird in den USA aber voraussichtlich weitergeführt, auch in Zusammenhang mit künftigen Hilfspaketen. 

Die Verzögerungen im Kongress haben gezeigt, wie anfällig die US-Unterstützung für parteipolitische Auseinandersetzungen ist, wie sehr die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine weiterhin von der US-Unterstützung abhängt und wie wenig die europäischen Partner die Rolle der USA bisher ausfüllen können. Das ist umso beunruhigender vor dem Hintergrund, dass sich die US-Politik nach den Wahlen im November grundlegend verändern könnte.

Szenarien

Biden 2.0: Unterstützung fortsetzen, Verteidigungsfähigkeit der Ukraine stärken

Eine zweite Biden-Regierung würde die Ukraine weiter unterstützen. Sie würde zudem die Bemühungen intensivieren, die ukrainischen Streitkräfte (Ukraine Future Forces) zu stärken, um sie in die Lage zu versetzen, eine erneute Aggression Russlands (zum Beispiel nach einem Waffenstillstand) glaubwürdig abzuschrecken. Bei der finanziellen und militärischen Fortsetzung der Unterstützung wäre eine Biden-Regierung jedoch weiterhin auf Haushaltsmittel durch den Kongress angewiesen. Wie Verhandlungen über weitere Hilfen ab dem Jahr 2025 ausgehen würden, hinge von den Machtverhältnissen im Kongress und der künftigen Haltung der Republikaner ab.

Die Demokraten im Kongress würden Bidens Kurs zwar unterstützen, würden aber nicht zwangsläufig über eine Mehrheit verfügen. Sollte dieser Fall eintreten, könnte eine Regierung unter Biden die Verwendung der noch verfügbaren Mittel des letzten Hilfspakets strecken. Wie sich die Republikaner im Kongress nach einer Wahlniederlage Trumps zur Ukraine-Hilfe positionieren würden, ist schwer abzusehen; die Zahl der Kritiker wird aber voraussichtlich zunehmen. Diese könnten mit einer Mehrheit in einer Kongresskammer weitere Hilfe blockieren. 

Gleichzeitig würde die Biden-Regierung (und der Kongress) eine noch stärkere Rolle der Europäer bei der Unterstützung der Ukraine einfordern. Bei künftiger US-Hilfe könnte der Anteil der finanziellen Unterstützung für die direkte Haushaltshilfe der Ukraine geringer ausfallen. Ähnliches gilt für die Militärhilfe. In den USA wird die Rüstungsproduktion, unter anderem mit Mitteln des Hilfspakets von April, zwar weiter gesteigert, um das eigene Waffenarsenal wieder aufzustocken, während die Regierung betont, dass die USA in puncto Kapazitäten in mehreren Konfliktregionen gleichzeitig handlungsfähig wären. Wie viel Militärhilfe die USA aber künftig zur Verfügung stellen können, wird auch davon abhängen, ob US-Bestände in anderen Regionen, z.B. zur Unterstützung Taiwans oder im Nahen Osten, benötigt werden. 

Trump 2.0: Drängen auf Waffenstillstands-Verhandlungen

Die Ukrainepolitik unter Donald Trump wäre um vieles unberechenbarer als unter Biden. Trump ist grundsätzlich der Auffassung, dass die Europäer viel mehr finanzielle und militärische Unterstützung leisten müssen, da das „Überleben“ der Ukraine für sie wichtiger als für die USA sei. Eine Trump-Regierung könnte die US-Hilfe vollständig einstellen, die Fortsetzung aber auch von Konzessionen der Ukraine sowie der europäischen Partner abhängig machen. 

Eine Trump-Administration könnte daneben Verhandlungen über einen Waffenstillstand mit Russland anstoßen, die die territoriale Integrität der Ukraine infrage stellen. Sie könnte dabei versuchen, die Ukraine zu Verhandlungen zu drängen, indem sie droht, andernfalls jegliche US-Unterstützung auszusetzen. Trump könnte zudem die Europäer drängen, sich seiner Initiative anzuschließen, indem er ankündigt, andernfalls die US-Verpflichtung gegenüber der NATO-Bündnisverteidigung aufzuheben. Gleichzeitig ist nicht auszuschließen, dass Trump die Ukraine-Unterstützung fortsetzt, etwa in Form von Darlehen. In diesem Kontext könnte Trump sich eventuell durch das Argument überzeugen lassen, dass auch Iran, Nordkorea und China indirekt am Krieg beteiligt sind, indem sie Russland unterstützen, mit dem Ziel, die USA und den Westen zu schwächen.

Empfehlungen 

Europa muss bei Unterstützung führende Rolle übernehmen

Unabhängig vom Ausgang der Wahlen müssen Deutschland und die europäischen Regierungen ihre Bemühungen zur Unterstützung der Ukraine verstärken, beschleunigen und verstetigen. Dies gilt insbesondere für den militärischen Bereich, da Russland seine Rüstungsproduktion massiv gesteigert hat.

Zugleich ist es entscheidend, die europäische Bevölkerung weiterhin davon zu überzeugen, dass die langfristige Unterstützung einer freien und unabhängigen Ukraine im eigenen Interesse liegt. Ein Einlenken gegenüber Putin würde diesen nur ermutigen, seine revanchistische Politik in Europa fortzusetzen. 

Europa und Biden 2.0: Gemeinsam langfristige Verteidigungsfähigkeit der Ukraine stärken

Die Bundesregierung sollte, in enger Abstimmung mit anderen europäischen Regierungen, die Zusammenarbeit mit der Biden-Regierung fortsetzen, insbesondere zur Stärkung der ukrainischen Streitkräfte und ihrer Verteidigungsfähigkeit. Außerdem sollten die Europäer gemeinsam mit der Biden-Regierung den Druck auf andere Staaten erhöhen, damit diese ihre direkte oder indirekte militärische Unterstützung Russlands einstellen.  Gleichzeitig müssen die europäischen Regierungen ihre Bemühungen zur Ausweitung und Verstetigung der Militärhilfe erhöhen. Die Biden-Regierung hat seit 2022 vielen europäischen Regierungen Zeit verschafft. Diese sollten so zügig wie möglich ihre Versäumnisse aufholen, um die Versorgungssicherheit zu stärken und damit künftig besser in der Lage zu sein, die Ukraine militärisch zu unterstützen – notfalls auch ohne umfassende US-Unterstützung.

Erstens sollten die Bundesregierung und andere europäische Regierungen der Ukraine weitere Ausrüstung aus nationalen Beständen, die sie häufig mit Verweis auf die eigene Verteidigungsfähigkeit zurückhalten, zur Verfügung stellen. Dabei geht es unter anderem um dringend benötigte Patriot-Flugabwehrsysteme.

Zweitens sollte die Bundesregierung, ebenso wie andere Regierungen, die bilaterale Sicherheitsvereinbarung mit der Ukraine entschlossen umsetzen. Dies umfasst auch finanzielle Mittel: Um die weitere militärische Unterstützung, die Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte, die Zusammenarbeit im nachrichtendienstlichen Bereich und bei der Cyberabwehr sowie die Stärkung der ukrainischen Rüstungskapazitäten auszubauen, sollte eine langfristige und verlässliche Finanzierungsgrundlage geschaffen werden. Hier könnte die Bundesregierung mithilfe einer Notlagen-Erklärung, der der Bundestag zustimmen müsste, die Schuldenbremse für die Ukraine-Unterstützung aussetzen. Zudem müssen die Bundesregierung und andere Regierungen, die Sicherheitsvereinbarungen mit der Ukraine beschlossen haben, sicherstellen, dass die bilaterale Unterstützung effektiv koordiniert wird, zum Beispiel im Rahmen des NATO-Ukraine-Rats.

Drittens sollten die Versäumnisse beim Ausbau der rüstungsindustriellen Kapazitäten und der Beschaffung von Ausrüstung und Munition schnell aufgeholt werden. So konnte das von den EU-Regierungen im Jahr 2023 gesetzte Ziel, der Ukraine bis März 2024 eine Million Artilleriegeschosse zur Verfügung zu stellen, nicht eingehalten werden. Zuletzt hat die Bundesregierung die Bemühungen zur Steigerung der Rüstungsproduktion verstärkt, darunter zum Aufbau einer neuen Munitionsfabrik; aber auch die Produktion von Raketen für Flugabwehrsysteme und Ersatzteile verschiedener Systeme, an denen es der Ukraine mangelt, sollte in Deutschland und anderen europäischen Staaten mittels Abnahmezusagen weiter gesteigert werden. Um in der EU künftig die Produktion und den Anteil gemeinsamer Beschaffungen zu erhöhen und Kosten zu senken, sollten die Bundesregierung und ihre Partner, die von der Europäischen Kommission im März vorgelegte Strategie für die Verteidigungsindustrie unterstützen, verabschieden und auch nutzen. Auch die Gründung von Joint Ventures zwischen nationalen und ukrainischen Unternehmen sollte gefördert werden, um eine schnellere Wartung, Reparatur und Produktion von Ausrüstung in der Ukraine zu ermöglichen.

Zugleich müssen die Bemühungen verstärkt werden, weltweit Militärmaterial zu erwerben, wie es bereits im Rahmen der „Immediate Action on Air Defence“ oder der tschechischen Initiative zur Munitionsbeschaffung versucht wird. 

Bei diesen Beschaffungsinitiativen könnten weitere internationale Partner eingebunden werden. Mit den G7-Partnern Japan und Kanada besteht bereits eine regelmäßige Abstimmung zur Ukraine-Unterstützung, darunter im Sanktionsbereich. Aber auch Partner wie Südkorea und Australien haben, mit Blick auf die Abschreckungswirkung gegenüber China, großes Interesse an der erfolgreichen Verteidigung der Ukraine. Südkorea hat bereits indirekt eine wichtige Rolle bei der Bereitstellung von Munition gespielt. Die internationalen Partner könnten künftig auch im Rahmen der „Fähigkeitskoalitionen“ zur Stärkung der ukrainischen Streitkräfte und ihrer Interoperabilität eingebunden werden.

Europa und Trump 2.0: Deutliche Position bei Verhandlungen vertreten

Gegenüber einer Trump-Regierung sollten die europäischen Regierungen einerseits auf Trumps transaktionalen Politikstil eingehen, aber auch eine klare Position zu möglichen Verhandlungslösungen vertreten.

Erstens sollten sie gegenüber Trump deutlich machen, dass sie bereit sind, mittelfristig den Großteil der finanziellen und militärischen Ukraine-Unterstützung zu schultern. Zweitens könnten sie darauf hinweisen, dass sie auch künftig einen wesentlichen Anteil der Rüstungsgüter sowohl für die nationale Verteidigung als auch für die Ukraine-Unterstützung bei US-Unternehmen beziehen werden, was bereits häufig der Fall ist, und aufgrund des Mangels an europäischen Kapazitäten vorerst weiter notwendig sein wird. Trump könnte bereit sein, sich in der Ukrainepolitik vorerst zurückzuhalten. Der Bundesregierung sollte bewusst sein, dass sie Zielscheibe von Trumps Kritik bleiben wird. Deshalb wären andere europäische Partner wie Polen, das einen Verteidigungsetat von über 4 Prozent seines BIP aufweist und damit die NATO-Zielmarke übertrifft und das Anfang 2025 die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, gemeinsam mit dem oder NATO-Generalsekretär*in gegenüber einer Trump-Regierung voraussichtlich eine bessere „Stimme“ der europäischen Ukraine-Unterstützer.

Gleichzeitig sollten die europäischen Ukraine-Unterstützer Trump deutlich machen, dass sie zwar grundsätzlich Verhandlungsinitiativen über einen Waffenstillstand begrüßen, aber keine Gespräche über den Kopf der Ukrainer hinweg und keine Verhandlungsresultate akzeptieren würden, die gegen die Interessen der Ukraine, ihrer Unabhängigkeit und territorialen Integrität verstoßen. Diese Haltung ist jedoch nur dann glaubwürdig, wenn die europäischen Ukraine-Unterstützer tatsächlich imstande sind, das Land notfalls auch ohne die USA militärisch umfassend zu unterstützen.

Dabei geht es nicht nur um Ressourcen, sondern auch um Strukturen und Prozesse. Sollten die USA unter Trump tatsächlich ihre Ukraine-Unterstützung einstellen, würde dies wahrscheinlich auch einen Rückzug aus den von den USA geführten Formaten zur Koordinierung der westlichen Militärhilfe bedeuten, insbesondere die Kontaktgruppe für die Verteidigung der Ukraine sowie die Security Assistance Group – Ukraine. Die Europäer sollten daher frühzeitig planen, wie sie die Prozesse organisieren könnten, um notfalls die Rolle der USA zu ersetzen.

Bibliografische Angaben

Tolksdorf, Dominik. “Die Zukunft der US-Ukrainehilfe ist ungewiss.” DGAP Memo 12 (2024). German Council on Foreign Relations. June 2024.

ISSN 749-5542

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