Report

19. Juli 2023

Die US-Wahlen 2024 und die Ukraine

Was bestimmt Amerikas Politik, und was kann Europa tun?
U.S President Joe Biden, left, greets, Ukrainian President Volodymyr Zelenskyy, right, before a meeting of the NATO-Ukraine Council at the NATO Summit

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine offenbart, wie groß die sicherheitspolitische Abhängigkeit Europas von den USA ist. Als wichtigster Unterstützer der Ukraine sind die USA seit Kriegsbeginn die unverzichtbare Führungsmacht des Westens. Umso größere Sorgen machen sich viele Europäer mit Blick auf die US-Wahlen im November 2024. 

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Zwar gibt es in den USA bisher einen relativ breiten Konsens, was die Hilfe für die Ukraine anbelangt. Sollte Donald Trump oder ein ähnlich gesinnter Politiker in das Weiße Haus einziehen, ist ein Kurswechsel trotzdem möglich. Angesichts dieser Ungewissheit sollten die Europäer das Zeitfenster bis zu den US-Wahlen nutzen, um die Grundlagen für die weitere transatlantische Zusammenarbeit zu stärken. Zugleich sollten sie sich darauf vorbereiten, mehr Verantwortung für die Sicherheit ihres Kontinents zu übernehmen. 

 

Das Wichtigste in Kürze
Die US-Regierung und der Kongress betrachten ihre Unterstützung für die Ukraine als zentrales Element im Systemwettbewerb mit Russland und China; ein entschiedenes Eintreten für die Ukraine liegt demnach im geostrategischen Sicherheitsinteresse der USA. Das spricht dafür, dass der Kongress auch künftig für Ukraine-Hilfen stimmen wird.
Mit anhaltender Kriegsdauer nehmen in den USA jedoch die Auseinandersetzungen um die Strategie der Ukraine-Unterstützung zu, die im Wahljahr zusätzlich von den parteipolitischen Auseinandersetzungen um Haushaltskürzungen beeinflusst werden. Im republikanischen Vorwahlkampf wird die Ukrainepolitik zu scharfem Streit zwischen den Kandidatinnen und Kandidaten führen, die in Befürworter und Gegner der Ukraine-Unterstützung gespalten sind.
Eine mögliche Trump-Präsidentschaft würde zu großer Unsicherheit in Bezug auf die weitere Ausrichtung und Verlässlichkeit der US-Ukrainepolitik führen. Die USA würden voraussichtlich als Führungsmacht der westlichen Partner bei der Ukraine-Unterstützung wegfallen.
Die Europäer müssen sich in jedem Fall darauf einstellen, dass die US-Ukrainehilfe – egal unter welcher Regierung – künftig geringer ausfallen wird. Beide Parteien erwarten von Deutschland und Europa mehr Engagement.
Es liegt im dringenden Eigeninteresse Deutschlands und Europas, die Zeit bis zu den US-Wahlen zum Ausbau ihrer militärischen Fähigkeiten zu nutzen, um die Ukraine langfristig militärisch angemessen unterstützen zu können und die eigene Verteidigungsfähigkeit zu stärken. Zu diesem Zweck sollte auch die Konsolidierung der europäischen Rüstungsindustrie beschleunigt werden.
Je nach Wahlausgang sollte sich Europa auch längerfristig eng mit den USA abstimmen, um den Wiederaufbau der Ukraine und den EU-Vorbeitrittsprozess des Landes zu fördern. Dabei sollten die USA, EU und andere internationale Partner eine gemeinsame Konditionalität gegenüber der Ukraine nutzen. Auch eine gemeinsame Position zum Umgang mit den beschlagnahmten russischen Staatsreserven ist wichtig.

Lesen Sie die komplette Studie inkl. Fußnoten und Quellenangaben hier als PDF-Version der kompletten Studie.

 

Einleitung

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine offenbart, welche Bedrohung Russland für Europa darstellt. Er zeigt aber auch, wie dringend die europäischen Staaten auf die politische Führung und militärische Hilfe der USA angewiesen sind – bei der Unterstützung der Ukraine ebenso wie zum eigenen Schutz vor Russland. Unter Präsident Joe Biden konnten sich die Europäer dieser Hilfe sicher sein. Die US-Wahlen im November 2024 schaffen nun aber Unsicherheiten. Diese Studie analysiert die Faktoren, die den Kurs der USA bestimmen werden und beschreibt, welche Handlungsoptionen Deutschland und Europa haben.

Seit Jahrzehnten streben die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union eine wirksamere gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik an, um autonom und auch abseits der NATO auf Krisen oder gar militärische Konflikte in der europäischen Nachbarschaft reagieren zu können. Damit ist die Absicht verbunden, die hohe sicherheitspolitische Abhängigkeit Europas von den USA schrittweise zu verringern. Die Notwendigkeit dafür wurde insbesondere während der Präsidentschaft von Donald Trump deutlich, der vielen europäischen Verbündeten vorwarf, sicherheitspolitische Trittbrettfahrer der USA zu sein. Außerdem bestehen schon länger Bestrebungen in den USA, den außenpolitischen Fokus vermehrt auf China zu richten und die sicherheitspolitischen Verpflichtungen in Europa zu reduzieren. Gleichzeitig haben europäische Entscheidungsträger wie Präsident Emmanuel Macron mehr „strategische Autonomie“ der EU gefordert.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat allerdings die Schwächen der EU und vieler ihrer Mitgliedstaaten im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik verdeutlicht und die Debatte um strategische Autonomie vorerst gedämpft. Der Krieg zeigt auf, dass sich an den europäischen Defiziten, die bereits vor Jahrzehnten sichtbar getreten waren, als die europäischen Partner in den Kriegen in Bosnien-Herzegowina und Kosovo auf die politische und militärische Führung der US-Regierung angewiesen waren, nicht viel geändert hat. Zwar gab es auf Seiten der EU Fortschritte durch die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die Reformen des Lissabon-Vertrags. Dennoch haben es viele europäische Staaten seit 1999 offensichtlich versäumt, ausreichende militärische Fähigkeiten aufzubauen, um auf einen Krieg in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft angemessen reagieren zu können.1 Der russische Angriff zeigt zudem, dass militärische Abschreckung und Wehrfähigkeit wichtige Elemente der europäischen Sicherheit bleiben.

Gleichzeitig haben die USA durch ihre umfassende Unterstützung der Ukraine und die Verstärkung ihrer militärischen Schutzmaßnahmen für die europäischen NATO-Staaten ihre Relevanz für die europäische Sicherheit in Bezug auf militärische Fähigkeiten und politische Führung unterstrichen. Das hat viele EU-Mitglieder, insbesondere in Ost- und Mitteleuropa und im Baltikum, bestätigt, die in den USA den wichtigsten Garanten für Europas Sicherheit sehen. Umso größer ist in weiten Teilen Europas (und nicht zuletzt der Ukraine selbst) die Sorge vor einem Wahlsieg des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump. Von ihm befürchtet man, dass die USA ihre Unterstützung für die Ukraine einstellen und sich aus der europäischen Sicherheit zurückziehen könnten. Dies hat in vielen europäischen Staaten ein Gefühl der Dringlichkeit geweckt, die eigenen militärischen Fähigkeiten noch vor den US-Wahlen Ende 2024 zu stärken, auszubauen und besser miteinander zu verknüpfen.

Wie wahrscheinlich ist aber ein grundlegender Kurswechsel in der US-amerikanischen Ukrainepolitik und die Einstellung der Ukraine-Unterstützung? Welche Ziele verfolgt heute die Regierung von US-Präsident Joe Biden mit ihrer Hilfe für die Ukraine, auf welchen Argumenten beruht die breite überparteiliche Unterstützung im US-Kongress dafür, und von welchen innen- und außenpolitischen Faktoren hängt die künftige US-Unterstützung ab? Wie könnte sich die Ausrichtung der US-Ukrainepolitik nach den Wahlen im nächsten November ändern, und welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus für Deutschland und Europa?

Diese Studie beleuchtet, welche Faktoren für die bisherige Unterstützung der USA für die Ukraine entscheidend sind und wie sich diese mittelfristig ändern könnten. Es wird gezeigt, dass die Ukraine-Hilfe sich in die außenpolitische Zielsetzung der Biden-Regierung einpasst, im Systemkonflikt mit autokratischen Staaten wie Russland für eine regelbasierte internationale Ordnung einzutreten. Welche Rolle der Systemwettbewerb mit China spielt, den beide große Parteien in den USA als die wichtigste Herausforderung für die nationale Sicherheit ihres Landes betrachten, wird im nächsten Abschnitt beleuchtet. Im dritten Teil der Studie folgt eine Analyse der Faktoren, die die US-Ukrainepolitik voraussichtlich weiter beeinflussen werden: der Umgang mit Knappheiten beim Nachschub von Militärausrüstung und Munition; schärfere Auseinandersetzungen über die Strategie der Unterstützungspolitik; Fragen nach der politischen Aufsicht und Kontrolle über die Verwendung der bewilligten US-Mittel; die Debatte um Haushaltskürzungen; und der anstehende Vorwahlkampf der Republikaner, in dem Donald Trump und ähnlich gesinnte Kandidaten die bisherige Ukrainepolitik und den Unterstützungsbeitrag der europäischen Alliierten scharf kritisieren werden.

Vor diesem Hintergrund stellt der letzte Teil der Studie die wichtigsten Implikationen für Europa und Deutschland heraus und untersucht die relevanten Handlungsfelder bei der weiteren Unterstützung der Ukraine. Kurzfristig zählen dazu die frühzeitige Festlegung klarer Prinzipien, damit die Ukraine nach Kriegsende schnell der NATO beitreten kann, sowie Maßnahmen, um die weitere militärische Unterstützung der Ukraine zu gewährleisten, die Umsetzung der Sanktionen gegen Russland effektiver zu machen und China von der direkten Unterstützung Russland abzuhalten. Voraussichtlich nach den US-Wahlen und spätestens nach Beendigung der Kampfhandlungen werden außerdem die Förderung des Wiederaufbauprozesses und der wirtschaftlichen Entwicklung der Ukraine, der Umgang mit den beschlagnahmten russischen Staatsreserven und die Förderung des EU-Vorbeitrittsprozess wichtig werden.



 

Bibliografische Angaben

Tolksdorf, Dominik. “Die US-Wahlen 2024 und die Ukraine .” July 2023.

DGAP Bericht Nr. 8, 19. Juli 2023, 40 Seiten

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