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26. Juni 2012

Die neue deutsche Frage

Deutschlands Europapolitik aus der Sicht anderer EU-Länder

Über die Berliner Sicht der Eurokrise wird viel geschrieben. Diese Studie dreht den Spieß um: Analysten anderer EU-Länder diskutieren die „neue deutsche Frage“ und die Berliner Europapolitik aus ihrer Perspektive. Die anderen Regierungen pflegen demnach einen nationalen Narzissmus, mit dem sie sich von Deutschland abgrenzen wollen. „Deutschlands Erfolg verstört seine Partner,“ sagen die Europa-Experten Almut Möller und Roderick Parkes und warnen vor einer Zementierung der Unterschiede.

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„Nationaler Narzissmus" bestimmt die Debatte um die europäische Schuldenkrise, so die Autoren des EPIN-Papers: EU-weit lassen Regierungen, Politiker und Kommentatoren im Zusammenhang mit der deutschen Europapolitik ihre eigene nationale Geschichte aufleben und fragen mitunter pathetisch, was die Krise über ihr Land aussagt. Gestandene EU-Mitglieder wie Frankreich, Italien und Großbritannien grenzen sich bewußt vom deutschen Kurs der Euro-Rettung ab und machen es zum Teil ihrer Identität, nicht wie Deutschland zu sein. Aus dieser Perspektive fußt die Europäische Integration weniger auf der Überwindung von Unterschieden als vielmehr auf deren Zementierung, schreiben die Autoren.

Möller und Parkes kommen zu dem Schluss, dass Deutschlands Ruf insgesamt besser ist als gemeinhin angenommen. Deutschlands Erfolg verstört aber gleichzeitig seine Partner. Berlin müsse daher sensibler mit den Empfindlichkeiten der anderen EU-Länder umgehen, um sich nicht weiter von seinen Partnern zu entfernen.

Almut Möller leitet das Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen an der DGAP. Roderick Parkes leitete bis Mitte 2012 das Brüsseler Büro der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und arbeitet ab Juli 2012 am Polish Institute of International Affairs (PISM) in Warschau. Die DGAP ist mit dem Alfred von Oppenheim-Zentrum Mitglied im European Policy Institutes Network (EPIN).

Vorwort von António Vitorino

Als Mitglied der Europäischen Kommission von 1999 bis 2004 habe ich die Entwicklung der Rolle Deutschlands innerhalb der EU aufmerksam verfolgt. Deutschland erlebte damals eine Art „Normalisierung“: Gerhard Schröder, der erste nach dem Zweiten Weltkrieg geborene Bundeskanzler, hatte den Mut, festzustellen, dass Deutschland eigene nationale Interessen habe, die sich nicht notwendigerweise mit den europäischen deckten. Die „deutsche Macht“ war wieder da.

Ich erinnere mich auch daran, dass es Deutschland bei den Verhandlungen zum Vertrag von Nizza im Dezember 2000 gelang, den anderen Mitgliedstaaten, vor allem Frankreich, aufzuzwingen, dass die Anzahl der deutschen Mitglieder im Europäischen Parlament seiner Stellung als größtem Mitgliedstaat der Union entsprach. Auch bei den Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen der EU (2007–2014) hielt Deutschland an einer harten Linie fest. Und bei der EU-Erweiterung um die ost- und mitteleuropäischen Länder 2004 und 2007, die im Einklang mit den deutschen Interessen in der Region stand, spielte es ebenfalls eine Schlüsselrolle.

Als Kommissar habe ich zudem Deutschlands politisches System und seine potenziellen Auswirkungen auf die Europapolitik kennengelernt. Waren es seinerzeit 15 EU-Minister, die sich bei den Treffen des Europäischen Rats versammelten, traf ich in Deutschland mehrmals mit den für Justiz und Inneres zuständigen Ministern der 16 Bundesländer zusammen. Die Prinzipien der Subsidiarität und der Kompetenzteilung sind in Deutschland im Vergleich zur Situation auf EU-Ebene wohlbekannt. Ich hatte die Gelegenheit, 2001/2002 gemeinsam mit Michel Barnier beim Konvent über die Zukunft Europas die Kommission zu repräsentieren, und ich kann mich genau daran erinnern, wie die deutschen Vertreter versuchten, diesen beiden Prinzipien innerhalb des neuen Rahmenwerks für die Europäische Union stärkeres Gewicht zu verschaffen. Ihre Forderung, einen Kompetenzkatalog zu erstellen, wurde abgelehnt, doch in der Frage der „geteilten Befugnisse“ setzten sie eine klarere Definition der europäischen Zuständigkeiten durch.

Als portugiesischer Staatsbürger dürfte meine Wahrnehmung des deutschen Krisenmanagements in der Staatsschuldenkrise etwas anders ausfallen. Deutschlands Regierung steht einigen Mitgliedstaaten, darunter auch meinem eigenen Land, sehr kritisch gegenüber. Doch muss man sich die enorme Entwicklung der deutschen Position in Sachen Finanzhilfen und Wirtschaftsregierung während der Griechenlandkrise und darüber hinaus klarmachen. Während des EU-Konvents war Deutschland noch nicht einmal bereit, darüber zu diskutieren, wie eine Wirtschaftsregierung auf europäischer Ebene aussehen könnte; ein Jahrzehnt später ergreift es die Initiative und wirbt für ein rechtliches Rahmenwerk, das auf fiskalischer Disziplin basiert. Das mag noch nicht ausreichen, um die nationale Wirtschaftspolitik der EU-Länder so zu koordinieren, dass die Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit beseitigt werden, aber es ist nichtsdestotrotz ein außerordentlich wichtiger Schritt nach vorn.

Deutschlands Problem ist nicht so sehr, dass es mit seiner Forderung nach fiskalischer Disziplin Recht hat. Es muss vielmehr lernen, wie es Recht haben sollte. Das ist aus politischer Sicht der schwierigste Punkt, den es zu bewältigen gilt. Der deutsche Ordoliberalismus verlangt nach Strenge, Sparsamkeit und nach Maßnahmen zur finanziellen Konsolidierung. Doch man braucht auch Wirtschaftswachstum, um die Märkte zu beruhigen und die negativen Auswirkungen der Rezession so gering wie möglich zu halten. Die deutsche Politik hat das inzwischen begriffen, wie der von den fünf Wirtschaftsweisen vorgeschlagene Schuldentilgungspakt und jüngste öffentliche Äußerungen zur Inflation in der Eurozone und zur Entwicklung der deutschen Binnennachfrage belegen. Man könnte sagen, dass Berlin seine ökonomischen Präferenzen in steigendem Maße den anderen Ländern der Eurozone aufzwingt. Aber wenn wir diesen Grad an wirtschaftlichem Erfolg genössen, wären wir nicht auch versucht, die anderen von den Vorzügen unserer Methoden zu überzeugen?

Als Präsident von Notre Europe, einer Organisation mit einer wahrhaft paneuropäischen Vision, möchte ich eines unterstreichen: Es herrscht keinerlei Zweifel daran, dass Deutschland stark im europäischen Projekt verankert bleiben will. Die Erklärungen von Bundeskanzlerin Merkel sind in dieser Hinsicht sehr eindeutig. Sie fordert sogar mehr EU-Integration, wie man den Beschlüssen des letzten CDU-Parteitags und vielen ihrer jüngsten Reden entnehmen kann.

Deutschland erlebt derzeit seinen „unipolaren Moment“ in Europa. Die deutsche Regierung und Verwaltung fühlen sich in dieser Situation, die auch Gefahren für den Zusammenhalt und das Fortbestehen des europäischen Projekts birgt, nicht ganz wohl. In der Außenpolitik wie in der Wirtschaft kann Deutschland in der EU entschiedene Führungsstärke ausüben. Doch es muss dies auch wollen. Alle anderen Mitgliedstaaten erkennen die De facto-Führungsrolle Deutschlands an, sind aber oft nur zögerlich bereit, sich das volle Ausmaß der Konsequenzen vor Augen zu führen. Deutschland wiederum muss Sorge tragen, die europäischen Partner nicht im Stich zu lassen, wenn es um den Einsatz ökonomischer Instrumente zur Erreichung außenpolitischer Ziele geht.

Das Hauptaugenmerk des EPIN-Working-Papers „Deutschland aus Sicht der anderen Mitgliedstaaten“ richtet sich auf die Darstellung der verschiedenen Haltungen der Mitgliedsländer gegenüber Deutschland. Sie ermöglicht dem Leser, einige interessante Schlüsse zu ziehen und die Länder in verschiedene Kategorien einzuordnen:

Viele nord- und osteuropäische Länder stehen der deutschen Haltung in der Krise eher positiv gegenüber. Diese Länder sind wirtschaftlich oft eng mit Deutschland verflochten und/oder haben ähnliche kulturelle Standards. Viele osteuropäische Länder erinnern sich auch daran, dass Deutschland im EU-Erweiterungsprozess nach dem Ende des Kommunismus eine wichtige und positive Rolle gespielt hat.

Die südeuropäischen Länder dagegen stehen der deutschen Haltung eher kritisch gegenüber. Sie üben teils sehr heftige Kritik, wie im Falle Griechenlands, wo Deutschland „als Inbegriff des Bösen und als Hauptverantwortlicher für die griechische Tragödie gilt“. Diese Länder sind von der Krise stark betroffen und nicht bereit, zu akzeptieren, was sie in einigen Phasen der Eurokrise als einen Mangel an deutscher Solidarität wahrnehmen.

Und schließlich glaube ich, dass man sich den Fall Frankreichs anschauen sollte, nicht nur wegen der besonderen Beziehungen zwischen beiden Ländern, sondern auch, weil es oft heißt, wenn sich Deutschland und Frankreich einig werden, dann können sich die anderen Länder anschließen. Kulturell steht Frankreich, anders als Deutschland, den südeuropäischen Ländern in vielerlei Hinsicht nahe. Doch beide Länder brauchen einander: Deutschland braucht Frankreich, um seine Entscheidungen zu legitimieren, Frankreich braucht Deutschland, um weiterhin eine Schlüsselrolle in der europäischen Politik zu spielen. Das „Merkozy“-Tandem ist scharf kritisiert worden: Es hat versucht, Lösungen für die Krise zu finden, doch es wäre klüger gewesen, gegenüber den anderen EU-Ländern offener zu sein und der Rolle der europäischen Institutionen mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Der neue französische Präsident François Hollande ist sich der Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen bewusst. Seinen ersten Auslandsbesuch im Präsidentenamt hat er bewusst in Deutschland gemacht, um Angela Merkel zu treffen. Sie mögen in der Frage Sparpolitik versus Wachstum nicht die gleichen Prioritäten setzen, doch sie neigen beide zu einer konsensorientierten Haltung. Das könnte sich als sehr hilfreich erweisen, wenn es darum geht, die anhaltende Krise in der Eurozone zu bewältigen, zumal Hollande ebenfalls Wert darauf legt, die europäischen Institutionen und die anderen EU-Mitgliedstaaten mit einzubeziehen, was ich begrüße. Jenseits der Finanz- und Wirtschaftskrise leidet die EU aber auch an einer Vertrauenskrise, und Deutschland kommt weiterhin eine wichtige Rolle bei ihrer Bewältigung zu.

António Vitorino ist Präsident von Notre Europe.

Bibliografische Angaben

Möller, Almut, and Roderick Parkes. “Die neue deutsche Frage.” June 2012.

EPIN Working Paper 33: Germany as Viewed by Other EU Member States, Juni 2012, 77 S.

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