Zentrale Erkenntnisse |
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Die Verschmelzung technologischer, geopolitischer und ideologischer Ambitionen befördert Spannungen in Internet Governance-Diskursen, Cyberdiplomatie, technischer Standardsetzung und der globalen Konnektivitätsinfrastruktur. |
Die Bundesregierung hat die Unterstützung einer globalen, offenen und sicheren digitalen Vernetzung zu einem wichtigen Bestand-teil ihrer Außenpolitik erklärt. Sie hat jedoch bisher die Ausarbeitung einer entsprechenden internationalen Technologieagenda noch nicht zu einer strategischen Priorität gemacht. |
Um eine globale Technologieordnung zu schaffen, die die Interessen Deutschlands als Hightech-Vorreiter, globalisierte Volkswirtschaft und liberale Demokratie widerspiegelt, sollte sich die Bundesregierung darauf konzentrieren, Synergien mit der internationalen Digitalpolitik der EU auszuschöpfen, die Kooperation mit gleichgesinnten Partnern zu stärken und sich mit dem Globalen Süden für eine in-klusive und demokratische globale digitale Agenda einzusetzen. |
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Einleitung
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die auf Stabilität ausgerichtete deutsche Strategie des „Wandels durch Handel“ erschüttert. Er hat damit ebenfalls erhebliche Auswirkungen auf die deutsche digitale Außenpolitik, die sowohl wichtige geopolitische als auch ideologische Dimensionen hat. China drängt in seinem Bestreben, die Vereinigten Staaten bis zur Mitte dieses Jahrhunderts als Großmacht zu überbieten, bereits jetzt auf Technologieführerschaft. Autoritäre Regierungen nutzen zudem digitale Technologien, die einst als Mittel gegen die Unterdrückung der Zivilgesellschaft gepriesen wurden, um ihre Macht im eigenen Land zu festigen.
Die Verschmelzung von technologischen, geopolitischen und ideologischen Ambitionen befördert Spannungen in Internet Governance-Diskursen, Cyberdiplomatie, technischer Standardsetzung und der globalen Konnektivitätsinfrastruktur. Um diesem Trend entgegenzuwirken, muss die Bundesregierung ihre internationalen Anstrengungen verstärken und eng mit Partnern und Verbündeten zusammenarbeiten. Sie muss sich aktiv für eine Governance-Landschaft einsetzen, welche Deutschlands Interessen und Werte als Hightech-Vorreiter, globalisierte Volkswirtschaft und liberale Demokratie widerspiegelt.
Status quo
Im Mittelpunkt der Fragmentierung, die die internationale digitale Governance durchdringt, steht der Wettbewerb um die Kontrolle über globale digitale Konnektivität. Das ursprüngliche Konzept eines offenen, globalen, dezentralisierten und von mehreren Stakeholder-Gruppen verwalteten Internets steht im Widerspruch zu den Bestrebungen einiger Staaten, Informationsflüsse und die politische Meinungsäußerung stärker zu kontrollieren. So stellten China und Russland gemeinsam klar, dass sie „jeden Versuch, ihr souveränes Recht einzuschränken, nationale Segmente des Internets zu regulieren und ihre Sicherheit zu gewährleisten“ für inakzeptabel halten. Ebenso besorgniserregend ist die zunehmende Einführung von Systemen zur Inhaltsüberwachung sowie Internetsperren, wie beispielsweise während der Proteste gegen die Regimes in Belarus (Sommer 2020), Kasachstan (Winter 2021–2022) und Iran (Herbst 2022).
Diese konkurrierenden Visionen führen zu einer Verschärfung der Auseinandersetzungen rund um das Internet selbst, vor allem innerhalb der Gremien, die es verwalten und weiterentwickeln. Als Antwort hierauf haben die demokratischen Staaten des Globalen Nordens – darunter auch Deutschland – ihre Unterstützung für technische Internet Governance nochmals bestärkt. Diese fußt vor allem auf einer Reihe von Multistakeholder-Gremien, darunter die Internet Society (ISOC), die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) und die Internet Engineering Task Force (IETF). Einige Länder treiben zudem ambitionierte Regulierungsinitiativen voran, wie das EU-Gesetz über digitale Märkte (DMA), um die Zentralisierung und Vermittlung privater und kommerzieller Online-Aktivitäten durch große Tech-Unternehmen zu begrenzen. Entscheidend ist hierbei, dass demokratische Staaten im Begriff sind eine gemeinsame politische Vision zu entwickeln, wie etwa geschehen bei dem Appell von Christchurch („Christchurch Call“) für ein freies, offenes und sicheres Internet, dem Appell von Paris für Vertrauen und Sicherheit im Cyberraum („Paris Call“) und kürzlich durch die Erklärung der G7-Staaten über resiliente Demokratien im Rahmen des Elmauer Gipfels.
Bei diesen Bemühungen stehen die Demokratien autoritären Staaten gegenüber, insbesondere China, Russland und Iran, die nationale Souveränität und staatliche Kontrolle priorisieren. Auf internationaler Ebene verstärken diese Staaten ihre Bemühungen, Governance-Funktionen von den von Deutschland und seinen Partnern unterstützten Multistakeholder-Gremien auf andere Organisationen zu übertragen. Das chinesische Unternehmen Huawei wählte beispielsweise die zwischenstaatliche Internationale Fernmeldeunion (ITU), um eine „NewIP“-Initiative zur Weiterentwicklung des Internetprotokolls (IP) einzubringen. Dies könnte nicht nur die Arbeit der Multistakeholder-Gremien und die Interoperabilität mit der bestehenden IP-Architektur untergraben, sondern, so befürchten einige, auch mehr Möglichkeiten für Informationskontrolle in dieser „logischen“ Schicht des Internets schaffen. China fördert seine Agenda für Cyber-Souveränität zudem durch den parallelen Aufbau von Institutionen. Jüngstes Beispiel hierfür ist die Gründung der Welt-Internet-Konferenz in Wuzhen als internationale Organisation.
Diese Bruchlinien kennzeichnen auch die internationale Diplomatie in Bezug auf Cybernormen. Mit dem Abschlussbericht der United Nations Open-ended Working Group (OEWG) wurde im vergangenen Jahr zum ersten Mal ein Konsens über Cybernormen in einem für alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen (VN) offenen Prozess erzielt. Besonders hervorzuheben ist, dass der Bericht eine Einigung über den Wortlaut und Empfehlungen für verantwortungsvolles staatliches Handeln, die aus den Sitzungen der United Nations Group of Governmental Experts (UN GGE) hervorgegangenen sind, enthält. Es bestehen jedoch weiterhin Uneinigkeiten, insbesondere in Bezug auf die Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure und die Konzentration auf die Umsetzung von Normen – beides Punkte, die Deutschland unterstützt. Ein von Deutschland ebenfalls unterstützter französisch-ägyptischer Vorschlag für ein Aktionsprogramm, mit dem die Zusammenarbeit durch ein ständiges UN-Forum gestärkt werden soll, droht aus dem Blickfeld zu geraten, wenn dieser nicht zeitnah Gestalt annimmt.
Auch im Bereich der Cyberkriminalität bestehen weiterhin Differenzen. Nach einem Jahrzehnt gescheiterter Versuche erreichte Russland im Dezember 2019 die Zustimmung zu einer Resolution der UN-Generalversammlung, in der die Ausarbeitung eines neuen Übereinkommens über Cyberkriminalität beschlossen wurde. Die Verhandlungen über das Übereinkommen begannen in diesem Jahr und werden bis zur 78. Tagung der Generalversammlung im Jahr 2023 fortgesetzt. Die Resolution ist jedoch ein Rückschlag für Deutschland, das die bestehende Budapest-Konvention stärken möchte, und es besteht die Sorge, dass ein neues Übereinkommen die Grundrechte unter dem Vorwand der Bekämpfung von Cyberkriminalität untergraben könnte. Dies gilt auch für die Erklärung vom XIV. BRICS-Gipfel in Peking vom Juni 2022, in der die BRICS-Staaten ihre Unterstützung für das Ad-hoc-Komitee für ein neues Übereinkommen über Cyberkriminalität bekräftigten.
Der Diskurs über Internet Governance und Cybernormen spiegelt auch einen besorgniserregenden globalen Trend unter den G77+-Staaten wider, von denen viele demokratisch sind, sich aber zwischen zwischenstaatlichen und Multistakeholder-Visionen der Internet Governance positionieren. Die G7-Erklärung über resiliente Demokratien unterstützen auch die +5 Länder (Argentinien, Indien, Indonesien, Senegal und Südafrika), die zum Gipfel in Elmau eingeladen waren. Viele dieser Länder haben jedoch gezögert, den Appell von Paris und die Erklärung zur Zukunft des Internets (DFI) zu zentralen Elementen einer globalen digitalen Ordnung zu machen – letztere wurde von Deutschland, der EU und mehr als 60 anderen Ländern unterzeichnet, um eine positive und menschenrechtsorientierte Vision für das Internet zu formulieren.
Die zunehmende ideologische Fragmentierung schlägt sich auch in den Bemühungen nieder, Einflussmöglichkeiten im Bereich der technischen Infrastruktur auszuweiten, insbesondere im Globalen Süden. Die digitale Komponente der chinesischen Seidenstraßeninitiative (BRI) zielt darauf ab, Dutzende von Ländern durch chinesische Glasfaserkabel, Satellitennavigationssysteme, Rechenzentren und 5G/6G-Netzwerkinfrastruktur zu verbinden sowie Technologien für intelligente Städte und Häfen, vorhersagende Polizeiarbeit und Gesundheitsdatenanalyse zu fördern. Diese digitale BRI erstreckt sich auf die unmittelbare Nachbarschaft der EU, einschließlich des Balkans und Nordafrikas, und auf Deutschland selbst, wo Duisburg als europäischer Endpunkt der BRI gilt.
Als Reaktion auf die BRI hat die G7 unter deutschem Vorsitz erklärt, in den kommenden fünf Jahren im Rahmen ihrer Partnerschaft für globale Infrastruktur und Investitionen (PGII) gemeinsam 600 Milliarden US-Dollar an öffentlichen und privaten Investitionen mobilisieren zu wollen. Es bleibt jedoch unklar, wie diese Mittel mobilisiert werden sollen und vor allem, wie ehrgeizig und wettbewerbsfähig die informations- und kommunikationstechnologische (IKT) Komponente der PGII im Vergleich zur der der BRI sein wird, die bereits geschätzte 79 Milliarden US-Dollar an entsprechenden Investitionen ausgezahlt hat. Darüber hinaus bleibt abzuwarten, wie die PGII mit der Ende 2021 gestarteten und 300 Milliarden Euro schweren Global Gateway-Initiative der EU zusammenwirkt. Angesichts des schwierigen geopolitischen Kontextes bleibt die Kombination verschiedener nationaler, EU- und G7-Initiativen zu einer kohärenten und wettbewerbsfähigen strategischen Antwort auf Chinas BRI eine zentrale Herausforderung für Deutschland und gleichgesinnte Staaten.
Eine solche infrastrukturbezogene Geopolitik geht auch mit einem relativen Rückgang der Fähigkeit Deutschlands und seiner europäischen Partner einher, globale technische Standards zu definieren. Insbesondere China hat mit großem Erfolg technische Expertinnen und Experten in die wichtigsten internationalen Organisationen für Standardsetzung entsandt. Zwischen 2011 und 2018 hat sich der chinesische Anteil an den Sekretariaten der Technischen Komitees/Unterkomitees und Arbeitsgruppen der Internationalen Organisation für Normung (ISO) fast verdoppelt, beziehungsweise mehr als verdreifacht. Chinesische Vertreterinnen und Vertreter haben im Jahr 2020 erstmals mehr neue technische Führungspositionen in der ISO übernommen als deutsche. Derzeit ist China sogar das einzige Land, das in allen Unterausschüssen des Joint Technical Committee (JTC 1) vertreten ist. Dieses spielt bei der Entwicklung von IKT-Normen im Rahmen der ISO/Internationalen Elektrotechnischen Kommission (IEC), einschließlich der Bereiche Cloud Computing, Internet der Dinge und KI, eine zentrale Rolle. Chinesische Staatsangehörige haben außerdem zurzeit, beziehungsweise hatten bis vor Kurzem, hochrangige Führungsposition in der ISO, der ITU und der IEC inne.
Für Deutschland und Europa birgt der schleichende Wandel vom Vorreiter zum Übernehmer neuer technischer Standards die Gefahr, dass die Industrie erhebliche Anpassungskosten zu tragen hat. Auf Deutschland entfallen zwar in der ISO und IEC immer noch mehr Sekretariate als auf die Vereinigten Staaten, China und andere wichtige Länder, doch das staatszentrierte Standardisierungssystem Chinas hat es Peking ermöglicht, seinen strategischen Einfluss in Bereichen wie KI und 5G auszuweiten. Das stellt auch ein politisches Problem dar. Standards können Werte wie einen hohen Datenschutz (oder dessen Nichtvorhandensein) begünstigen und sogar zu einer Bedrohung der nationalen Sicherheit werden, wenn sie (absichtliche) Cyberschwachstellen beinhalten, die unwissentlich weltweit übernommen werden.
Inmitten dieser Fragmentierung beginnt sich jedoch eine neue institutionelle Architektur für die Governance aufkommender Technologien zu entwickeln. KI ist ein gutes Beispiel hierfür, insbesondere mit Blick auf die von der G7 initiierten Globale Partnerschaft zur Künstlichen Intelligenz (GPAI), den Rat für künstliche Intelligenz der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), den Ad-hoc-Ausschuss für künstliche Intelligenz des Europarates (CAHAI) und die KI-Grundsätze der großen Tech-Unternehmen. Es wird erwartet, dass ähnliche Governance-Ökosysteme, Normen und Standards für Quantentechnologien, die Verwendung von Kryptowährungen, Distributed-Ledger-Technologie (Web3) sowie intelligente und grüne Technologien entwickeln werden. Dies wird Deutschland, der EU und ihren Partnern ein wichtiges diplomatisches Terrain eröffnen.
Aktueller politischer Ansatz
Deutschlands Bekenntnis zum Multilateralismus und zu einer regelbasierten Ordnung prägt seinen Ansatz in der internationalen Technologiepolitik stark. Die Förderung des Multilateralismus und die Unterstützung globaler, offener und sicherer digitaler Konnektivität steht im Mittelpunkt der Außenpolitik der Ampelkoalition.
Im Einklang mit diesem Bekenntnis ist Deutschland ein wichtiger Akteur beim Aufbau einer multilateralen Architektur für die technologische Zusammenarbeit. Dem UN High-level Panel on Digital Cooperation folgend hat Deutschland gemeinsam mit den Vereinigten Arabischen Emiraten Vorschläge für einen Rahmen für die globale digitale Zusammenarbeit unterbreitet, zu dem auch ein reformiertes Internet Governance Forum (IGF) gehört. Deutschland hat das IGF im Jahr 2019 ausgerichtet und erwägt dessen
neuerliche Ausrichtung im Jahr 2025. Außerdem treibt es auch die Schaffung einer normativen Ordnung im Cyberraum voran. Es unterstützt den Appell von Paris und engagiert sich in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Arbeit des Europarates zu künstlicher Intelligenz (CAHAI) und zu Datenschutz (Konvention 108+) sowie in der OEWG der Vereinten Nationen zu IKT im Kontext der internationalen Sicherheit.
Gleichzeitig gelingt es Deutschland nicht, seine Beteiligung in kleinen und informellen Gruppen optimal zu nutzen, um mit gleichgesinnten Staaten eine zukunftsweisende Technologieagenda zu entwickeln. Die deutsche G20-Präsidentschaft 2017 hat gezeigt, dass Deutschland in der Lage ist, Technologie als zentrales Thema zu verankern, unter anderem durch die Ausrichtung des ersten Treffens der G20 Digitalminister. Der Ansatz der Bundesregierung in Bezug auf digitale Themen bleibt jedoch in erster Linie von wirtschaftlichen Überlegungen geprägt. Während seiner derzeitigen G7-Präsidentschaft hat Deutschland seine Bedenken bezüglich Herausforderungen wie der Fragmentierung des Internets und dem digitalen Autoritarismus verstärkt geäußert. Dennoch hat sich Deutschland bisher dafür entschieden, digitale Fragen nicht zu einer strategischen Priorität zu machen.
Die Bundesregierung nutzt jedoch aktiv ihr umfangreiches diplomatisches und entwicklungspolitisches Netzwerk, um sich mit den Staaten des Globalen Südens über digitale Themen auszutauschen. Vor Kurzem hat Deutschland den regelmäßigen Digitaldialog mit wichtigen Ländern wie Brasilien, Japan und Indien wiederbelebt, um gemeinsame Forschungs- und Entwicklungsprojekte vorzubereiten, Cyber-Themen zu diskutieren und die Arbeit im multilateralen Rahmen zu koordinieren. Solche bilateralen Formate haben sich als nützlich erwiesen, und die Bundesregierung bemüht sich derzeit um ähnliche Dialoge mit Südkorea, Indonesien und Argentinien. Deutschland hat auch die strategische Bedeutung Afrikas im Digitalbereich erkannt. Seit 2015 hat es im Rahmen seiner Initiative „Digitales Afrika“ 164 Millionen Euro in digitale Projekte investiert und mehr als 200 öffentlich-private Partnerschaften im afrikanischen Technologiesektor initiiert. Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr und das Auswärtige Amt planen außerdem einen institutionalisierten Digitaldialog unter Beteiligung der Privatwirtschaft, der Zivilgesellschaft und subnationaler Regierungen der Afrikanischen Union, Kenias, Südafrikas und Ghanas. Eine verstärkte digitale Zusammenarbeit mit Ägypten wird ebenfalls in Erwägung gezogen.
Mit der wachsenden strategischen Bedeutung digitaler Technologien, hängt Deutschlands Einfluss auf die Gestaltung ihrer globalen Governance zunehmend davon ab, dass Synergien mit den Bemühungen der EU erzielt werden. Deutschlands Technologie-Diplomatie ist in eine Hinwendung zu einer eindeutig (geo-)strategisch geprägten Sichtweise auf Technologiepolitik auf EU-Ebene eingebettet. Der Digitale Kompass 2030 der EU bekräftigt, dass Technologie ein Faktor für „globalen Einfluss“ ist, und Brüssel betont, mehr als der deutsche politische Diskurs, die Verbindung zwischen digitaler Souveränität und europäischen Werten.
Die EU hat damit begonnen, diese Verbindung in eine handlungsorientierte Außenpolitik zu überführen. Dazu gehören Formate wie der Handels- und Technologierat (TTC) zwischen der EU und den USA (auf dessen Tagung in Paris beispielsweise neue IKT-Sicherheitsleitlinien für vertrauenswürdige Anbieter in Entwicklungsinitiativen auf den Weg gebracht wurden, die die EU-Toolbox für 5G-Cybersicherheit erweitern), der neue TTC mit Indien und die Global Gateway-Initiative. Vor dem Hintergrund der russischen Aggression gegen die Ukraine entwickelt sich insbesondere der europäisch-amerikanische TTC zu einem Instrument für demokratische Koordinierung in Fragen, die von Investitionsüberwachung und Ausfuhrkontrollen bis hin zu resilienten Halbleiterlieferketten reichen. Die EU eröffnet außerdem ein Büro im Silicon Valley, um die transatlantische Koordination zu Digitalthemen zu stärken.
Handlungsempfehlungen
Deutschlands Erfolg als Gestalter einer globalen Technologieordnung, die seine führende Position als Hightech-Industrienation sichert und demokratische Regierungsformen stützt, wird davon abhängen, wie erfolgreich es seine Werte und Interessen in Allianzen, Partnerschaften und Normen verankert. Hierzu sollte Deutschland:
Die Idee einer demokratischen Vertrauenszone („trust zone“) im Bereich der digitalen Technologien vorantreiben. Diese Vertrauenszone würde den Austausch von Wissen, Kapital und Daten regeln, um die Wettbewerbsfähigkeit und die Vertrauenswürdigkeit von strategisch wichtigen IKT-Infrastrukturen wie Netzausrüstung, Cloud-/Edge-Diensten und Smart-City-Technologien zu steigern. Sie sollte auf regulatorischen Best Practices und einem strategischen Ansatz für Industriepolitik aufbauen, der gegenseitige Abhängigkeiten nutzt, um die Zusammenarbeit zu festigen und den Zugang zu kritischen Technologien und Materialien zu sichern. In diesem Sinne sollte die Bundesregierung einen starken institutionellen Kern in Form eines ambitionierten G7-Ministertreffens zum Thema Digitalisierung, einer erweiterten digitalen Agenda der OECD und vertiefter TTC-Treffen zwischen der EU und den USA unterstützen.
Eine globale Konnektivitätsdoktrin mit offenem Internetzugang als Grundrecht einführen. Deutschland sollte mit den EU-Mitgliedern und anderen gleichgesinnten Demokratien zusammenarbeiten, um gemeinsam finanzierte „Konnektivitätspakete“ zu entwickeln, die die Entwicklung der digitalen Infrastruktur mit dem Aufbau von Cyber-Kapazitäten und langfristiger Unterstützung lokaler NGOs für digitale Rechte verbinden. Die Zusammenarbeit muss jedoch über die nationalen Regierungen hinausgehen. Deutschland sollte die EU und die NATO, sowie gleichgesinnte Staaten, dazu bewegen, Ressourcen (z. B. Satelliten) bereitzustellen, die den Zugang zum Internet erweitern, die digitale Kluft verringern, den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung in Bezug auf Konnektivität (9.c) dienen sowie offene Informationsflüsse während Internetsperren durch autoritäre Regime und in Konfliktgebieten aufrechterhalten.
Eine deutsche Open Tech-Stiftung gründen. Die Ampelkoalition verweist ausdrücklich auf die digitale Souveränität im Globalen Süden als Priorität, um die freie Wahl von Anbietern, Plattformen und IKT-Infrastruktur zu gewährleisten, Lock-in-Effekte zu vermeiden und ein menschen-, nicht staatszentriertes Konzept der digitalen Selbstbestimmung zu garantieren. Der neu eingerichtete Sovereign Tech Fund bietet die Möglichkeit, Open Source und Open Technology vor allem in Deutschland finanziell zu unterstützen. Er sollte durch eine deutsche Open Tech-Stiftung (German Open Tech Foundation, GOTF) ergänzt werden, um international, insbesondere für Gemeinschaften im Globalen Süden, Mittel für die Entwicklung von Technologien bereitzustellen, welche die Demokratie und Privatsphäre stärken und im Einklang mit dem globalen Verständnis von digitaler Souveränität der Bundesregierung stehen.
Der Politisierung von Standardsetzung im Bereich kritischer und neuer Technologien entgegenwirken. Da der Anteil von Nichtmarktwirtschaftsländern in den Gremien für technische Standardisierung zunimmt, sollte Deutschland eine internationale Studiengruppe initiieren, die ermittelt, ob und welche politischen Instrumente eingesetzt werden, um die Standardsetzung im Bereich kritischer und neu entstehender Technologien zu beeinflussen. Dies sollte die Grundlage für ein koordiniertes Engagement mit den internationalen Standardsetzungs-Gremien bilden, um den Vorrang technischer Kriterien zu gewährleisten und ihren Ruf als unparteiische Institutionen zu wahren. Die Bundesregierung sollte auch qualitativ hochwertige Beiträge fördern, indem sie zum Beispiel die Beteiligung des akademischen Sektors sowie kleiner und mittelständischer Unternehmen (KMU) an der Ausarbeitung technischer Standards ermöglicht, etwa in dem sie diese als förderbare Forschungs- und Entwicklungsarbeit berücksichtigt.
Das Entstehen einer digitalen „Bewegung der Blockfreien Staaten“ verhindern. Eine globale demokratische Technologieordnung muss über die transatlantische Gemeinschaft hinausreichen. Besorgniserregend ist, dass die Staaten der G77+ angesichts der zunehmenden geopolitischen Bedeutung von Technologie ein klares Bekenntnis zu einer gemeinsamen demokratischen Technologieagenda scheuen. Indien ist in dieser Hinsicht ein zentraler, aber komplexer Partner. Deutschland hat seinen Digitaldialog mit Indien bereits wiederaufgenommen und das Land zum diesjährigen G7-Gipfel eingeladen. Mit Blick auf die G20-Präsidentschaft Indiens im Jahr 2023 sollte Deutschland nun darauf aufbauen und Indiens demokratische Verantwortung betonen, eine integrative digitale Agenda zu fördern, in deren Mittelpunkt klimafreundliche Technologien sowie offene und freie Konnektivität stehen.
Kooperatives Engagement im EU-US-Technologiedialog zeigen, insbesondere im TTC. Deutschland sollte einen bilateralen Digitaldialog mit den Vereinigten Staaten institutionalisieren, der die politischen Ergebnisse des TTC aufnehmen und verstärken kann. Deutschland sollte sich aber auch in anderen Bereichen engagieren, etwa bei einem konstruktiven Abschluss des post-Privacy Shield Transatlantic Data Privacy Framework und dessen Implementierung. Das Deutsch-Amerikanische Zukunftsforum, das im Rahmen der Erklärung von Washington vom Juli 2021 ins Leben gerufen wurde und dessen erstes Treffen im November 2022 stattfinden wird, könnte ein weiteres Instrument zur Vertiefung des Engagements sein, insbesondere im Hinblick auf demokratiefördernde Technologien und Normen.
Asymmetrische Technologieallianzen mit subnationalen Verwaltungseinheiten bilden. Städte und Bundesstaaten übernehmen zunehmend Aufgaben der digitalen Governance, die nationale Regierungen nicht übernehmen wollen oder können. In den Vereinigten Staaten haben Städte und Bundesstaaten beim Datenschutz eine Vorreiterrolle übernommen; teilweise indem sie Richtlinien für KI-gestützte Gesichtserkennungstechnologien und gegen algorithmische Diskriminierung in sensiblen Bereichen, wie bei der Einstellung von Personal, aufgestellt haben. In China, Brasilien und Indien wird die technologische Industrie- und Regulierungspolitik ebenfalls durch subnationale Regierungen vorangetrieben. Im Einklang mit den neuen Schlussfolgerungen des Europäischen Rates zur digitalen Diplomatie sollte Deutschland mit Entscheidungsträgerinnen und -trägern auf dieser Ebene zusammenarbeiten, um Technologieallianzen zu bilden, die die deutschen und EU-Werte im Bereich der Regulierung widerspiegeln und die subnationale Übernahme von Normen für die Internet und Cyber-Governance unterstützen.
Über das Projekt
Der vorliegende Bericht stellt einen integrierten Politikansatz für Deutschlands digitale Kapazitäten und Zielsetzungen vor. Eine solche Strategie sollte die industriellen Stärken und Digital Governance-Prioritäten des Landes mit seinen geopolitischen Interessen verknüpfen.
Dies ist der sechste Teil einer Reihe von Berichten, welche auf der Grundlage von sieben miteinander verbundenen Teilen eines „Technologiepolitik-Stacks“ einen solchen integrierten Ansatz entwirft. Für dieses Projekt hat die DGAP 30 Fachleute dazu eingeladen, einer Arbeitsgruppe beizutreten und zwischen Juli und Oktober 2021 an sieben vertraulichen Workshops über die entscheidenden strategischen Dimensionen von Deutschlands internationaler Digitalpolitik teilzunehmen. Zu den Mitgliedern der Arbeitsgruppe gehörten: politische Mandatsträgerinnen und -träger sowie Kandidatinnen und Kandidaten, hochrangige deutsche Regierungsvertreterinnen und -vertreter, Parteimitarbeiterinnen und -mitarbeiter, die für digitale Plattformen und die Ausarbeitung von Koalitionsverträgen zuständig sind, Expertinnen und Experten für Technologie und Außenpolitik, Vordenkerinnen und Vordenker im Digitalbereich, Managerinnen und Manager von Technologieunternehmen, Akademikerinnen und Akademiker aus den Technik-, Wirtschafts- und Politikwissenschaften sowie Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft und von Organisationen, die sich für digitale Rechte einsetzen. Außerdem luden wir weitere Expertinnen und Experten dazu ein, an einzelnen Workshops teilzunehmen. Jeder Workshop befasste sich mit jeweils einem Teil von Deutschlands „Technologiepolitik-Stack“. Darüber hinaus wurden während der Entstehung dieser Reihe von Berichten Mitglieder der Arbeitsgruppe periodisch konsultiert.
Wir bedanken uns bei der Open Society Initiative for Europe für ihre großzügige Unterstützung, die dieses Projekt ermöglicht hat.