Warum organisieren die großen Parteien überhaupt Vorwahlen?
Sabine Ruß-Sattar: Mit Vorwahlen, die auch Nicht-Parteimitgliedern offenstehen, wollen die Volksparteien erstens mehr Transparenz und Beteiligung signalisieren. Es geht um ein modernes, stärker direktdemokratisches Image.
Zweitens kennen die beiden großen Parteien, also die Sozialisten und die Republikaner, starke innerparteiliche Führungsrivalitäten und haben jeweils keine integrative Führungspersönlichkeit, die sich an die Spitze setzen und ihre Kandidatur erklären könnte.
Drittens sprechen taktisch-strategische Gründe für Vorwahlen. In früheren Zeiten gab es eine klare Zweiteilung im französischen Parteiensystem und der erste der beiden Präsidentschaftswahlgänge diente dazu, aus mehreren Kandidaten innerhalb der beiden Lager die zwei zugkräftigsten herauszufiltern, die sich dann im zweiten Wahlgang gegenüberstanden. 2002 ging das spektakulär schief: Die vielen Kandidaten der Linken nahmen sich gegenseitig die Stimmen weg und letztlich stand der Neogaullist Jacques Chirac dem rechtsnationalen Jean-Marie Le Pen gegenüber. Diese Erfahrung sorgte dafür, dass bei den Präsidentschaftswahlen 2012 die Sozialisten zum ersten Mal Vorwahlen organisierten, die allen selbsterklärten Anhängern des linken Lagers offenstanden. Die bürgerlichen Parteien der Rechten und der Mitte ziehen jetzt nach.
Was bedeuten die Primaires für die Linke?
Julie Hamann: Nach 2012 ist eine erneute offene Vorwahl bei den Sozialisten quasi Pflicht. Im Wahlbündnis der „Belle Alliance Populaire“ tritt sie nun mit zwei weiteren Parteien an, um ihren Kandidaten am 22. und 29. Januar 2017 in zwei Wahlgängen zu küren.
Mittlerweile ist die sozialistische Partei durch Hollandes Orientierung zur politischen Mitte hin so gespalten, dass ihre größte Herausforderung darin besteht, sich überhaupt geschlossen hinter einen Kandidaten zu stellen. Der Wahlkalender ist hier ein Vorteil: Weil der konservative Gegenkandidat nun feststeht, könnte es gelingen, das eigene Profil wieder zu schärfen. Der Sieg des dezidiert konservativen François Fillon mit einem wirtschaftlich ultraliberalen Reformprogramm könnte dabei zum entscheidenden Faktor werden. Seine geplante Umgestaltung des französischen Sozialstaats und Arbeitsrechts ist so weitreichend, dass starker Gegenwind aus einem breiten linken Milieu sicher ist. So könnten die Gewerkschaften, die sich zuletzt enttäuscht von Hollande abgewandt haben, wieder zu einer entscheidenden Kraft werden. Gerade bei den Parlamentswahlen im Juni könnte die Linke noch einmal Einfluss darauf nehmen, wie viel Durchsetzungskraft ein konservativer Präsident hätte.
Claire Demesmay: Durch die neue Positionierung der Républicains wird auch der Raum in der Mitte der politischen Landschaft etwas größer, wovon die Linke profitieren könnte – unter der Voraussetzung, dass sie im Wahlkampf geeint auftritt.
Was sagt der Vorwahlkampf über die Erwartungen der französischen Bevölkerung aus?
Claire Demesmay: Aus dem Ergebnis der Vorwahl lässt sich kein Stimmungsbild der Gesamtbevölkerung ableiten. Es beteiligte sich nur eine Minderheit der Wählerschaft, darunter viele ältere Bürger, hauptsächlich aus dem konservativen Lager. Der Trend zum Nichtwählen, den man bei Jugendlichen schon seit Jahren beobachtet, hat sich wieder bestätigt.
Glaubt man der Wahlkampf-Debatte der letzten Wochen, ist der größte Wunsch der Wähler ein starkes Frankreich. Dies führt zu Forderungen nach radikalen Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt und im Sozialsystem, die als Voraussetzung für ein erneuertes französisches Selbstbewusstsein gelten. Die Konservativen wünschen sich auch in der Außenpolitik ein starkes Frankreich, das wieder an internationalem Einfluss gewinnt und in der Lage ist, seine Interessen zu verteidigen.
Auffallend ist die Sehnsucht nach den durch François Fillon verkörperten konservativen Werten: ein traditionelles Familienbild, ein Appel an Vaterlandsliebe und die Autorität des Staates. Schon 2012 machten die Massendemonstrationen gegen die gleichgeschlechtliche Ehe diese Nachfrage sichtbar. Ein Teil der französischen Bevölkerung ist einer globalisierten Welt gegenüber tief verunsichert. Einen Wandel zum Konservativismus kennt man aus vorherigen Krisenzeiten – wie etwa 1958, als der Algerienkrieg zu einer Regimekrise der IV. Republik und zur Rückkehr De Gaulles an die Macht führte.
Etabliert sich in Frankreich ein neuer Konservativismus?
Julie Hamann: Die Konservativen sehen sich einem Teil ihrer Wählerschaft gegenüber, der die liberalen Werte moderner Gesellschaften ablehnt. Die Politikfelder, die den Franzosen zurzeit am wichtigsten sind, begünstigen typisch konservative Positionen: eine starke Sicherheitspolitik im Kampf gegen den Terrorismus; die Frage nach einer christlichen Identität angesichts der Erfahrung mit islamistischer Radikalisierung; und eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik gegen hohe Arbeitslosigkeit.
Claire Demesmay: Für den Front National könnte der radikale Wandel der Républicains schnell zum Problem werden. Bis jetzt war die Partei von Marine Le Pen auf dem Markt der konservativen Werte in einer Quasi-Monopolsituation. Nun könnte sie ihr Alleinstellungsmerkmal verlieren. Insbesondere diejenigen, die einen Austritt der Eurozone ablehnen, so wie ihn der FN befürwortet, könnten sich für die Républicains entscheiden. Als Reaktion wird sich der FN im Wahlkampf sicherlich verstärkt auf Europakritik sowie auf sozialpolitische Forderungen konzentrieren.
Was würde ein Präsident Fillon für die deutsch-französische Zusammenarbeit bedeuten?
Julie Hamann: Der deutschen Politik muss bewusst sein, dass Fillons große Ambitionen hinsichtlich einer liberalen Wirtschaftspolitik und den damit einhergehenden Reformen in der französischen Gesellschaft auf Widerstand und Blockaden stoßen werden. Ob er sie wirklich durchsetzen kann, hängt ganz wesentlich davon ab, ob er die Franzosen hinter sich und sein Projekt bringen kann. Außerdem sind die Unterschiede zwischen deutschen und französischen Konservativen groß und eine neue, konservative Regierung in Frankreich wäre nicht unbedingt die natürliche Verbündete der deutschen CDU.
Claire Demesmay: Auch wenn es dem neuen Präsidenten gelingen sollte, wirtschaftliche Strukturreformen durchzuführen, bedeutet das nicht automatisch mehr Engagement in der Europapolitik. François Fillon spricht sich für ein Europa der Nationen aus, in dem die großen Länder das Wort haben, und setzt sich zum Ziel, Frankreichs Souveränität wiederzuerlangen. Zwar hat die Bundesregierung im Laufe der Krisen die Vorteile eines intergouvernementalen Regierens in der EU entdeckt. Doch gleichzeitig versucht sie, auch kleinere Länder einzubeziehen, um den Zusammenhalt der EU nicht weiter zu gefährden. Das Narrativ eines souveränen Frankreichs ist keine Hilfe, um die zunehmenden Fliehkräfte in Europa zu zügeln. Auch in Bezug auf Russland könnte ein Präsident Fillon ein unverlässlicher Partner werden. Er fordert, die Sanktionen zu beenden und in der Syrien-Frage mit Moskau zusammenzuarbeiten.