01. Nov. 2024

Das Ende der Illusionen? Deutschlands Wendepunkt in der Russland-Politik

Zitat_KK_Meister

Der russische Angriff auf die Ukraine hat einen tiefgreifenden Wandel in der deutschen Russland-Politik mit sich gebracht. Jahrzehntelange Bemühungen um Annäherung sind einer Abkehr gewichen. Doch bei der sicherheitspolitischen „Zeitenwende“ bleibt Deutschland strategisch zögerlich. Dabei schwindet durch den Krieg gegen die Ukraine Russlands traditioneller Einflussraum. Diese Entwicklung könnte Europa nutzen.

Gleich zu Beginn der russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 brachte Karl Kaiser den bis dahin gültigen Umgang mit Russland auf den Punkt: 

„Der Westen hat Wladimir Putin unterschätzt. Man hat eine Rationalität unterstellt, die offenkundig nicht vorhanden ist, denn das Verhalten von Putin zeigt, dass er willens ist, Schaden auf sein eigenes Land herunterzuladen, was mit Rationalität nicht zu erklären ist.“ 

Das Ende der Ostpolitik, wie Deutschland sie kannte

Während die deutsche Außenpolitik mit Blick auf Russland jahrzehntelang auf Annäherung und Versöhnung setzte, hat der Krieg gegen die Ukraine zu einem schockartigen Wandel in Deutschlands Beziehungen zu beiden Ländern geführt. Nur wenige Tage nach der Invasion hat Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung eine sicherheitspolitische Zeitenwende verkündet. ² Trotz aller Zögerlichkeit bei der Unterstützung der Ukraine und den sicherheitspolitischen Anpassungen hat die Bundesregierung sich in kürzester Zeit von russischem Gas abgekoppelt, LNG-Terminals gebaut und durch massive EU-Wirtschaftssanktionen gegen Russland hohe ökonomische Kosten in Kauf genommen. Damit brach das zentrale Fundament der deutsch-russischen Beziehungen weg, das auf enger wirtschaftlicher und energiepolitischer Interdependenz basierte. Auch der gesellschaftliche und politische Austausch wurde auf ein Minimum reduziert.

Mental und strategisch steht eine echte Zeitenwende aus

Russland ist aus Sicht der Bundesregierung zur größten sicherheitspolitischen Bedrohung für Europa geworden. Bereits vor dem umfassenden Angriff auf die Ukraine hat es einen hybriden Krieg gegen den Westen geführt – etwa mit Desinformationskampagnen, Hackerattacken, Sabotageangriffen sowie massiven geheimdienstlichen Aktivitäten in Deutschland und anderen europäischen Staaten. Dennoch brauchte es offenbar für große Teile der Eliten und Gesellschaft hierzulande einen großangelegten Angriffskrieg, um die Gefahr von Putins Regime zu erkennen.

Zwar zeigen die seit der „Zeitenwende“-Rede erfolgte massive militärische und finanzielle Unterstützung der Ukraine sowie das Sondervermögen für die Bundeswehr einen grundlegenden Wandel der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik – weg von einem „Russia first“, hin zu einem Fokus auf die Ukraine –, doch scheint mental und strategisch eine echte Zeitenwende zu fehlen.

Die Bundesregierung agiert weiterhin zu reaktiv, konzentriert sich auf Krisenmanagement und versucht, wie die US-Führung, eine große Eskalation mit Russland zu vermeiden. Dabei zeigt sich, dass viele die Logik russischer Politik weiterhin nicht verstanden haben. Aus Putins Sicht sind Kompromisse mit Schwäche gleichzusetzen, Appeasement und Zögerlichkeit ermutigen ihn zu weiterer Aggression. Der Kreml-Chef denkt in Win-Lose-Kategorien, die beiden Minsker Abkommen sowie die wachsende Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas nach 2014 haben ihn zum großflächigen Angriff auf die Ukraine geradezu eingeladen. Russland ist militärisch und ökonomisch zwar schwächer als die NATO und die EU, nutzt jedoch geschickt die Schwachpunkte und Unentschlossenheit seiner Gegner zum eigenen Vorteil aus. Deutschland ist hierfür besonders verletzlich in Europa. Hinzu kommt, dass der Machtapparat in Moskau keine Rücksicht auf eine kritische Öffentlichkeit nehmen muss.

Die Forderung nach Friedensverhandlungen von Teilen der deutschen Bevölkerung und politischen Elite widerspricht der derzeitigen Realität auf dem Schlachtfeld. Nicht zuletzt hat der Wunsch nach einer Beendigung des Krieges und nach Frieden, egal unter welchen Bedingungen, ein Vakuum eröffnet, das populistische Parteien nun zu füllen versuchen. Die Wiederwahl von Donald Trump wird Putin darin bestärken, dass er mit Washington ein Abkommen auf Kosten der Ukraine aushandeln und die Unterstützung für die Ukraine durch die USA massiv abnehmen könnte.

Die russische Aggression führt zum Zerfall eines Imperiums

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine bedeutet nicht nur das Ende der nach dem Kalten Krieg ausgehandelten kollektiven europäischen Sicherheitsordnung, sondern auch einen beschleunigten Zerfall des russischen Imperiums selbst. Während der Kreml versucht, mit militärischen Mitteln seinen „traditionellen Einflussraum“ abzusichern – ausgehend von der Vorstellung, ohne die Ukraine sei Russland kein Imperium –, und Interessensphären in Europa militärisch zu erzwingen, erreicht er genau das Gegenteil: Russlands Aggression beschleunigt die Erosion der Hegemonialstellung in seiner postsowjetischen Nachbarschaft und damit Moskaus Rolle als globaler Akteur. Es bringt die NATO als wichtigsten sicherheitspolitischen Akteur wieder zurück nach Europa und hat eine NATO-Norderweiterung um Finnland und Schweden provoziert. Das Land wird technologisch und ökonomisch als Folge der westlichen Sanktionen in den nächsten Jahren weiter zurückfallen und abhängiger von China werden. Damit geht einher, dass Russland zwangsläufig Souveränität einbüßen und mehr Kompromisse mit anderen Akteuren machen muss.

Derzeit deutet alles darauf hin, dass sich das Land eher wie Iran entwickeln wird – und nicht wie China: Es wird aufgrund begrenzter Ressourcen und Isolation nur noch disruptiv und nicht mehr gestaltend wirken können. Da sich das russische System aber gleichzeitig durch seine Adaptionsfähigkeit auszeichnet, ist davon auszugehen, dass es sich noch stärker zu einer „Good enough power“ wandeln wird, sprich technologisch und ökonomisch zwar global zurückfallen, aber dennoch ausreichend Waffen und Menschen haben wird, um seine Interessen zu verteidigen.

Russlands schwindende Hegemonie in seiner Nachbarschaft

Auf absehbare Zeit ist nicht zu erwarten, dass der russische Staat zerfällt, denn Staat und Sicherheitsapparat sind über Jahre systematisch ausgebaut worden. Durch den Verkauf von Rohstoffen, vor allem nach Indien und China, und mit dem Ziel, die Loyalität von Eliten zu erkaufen, fließen weiterhin ausreichend Ressourcen ins Land. Propaganda, Repression und das imperiale Erbe halten Gesellschaft und Eliten zusammen und führen zu kaum sichtbarem Widerstand gegen den Krieg. Putins System legitimiert sich immer stärker über diesen Konflikt, der als Stellvertreterkrieg mit dem Westen propagiert wird. Das Land ist unter Putin auf dem besten Weg zur Diktatur, und da das Regime als revisionistische Macht kaum rote Linien kennt, ist es gefährlicher als die späte Sowjetunion, die eher eine Status-quo-Macht war. Auch auf diesen eklatanten Unterschied und somit die Folgen für den Westen hat Karl Kaiser unmittelbar nach Kriegsbeginn hingewiesen:

„Selbst im Kalten Krieg konnte man von einer gewissen Rationalität der damaligen sowjetischen, russischen Führung ausgehen. Das hat ja während des Kalten Krieges verhindert, dass es zu einem Krieg gekommen ist zwischen Ost und West. Die Annahme ist gemacht worden, dass das nach wie vor der Fall ist. Aber das ist nicht der Fall, weil die Persönlichkeit von Putin und des Regimes, mit dem er sich umgeben hat, ein anderes Verhalten an den Tag gelegt hat.“ 

Eine weitere Folge ist, dass sich die russische Hegemonie in 

Osteuropa, dem Südkaukasus und Zentralasien ihrem Ende zuneigt. Dort kann Russland nicht mehr autoritäre Stabilität und damit die regionale Ordnung garantieren. Dies führt dazu, dass es zunehmend von anderen Akteuren herausgefordert wird, mit denen es um Macht und Einfluss konkurriert. Konkret ist das in Zentralasien China, im Südkaukasus die Türkei und in Osteuropa die EU mit ihrer Erweiterungspolitik. Aber auch Iran und einige arabische Staaten sind in Russlands traditionellem Einflussraum aktiver. Postsowjetische Staaten haben mit dem Krieg gegen die Ukraine ihre Sicherheitsperzeption von Russland verändert. Ihr Interesse wächst, Russlands Einfluss stärker auszubalancieren und Abhängigkeiten vom großen Nachbarn abzubauen.

Umgekehrt haben sich Moskaus Interessen gegenüber seinen Nachbarstaaten, allen voran im Südkaukasus und Zentralasien, gewandelt. Das Regime braucht neue Handelsrouten und direkte Zugänge zu seinen wichtigsten Handelspartnern China, Indien und Iran. Gleichzeitig dienen die Mitgliedstaaten der Eurasischen Union, etwa Kasachstan, Kirgistan und Armenien, als Hubs zur Umgehung von Sanktionen. Russland investiert dort verstärkt, und durch eine große russische Migrationswelle seit Kriegsbeginn wächst dort auch der Einfluss von russischem Geld.

Europa braucht Abschreckung, Diplomatie und Strategie

Außerhalb der NATO gibt es für Europa keine Sicherheit mehr. Im Fall der Ukraine heißt dies, dass nur ein NATO-Beitritt des Landes oder wirksame Sicherheitsgarantien zu Verhandlungen und einem Ende des Krieges führen können. Abschreckung ist kurzfristig das wichtigste Instrument gegen Putins Aggression. Donald Trumps Wahlsieg macht die Stärkung der europäischen Säule in der NATO sowie Investitionen in Europas eigene Verteidigungsfähigkeit noch dringlicher. Schon lange erwarten die USA, dass vor allem große Mitgliedstaaten wie Deutschland mehr Verantwortung für Europas Sicherheit übernehmen, was aufgrund einer Prioritätenverschiebung Washingtons auch geschehen muss. Neben Abschreckung gilt es aber auch, durch Diplomatie und vertrauensbildende Maßnahmen mögliche Überreaktionen zu vermeiden. Zu Recht verwies Karl Kaiser darauf, dass eine Tür für Verständigung offenbleiben müsse:

„Die Politik muss in eine klare Politik der Stärke umgewandelt werden, aber mit einer offenen Tür zur Verständigung, denn es gibt ja auch in Russland Kräfte, die nicht mit dieser Politik einverstanden sind, die Putin verfolgt.“ 

Deutschland und die EU brauchen gleichzeitig eine mittel- und langfristige Strategie im Umgang mit Russland. Langfristig muss Russland wieder in Europa integriert werden. Dafür bräuchte es aber zuvor einen Regimewechsel, der jedoch nicht in Sicht ist. Da die Einflussmöglichkeiten auf Russland selbst begrenzt sind, muss es mittelfristig systematisch in seiner postsowjetischen Nachbarschaft geschwächt und seine Partnerschaften mit China, Iran und Indien untergraben werden. Hier sollte die EU in Osteuropa, dem Südkaukasus, aber auch in Zentralasien massiv in Infrastruktur investieren, um diese Regionen stärker an Europa zu binden und europäische Normen und Standards zu verankern. Vor allem für die Türkei als Schlüsselland im Südkaukasus und in der Schwarzmeerregion braucht die EU eine Politik, die das Land stärker an Europa bindet, ökonomisch weiter integriert und die Regeln für den Zugang zum Binnenmarkt modernisiert.

Mit Trump im Weißen Haus und dem andauernden Krieg gegen die Ukraine wird die kommende Bundesregierung Europa stärker führen und verteidigen müssen. Voraussetzung dafür ist das, was Karl Kaiser mit Blick auf eine Fehleinschätzung Putins und den Beginn des Angriffskriegs von der westlichen Politik verlangt hat:

„Das erfordert eine Umpolung der Politik und eine Überprüfung, die jetzt in den USA eingesetzt hat, und man hofft, dass dies auch in Europa und auch in Deutschland und der Koalition der Fall sein wird. Eine Überprüfung der alten Annahme. Hoffentlich mit einer Revision der Politik im Gefolge.“ 
 

Dieser Text ist ein Kapitel aus dem Buch „Wege in die Zukunft: Perspektiven für die Außenpolitik: Zum 90. Geburtstag von Karl Kaiser“ und enthält keine Fußnoten. Die vollständige Version inklusive Fußnoten können Sie oben im PDF bzw. über das E-Book aufrufen.

Bibliografische Angaben

Meister, Stefan. “Das Ende der Illusionen? Deutschlands Wendepunkt in der Russland-Politik .” German Council on Foreign Relations. November 2024.

Dieser Text ist ein Kapitel aus dem Buch „Wege in die Zukunft: Perspektiven für die Außenpolitik: Zum 90. Geburtstag von Karl Kaiser“ .

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