Das Zitat von Karl Kaiser links stammt aus dem Jahr 2016 und ist acht Jahre später - inmitten zahlreicher geoökonomischer Umbrüche – noch relevanter geworden. Auch wenn sich der wirtschaftliche Schwerpunkt der Welt mit den großen Schwellenländern China und Indien immer weiter Richtung Asien verschoben hat, bleiben Nordamerika und die EU eine zentrale Hauptschlagader der Weltwirtschaft.1
Die transatlantischen Partner haben bis heute die am stärksten integrierten Wirtschafts-, Handels- und Investitionsbeziehungen der Welt. Wie Karl Kaiser betont, ist „die Verflechtung durch Binnenhandel, Investitionen und Austausch von Know-How [nirgendwo] so intensiv wie hier“. Dies betrifft aber nicht nur die EU als Ganzes, sondern auch die Beziehungen zwischen Deutschland und den USA: Auch wenn China das wichtigste Importland für Deutschland ist, sind die USA seit 2015 der bedeutendste Markt für deutsche Exporte. Auch bei den Direktinvestitionen bleiben die USA die wichtigste Zielregion für deutsche Unternehmen. Daher muss es ein zentrales Anliegen von Deutschland und der EU sein, die Kooperation mit den USA weiter auszubauen, einen transatlantischen Marktplatz zu entwickeln und Handelskonflikte zu vermeiden.
Die auch von Karl Kaiser angesprochene Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP), die zwischen 2013 und 2016 ohne Abschluss verhandelt wurde und nun auf Eis liegt, scheiterte an beiden Seiten: auf EU-Seite aufgrund der öffentlichen Ablehnung – insbesondere in Deutschland - von Chlorhühnchen und den Investor-Staat-Schiedsgerichten (ISDS), gekoppelt mit einer Angst vor den Amerikanern, sowie auf US-Seite aufgrund der mangelnden Öffnung der Agrarmärkte und schließlich der Wahl von Präsident Donald Trump – um nur einige Stichpunkte zu nennen.
Eine wie auch immer ausgestaltete TTIP 2.0 ist in weite Ferne gerückt, auch wenn dieses Ziel bis heute erstrebenswert ist: Es wäre der erste Schritt in Richtung eines transatlantischen Marktplatzes, der (im Rahmen der „atlantischen Demokratien“) Standards gesetzt hätte, die aufgrund der wirtschaftlichen Stärke beider Partner leicht zu globalen Standards geworden wären. Gleichzeitig hätte sich durch eine Öffnung des Agrarsektors, der Dienstleistungen und des öffentlichen Auftragswesens sowie durch gemeinsame Forschung die Wettbewerbsfähigkeit beider Regionen deutlich verbessert.
Zudem hätten durch TTIP viele aktuelle Probleme in den transatlantischen Beziehungen vermieden werden können. Die Auswirkungen von Trumps America-First-Strategie wären sicherlich auch mit einem Abkommen spürbar geworden. So wurden die Stahl- und Aluminiumzölle, die er im März 2018 auf Basis der nationalen Sicherheit (Sektion 232 des Handelsgesetzes von 1962) gegen zahlreiche Handelspartner erließ, auch gegen die Freihandelspartner (FTA-Partner) Kanada und Mexiko erlassen.
Ein erfolgreiches TTIP hätte jedoch unter US-Präsident Joe Biden zu weniger Spannungen und einer engeren Partnerschaft geführt. Mit der EU als Partner hätte Biden durch transatlantische Standards und einen gemeinsamen Markt deutlich mehr Einfluss und eine stärkere Verhandlungsmacht gegenüber China gehabt. Es wäre für China sehr viel schwieriger geworden, die transatlantischen Partner gegeneinander auszuspielen.
Zudem hätte der Inflation Reduction Act (IRA), der 2022 verabschiedet wurde, weniger diskriminierende Elemente gegenüber eines Freihandelspartners EU. Das 738 Milliarden Dollar schwere Investitionsprogramm beinhaltet, das unter anderem Investitionen in den USA in grüne und saubere Energie sowie umweltfreundliche Güter fördern will, Steuergutschriften für elektronische Fahrzeuge (EVs), die nur amerikanischen oder FTA-Partnern zugutekommen. So hätte die EU – unter einem potenziellen TTIP – die Steuergutschrift in Bezug auf kritische Mineralien für EVs in Anspruch nehmen können. Die USA und die EU-Kommission verhandeln seit März 2023 an einem „Critical Minerals Agreement“, um diese Lücke zu schließen. Bislang jedoch ergebnislos.
Ein TTIP bleibt in weiter Ferne
Im Rahmen der aktuellen US-Handelspolitik ist ein TTIP 2.0 nicht mehr denkbar. Seit der Präsidentschaft von Donald Trump im Jahr 2016 hat sich die Handelspolitik der USA grundsätzlich gewandelt. Und auch wenn sein Nachfolger Joe Biden immer wieder die Bedeutung von Partnern wie Deutschland und der EU betont, hat sich die amerikabezogene Handelspolitik fortgesetzt – nur mit freundlicherem Ton. Neben dem großen Schwerpunkt in Bezug auf China besteht auf bilateraler Ebene kein Interesse an umfassenden Handelsabkommen. Unter Trump gab es Deals zugunsten der USA, unter Biden informelle Dialogformate wie der Transatlantische Handels- und Technologierat (TTC) oder das Indo-Pacific Economic Framework for Prosperity (IPEF).
Aber auch von europäischer Seite bleibt es trotz Reformen in der Handelspolitik (Stakeholder Outreach, Abschaffung des ISDS) unklar, ob die europäische Bevölkerung für ein solches Abkommen gewonnen werden könnte. Zudem stemmen sich große Mitgliedstaaten wie Frankreich zunehmend gegen FTAs und neue Marktöffnung (in erster Linie aufgrund ihrer Agrarinteressen). Diese Ablehnung würde durch ein Abkommen mit den USA leicht erneut aufflammen. Die Abkehr von Marktöffnung und FTAs hin zu Wirtschaftssicherheit und Handelsschutzmaßnahmen („trade defense“) wird auch in der neuen EU-Kommission deutlich: So hat der neue Handelskommissar Maroš Šefčovič neben Handel vor allem auch die Wirtschaftssicherheit im Portfolio. Und letzteres wird sicherlich mehr Zeit in Anspruch nehmen als umstrittene FTA-Verhandlungen.
TTIP 2.0 oder die Suche nach einem Second Best
Die USA bleiben unser natürlicher Partner, auch unter einem Präsidenten Donald Trump. In seiner zweiten Amtszeit werden die transatlantischen Handelsbeziehungen protektionistisch geprägt sein. Die EU und vor allem Deutschland werden nicht mehr als Partner gesehen und die Erhebung von Zöllen ist eine sehr wahrscheinliche Option. Allerdings hat sich gezeigt, dass Trump an kurzfristigen „Deals“ interessiert ist. Diese Art der „transaktionalen“ Handelspolitik müssen Deutschland und die EU nutzen, um protektionistischen Tendenzen entgegenzuwirken. Dies bedeutet kein TTIP 2.0, könnte aber beispielsweise Zollsenkungen auf Industrieprodukte beinhalten. Auch in Bezug auf China müssen sich die EU und Deutschland als Partner anbieten. So kann eine stärkere Abstimmung bei Investment Screening und Exportkontrollen angeboten werden.
Die EU muss sich auch Trump als Partner anbieten
Auch unter Präsident Trump bleiben die USA unser wichtigster politischer und wirtschaftlicher Verbündeter. In Abwesenheit von TTIP muss die EU daher die Zusammenarbeit suchen und durch Dialogformate (TTC) oder transaktionale Deals die Partnerschaft stärken. TTIP und ein transatlantischer Markt muss jedoch unsere Vision für die Zukunft bleiben, wie es Karl Kaiser bereits 2016 propagiert hatte.
Dieser Text ist ein Kapitel aus dem Buch „Wege in die Zukunft: Perspektiven für die Außenpolitik: Zum 90. Geburtstag von Karl Kaiser“ . Die vollständige Version können Sie oben im PDF bzw. über das E-Book aufrufen.