Alte Klischees und neue Trends
Zu Beginn des Jahres stellte die deutsche Botschaft in Paris eine repräsentative Umfrage zum Deutschlandbild der Franzosen vor. Das bleibt positiv, auch wenn es im Vergleich zu den vergangenen Jahren gelitten hat. Es stützt sich auf alte Klischees, die viele Franzosen noch immer mit ihrem östlichen Nachbar verbinden: stabile Politik und starke Wirtschaft. Fragte man einen zufällig ausgewählten Franzosen auf der Straße, was er mit Deutschland verbindet, wäre die Antwort noch immer sehr häufig: „Pünktlichkeit“ oder „Disziplin“.
Das liegt vielleicht daran, dass nur wenige Franzosen ihr Nachbarland wirklich kennen, auch das zeigt die Umfrage: 88% der Befragten haben ein positives Deutschlandbild, nur ein Drittel gibt jedoch an, das Land gut zu kennen. Vieles ist vermutlich beiläufiges Hören-Sagen, aufgeschnappt in den Medien. Der deutsche Wahlkampf und die entsprechende Berichterstattung hat also bedeutenden Einfluss auf das Deutschlandbild in Frankreich Ein guter Grund, genau hinzusehen.
Merkel und das Ende einer Ära
Um zu verstehen, was die Franzosen interessiert, bietet es sich an, den Korrespondenten französischer Printmedien zu folgen. Die sind in den vergangenen Wochen dorthin gereist, wo sie hoffen, von den Beobachtungen im Kleinen auf das große Ganze zu schließen: Zu VW-Angestellten in Wolfsburg, die sich Sorgen um den Standort Deutschland machen. In das Ruhrgebiet, einst Herzkammer der Sozialdemokratie, wo auch in Westdeutschland immer mehr SPD-Wähler zur AfD überlaufen. Und schließlich in die ostdeutsche Provinz, in die Heimat Angela Merkels, wo die Rechtspopulisten schon heute tonangebend sind.
Die ehemalige Kanzlerin bleibt auch vier Jahre nach dem Ende Ihrer Amtszeit ein beliebter Orientierungspunkt der französischen Berichterstattung. Merkel ist bekannt, während mit Scholz und Merz nur Wenige etwas anfangen können – von Weidel, Habeck oder Lindner ganz zu schweigen. „Merkel ist Teil meiner Kindheit“ wird ein junger Mann zitiert, der in Berlin ansteht, um die Altkanzlerin in einer Buchhandlung beim Signieren ihre Memoiren zu treffen. Auch im Wahlkampf 2025 wird häufig die „Generation Merkel“ bemüht, um das Ende einer Ära zu illustrieren, das Scholz nur noch verwaltet hat.
In diesem umstrittenen Erbe spiegeln sich die Probleme wider, die fast alle Journalisten in Berichten aus Deutschland beschreiben: Hohe Energiepreise, Folge der Abhängigkeit von russischen Gas-Importen und dem plötzlichen Atomausstieg, 2011. Der Aufstieg der AfD als Folge der Entscheidung Merkels zur Grenzöffnung von 2015 und befeuert durch Debatten um Zuwanderung, gescheiterte Integration und innere Sicherheit. Schließlich die marode Infrastruktur, die französische Besucher schon im vergangenen Jahr, während der Europameisterschaft, mit Erstaunen entdeckten.
Wachsende politische Instabilität
Nicht nur das langsame Internet und die unpünktlichen Züge überraschen die Franzosen. Auch die politische Stabilität, die man den Deutschen jahrzehntelang neidete, ist dahin. Als nach der Auflösung der Nationalversammlung im vergangenen Juli Wege aus der Krise gesucht wurden, zeigten viele französische Kommentatoren auf die Bundesrepublik und argumentierten, die dortige Kompromisskultur sei vielversprechend. Dass die nun selbst in der Krise steckt und es auch mit der Stabilität vorbei ist, spricht sehr deutlich aus den Artikeln zum deutschen Wahlkampf.
Ein besonderer Fokus liegt wenig überraschend auf den Gründen für den Aufstieg der AfD. Weil auch in Frankreich die Rechtsaußen des Rassemblement National (RN) erfolgreich sind, läge der Vergleich nahe. Dass der nur selten folgt, ist auffällig. Denn der Umgang mit den Rechtspopulisten könnte in beiden Ländern kaum unterschiedlicher sein: Zwar gibt es mit dem „cordon sanitaire“ die französische Entsprechung zur Brandmauer. Sie ist aber taktisch, längst herrscht zwischen Wahlterminen reger Austausch zwischen dem RN und anderen Parteien. Die Frage, ob Merz die Brandmauer mit den Ankündigungen nach Aschaffenburg eingerissen hat, verfolgen also auch französische Medien mit Interesse.
Sorgen vor dem Abschwung
Es gibt viele andere Parallelen. Etwa, dass Arbeiter verstärkt die Rechtsaußen wählen. Reportagen aus Wolfsburg oder Bochum zeichnen die sehr deutsche Angst nach, dass durch wirtschaftlichen Abschwung und Verlust gut bezahlter Industrie-Arbeitsplätze alte Geister geweckt werden könnten: Die Inflation, Massenarbeitslosigkeit, Instabilität. Zwar sorgt die Tatsache, dass die deutsche Exportwirtschaft in den kommenden Jahren stärker unter der Abwicklung der Globalisierung leiden dürfte als die französische, auch für den einen oder anderen schadenfrohen Kommentar – die wachsende Kluft zwischen Löhnen, Bruttoinlandsprodukt und Staatsverschuldung hat Spuren hinterlassen. Es überwiegen aber die Sorgen.
Vordergründig, weil die französische Wirtschaft von der deutschen Kaufkraft abhängt und der Staat von deutscher Bonität. Aber auch, weil viele Reportagen die Frage aufwerfen, was von der deutschen Nachkriegsidentität bleibt, wenn es Volkswagen, Thyssen-Krupp und Bayer an die Existenz geht. „Volkswagen ist ein Identitätsersatz für die Deutschen“ wird ein Soziologe zitiert und aus vielen Reportagen spricht unausgesprochen die Frage, wer oder was die Lücke füllen würde, wenn das deutsche Wirtschaftswunder endet. Dass Björn Höcke in Auftritten völkische Töne anstimmt und volkstümliche Legenden wie den Kyffhäuser-Mythos zitiert, wird gerade in Frankreich sehr genau zur Kenntnis genommen.
Deutschland nach der Wahl
Der französische Blick auf den deutschen Wahlkampf ist von Klischees und den eigenen Erwartungen verzerrt. Deutschlands Politik und Wirtschaft scheinen unvorbereitet auf die raue Welt der Geopolitik, die zwar nie weg war, in Deutschland aber drei Jahrzehnte sehr erfolgreich ausgeblendet wurde. Manchmal ist förmlich spürbar, wie sehr die Beobachter aus unserem Nachbarland sich zusammenreißen müssen, um das deutsche Aufwachen in dieser scheinbar neuen Welt nicht mit „geschieht ihnen recht“ zu kommentieren oder mit „haben wir es doch gesagt“.
Doch den Franzosen dämmert, dass es keine gute Nachricht ist, wenn das optimistische „Wir schaffen das“ Angela Merkels sich in ein „Das werden wir nicht schaffen“ Friedrich Merz‘ verkehrt. Zu verschränkt sind die Staaten der EU heute, als dass die Schadenfreude über das lange so erfolgreiche Nachbarland mehr sein könnte als unreflektierte Emotion.
Für deutsche Leser ist der französische Blick auf Deutschland recht ernüchternd. Er zeigt, dass wir im Ausland vielerorts nur noch von der Reputationssubstanz aus besseren Zeiten zehren. Und dass es den Deutschen gut zu Gesicht stünde, wieder Deutscher zu werden; im französischen Sinne: Verlässlicher, disziplinierter und ja, auch pünktlicher.